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Mittwoch, 2. August 2017

Mary McCarthy: The Group

Vor drei Jahren ist ein sehr geschätzter Übersetzerkollege und Freund gestorben, Tom Morrison, ein kluger, feiner, zurückhaltender Mann, der zu all unseren Translation Labs, Lesungen und Salons kam, wohl dosiert Treffendes anmerkte, und das alles mit einem schottischen Akzent, der immer charmanter wurde, je mehr man ihn kennenlernte. Damals haben wir eine große Erinnerungsfeier für ihn organisiert und aus seinen Übersetzungen vorgelesen und ich aus einer E-Mail, in der er mir die schottischen Neujahrsbräuche seiner Kindheit erklärte. Tom fehlt, auch wenn unsere Arbeit, unsere Treffen, unsere Lesungen weitergehen. Aber ich habe etwas, das mich immer wieder an ihn erinnert: eine kleine Auswahl von Toms Büchern, die ich aus seiner Bibliothek geerbt habe.
Eines dieser Bücher ist The Group von Mary McCarthy, das vorletztes Jahr in der deutschen Fassung Die Clique bei Ebersbach & Simon neu aufgelegt wurde. Wer hier schon mehr gelesen hat, weiß, dass ich Fan von Lillian Hellman bin, der umstrittenen amerikanischen Dramatikerin und Essayistin, Lebensgefährtin von Hardboiled-Pionier Dashiell Hammett und vielleicht eine der meist gehassten Literatinnen der Welt, der regelmäßig unterstellt wird, dass eigentlich Hammett ihre Texte geschrieben habe, als er selbst nichts mehr fertigschreiben konnte (sogar Margaret Atwood haut in diese Kerbe).
Mary McCarthy war Lillian Hellmans Erzfeindin, die über sie schrieb: “Every word she writes is a lie, including ‘and’ and ‘the’“, was schon mal auf eine scharfe und witzige Zunge und Geist schließen lässt. Hellman hatte darauf mit „lady writer“ und Gerichtsprozessen pariert, bis zu ihrem Tod. „Lady writer“ war natürlich abwertend gemeint, und doch ist es von dort nicht weit zu „Our First Lady of Letters“, wie Norman Mailer Mary McCarthy nannte, und es ist bezeichnend vor allem auch für den Stoff ihres Schreibens. The Group ist nämlich ein großer Frauen-Roman, wenn auch kein Frauenroman.
The Group, das sind acht Absolventinnen des renommierten Vassar College aus dem Jahr 1933, die lose befreundet sind und sehr unterschiedliche Wege einschlagen. Und dann entfalten sich ihre sehr unterschiedlichen Charaktere mit ihren sehr unterschiedlichen Lebenswegen, die sich immer wieder kreuzen. Die Besonderheit: Sie sind alle Frauen, aus der Oberschicht, mit ihren ganz besonderen Frauensichten und Frauenproblemen. Was das für welche sein könnten? Sex, Verhütung, die Dynamik sexueller Beziehungen zwischen Mann und Frau (meine Entdeckung des letztes Jahres, Mary Gaitskill, hat darüber immer wieder geschrieben), Untreue, Politik und die Erotik politischer Überzeugungen, Mutterschaft, Stillen (vor allem, wenn man mit einem Kinderarzt verheiratet ist, der an einem ein Exempel statuieren will), als Frau in der Buchbranche Karriere machen wollen („Publishing’s a man’s business“, lautet die Antwort), Vergewaltigung, eine lesbische Beziehung, Ledigbleiben, eine akademische Karriere, Impotenz usw. Das sind Themen, die 1963, als das Buch erschien, womöglich stärker an die Oberfläche drangen, doch schon lange, vielleicht schon immer so existierten, und die auch heute noch, über fünfzig Jahre später, kaum Eingang in die große Literatur finden. Ein Grund, warum das Buch für mich eine Sensation ist.
Ein weiterer: Das hier ist große Literatur. Mary McCarthy schreibt präzise und bildhaft wie Francis Scott Fitzgerald (und nicht wie Zelda, die auch toll schreibt) und zieht den Leser schnell in einen fesselnden Sog aus Ereignissen, Wahrnehmungen, Schicksalen. Es ist kein warmes Buch, bei dem einem die Figuren ans Herz wachsen; es bleibt scharf beobachtend auf Distanz. „Scathing“ (Vernichtend) nannte es Tony aus dem Translation Lab. Und so habe ich hier bewusst „der Leser“ geschrieben, weil es ein Buch über Frauen ist, das Männer, vor allem solche, die sich für Frauen interessieren und sie lieben, lesen sollten, weil es nämlich das Leben von Frauen ernst nimmt, jenseits von „Traumprinzen“ und Schönheit und Babys.
Mary McCarthy selbst sagte über ihr Buch: „I am putting real plums into an imaginary cake“ (Ich tue echte Pflaumen in einen imaginären Kuchen) und „I'm afraid I'm not sufficiently inhibited about the things that other women are inhibited about for me. They feel that you've given away trade secrets.“ (Ich fürchte, ich bin nicht zurückhaltend genug, wo andere Frauen für mich mit zurückhaltend sind. Sie finden, ich habe Geschäftsgeheimnisse preisgegeben.)
Zur deutschen Ausgabe: Ebersbach & Simon hat Die Clique 2015 neu aufgelegt, in schöner Aufmachung und mit einem informativen Vorwort von Candace Bushnell, der Autorin von Sex and the City. Dicker Wermutstropfen: die deutsche Fassung ist die staubige Übersetzung von Ursula von Zedlitz von 1964. Trotzdem, so scheint es, strahlt das Buch dank seiner innewohnenden Kraft auch auf Deutsch, und das bleibt ihm zu wünschen.

Samstag, 15. April 2017

Zwei New-Orleans-Krimis von Joy Castro

Ich habe zwei Krimis von Joy Castro gelesen: Tödlicher Sumpf (Hell or High Water) in der sehr lesbaren Übersetzung von Susanne Wallbaum (dtv 2013) und Nearer Home (St. Martin's Press 2013), den zweiten in der Serie, im Original. Beide spielen in New Orleans und sind spannend, wenn auch eigentlich keine richtigen Krimis. Die Ermittelnde ist hier eine junge Reporterin, Nola Céspedes, die New Orleans aus einer interessanten, Latina-geprägten Perspektive zeigt, eine kulturelle Facette der Stadt, die eigentlich erst nach Katrina so recht an Bedeutung gewonnen hat. Die Autorin weiß, wovon sie redet, und die Stadt und die beschriebenen Schauplätze sind wiederzuerkennen, und nicht nur deshalb habe ich es gern gelesen.
Nola ist eine ungewöhnliche (auf Englisch würde man wohl sagen: unlikely) Heldin. Sie stammt aus einfachen Verhältnissen mit alleinstehender, kubanischer Mutter, lebt in einer WG, ist links, engagiert sich als ehrenamtliche Big Sister für ein Mädchen aus ein mexikanischen Einwandererfamilie, hat eine illustre Freundinnenrunde wie aus Sex and the City und ist eine begabte Journalistin. Dann hat sie noch ein äußerst riskantes, eher sportliches Sexleben, das sich später aus einer Missbrauchgeschichte erklärt. Genau bei einem solchen Abenteuer lernt sie einen Traumprinzen in Form eines fußballspielenden spanischen Umweltwissenschaftler-Gentlemans und Sexhengstes kennen. Und irgendwie sind alle wichtigen kulturellen Eckpunkte abgehakt: Nola hat an der Tulane-University studiert, sie arbeitet bei der New Orleans Times-Picayune, sie fährt nach Grand Isle, wo sie an Kate Chopins Buch Das Erwachen denkt und sich vor Haien fürchtet, die sich dann als Delfine herausstellen; ihr schwuler isrealischer Mitbewohner arbeitet im edlen Columns Hotel auf der St. Charles Avenue.
Dann wäre da noch die eigentliche Krimihandlung, und die überzeugt nur bedingt. In Tödlicher Sumpf recherchiert Nola zur Rehabilitation von Sextätern, durchweg unheimliche und unheilbare, nicht geheilt werden wollende, hoffnungslose Fälle, klärt dabei das Verschwinden einer jungen Frau auf und rettet eine zweite. In Nearer Home entdeckt sie beim Joggen im Park die Leiche ihrer früheren Journalistikprofessorin und fängt an zu ermitteln, wobei sie deren Recherchen zu Korruptionsfällen und den Verzweigungen in der politischen Ebene vertieft. Beides wichtige Themen mit einer politischen Dimension, aber kein stringenter Whodunit.
Der zweite Band ist noch nicht auf Deutsch erschienen, aber auch er liest sich schnell weg. Das umgebende Personal ist weiterhin charmant, aber die Beziehung bröckelt etwas. Doch Nola entwickelt sich persönlich weiter, hadert mit ihrer Beziehung, bleibt aber dran, lernt ihre Mutter und ihre Freundinnen besser kennen usw. Beide Hauptfiguren, die junge Nola Céspedes und New Orleans, sind wirklich gut getroffen. Und vermutlich haben es alle gleich gemerkt, Nolas Vorname ist zugleich ein Kurzwort für New Orleans, Louisiana (LA. ist das Kürzel für Louisiana in der Postanschrift).
Lesbar!

Anhang: Natürlich habe ich mir auch die sehr gelungene Übersetzung angesehen und an einigen Stellen noch etwas weiterrecherchiert.
Virginia-Eichen:  Das ist die deutsche Übersetzung für live oaks, die man im Internet findet, aber ich verwende sie aus mehreren Gründen nicht. Vor allem erinnert „Virginia“ an den Bundesstaat, was ich  irreführend finde, weil der etwa 1600 Kilometer entfernt und deutlich weiter nördlich liegt und diese Eichen dort nicht so häufig, so alt und so für die Landschaft prägend sind wie in Louisiana. Außerdem mag ich die „existentielle“ Komponente des Namens und nenne sie deshalb Lebenseichen. kreolisches Drei-Zimmer-Cottage: Ein Creole Cottage ist ein für Louisiana typischer Haustyp, meist klein, eingeschossig mit Dachboden und symmetrischen Eingängen.
Den Mississippi höre ich nicht:  Darüber habe ich mich gewundert, aber bestimmt steht es so im Original. New Orleans ist eine richtige Stadt, da hört man den Fluss nicht, höchstens an manchen Stellen den Hafen oder  das Hupen der Frachtschiffe.
Esplanade-Grat:  Es geht um den Stadtteil Esplanade Ridge und eine kleine höhere Stelle zwischen den tiefer gelegenen, insgesamt etwa 1,20 – 1,50 Meter höher als das umliegende Gelände. „Grat“ ist vielleicht nicht ganz passend, weil es auch  darum ging, dass N.O. unter dem Meeresspiegel liegt.
Gekochter Crawfish:  Bei einem Crawfish Boil werden auf jeden Fall Krebse gekocht, aber es geht auch um das Drum- und Dran. Es ist eine riesige Sause, meistens im Freien mit vielen Leuten, riesige Pötte mit Crawfish, Kartoffeln und Gemüse, die in Wasser gekocht und dann auf Zeitungspapier auf dem Tisch (meistens langen Biertischen) ausgeschüttet werden. Um den Tisch sitze alle herum,  pulen für sich die Krebse,  fischen das Gemüse heraus und essen mit den Händen.
Momentan läuft der Lokalsender NPR:  National Public Radio ist kein Lokalsender bzw. gar kein eigentlicher Sender. Es ist ein unabhängiges nationales Radio-Verteiler-und Produktions-Netzwerk mit bestimmten Nachrichten- und vielen anderen Sendungen usw., die über lokale Sender ausgestrahlt werden. In New Orleans heißt dieser Sender WWNO und sendet morgens und nachmittags/abends Sendungen von NPR und ansonsten klassische Musik. (Ich habe bei WWNO mal bei einer Spendenkampagne ausgeholfen.) NPR hat nur einen eigenen Sender – hier in Berlin, noch bis Sommer 2017.

Sonntag, 20. Dezember 2015

Der Axtmann von New Orleans

Das mit dem Axtmörder ist so ein amerikanisches Klischee, mit dem u.a. unbegründete Ängste karikiert werden können. Dabei sind Axtmörder im Land der Schusswaffen im Verhältnis relativ selten. Aber New Orleans hatte tatsächlich einen, der vor etwa 100 Jahren sein Unwesen trieb. Bis heute ist nicht mit völliger Sicherheit aufgeklärt, wer es war. Gefasst wurde er nämlich nicht, sondern er hörte irgendwann einfach auf zu morden, wahrscheinlich weil er selbst ums Leben kam.
Es begann in den Jahren 1911-1912, dann gab es eine längere Pause, womöglich wegen eines Aufenthalts im Staatsgefängnis in Angola oder in einer Irrenanstalt, und dann schlug er in den Jahren 1918-1919 in Serie zu und verdiente sich den Namen Axeman of New Orleans. Betroffen waren hauptsächlich italienischstämmige Lebensmittelhändler, die äußerst brutal niedergemetzelt wurden, vor allem auch deren Frauen; gestohlen wurde nichts. Interessanterweise gibt es einen Brief des Axtmanns vom 13. März 1919, der in der New Orleans Times Picayune veröffentlicht wurde. Der Brief ist ein Meisterwerk an Sprachgewandtheit und Zynismus, in dem er ankündigt, dass er die Stadt in wenigen Tagen wieder heimsuchen würde und nur Häuser, in denen in jener Nacht Jazz gespielt würde, vor ihm in Sicherheit wären.
Genau das ist der Aufhänger des Erstlings des Briten Ray Celestin, in dem der Brief gleich zwei Mal abgedruckt ist. Der Thriller trägt den Titel The Axeman’s Jazz und erschien 2014.
Celestin spinnt eine spannende, ausgeklügelte und äußerst blutrünstige Geschichte, in der er fast nichts Interessantes und Ungewöhnliches an New Orleans auslässt: die Mafia, arme irische Einwanderer, Cajuns, kreolische Plantagenbesitzer, Voodoo, Polizeikorruption, Jazzbeerdigungen, einen Kommissar, der erpressbar ist, weil er mit einer schwarzen Frau verheiratet ist und Familie hat, ein Zitat von Lafcadio Hearn, a lil’ love und – Louis Armstrong. 
In der Sache wird von drei Seiten her ermittelt, wovon natürlich nur die eine Untersuchung durch die Polizei legitimiert ist, doch am Ende deckt jede der drei Parteien ihr Drittel auf, so dass für die Leserin das ganze, sehr komplexe Knäuel an Verwicklungen entwirrt wird, während den jeweils anderen beiden Parteien der Rest verborgen bleibt.
Die erste Ermittlerin ist eigentlich ein Team, bestehend aus Ida Davis, einer sehr jungen, sehr begabten und sehr hellhäutigen Kreolin, die in einer Detektivagentur arbeitet und sich dort langweilt, und ihrem Kindheitsfreund, der früher bei ihrem Vater Trompetenunterricht hatte und ihr jetzt bei den Ermittlungen hilft. Anders als sie ist er schwarz, Jazzmusiker und heißt Lewis (und eben nicht Louis, aber ansonsten stimmen alle biografischen Details überein).
Der zweite Ermittler ist Kommissar Michael Talbot, der in der eigenen Polizeiwache geschnitten wird und sich von Korruption umgeben sieht. Kurzzeitig gesellt sich ihm ein sehr junger, sehr fähiger, frisch eingewanderter Ire als Assistent an die Seite, Kerry, der ein eigenes, hoffnungsvolles Geheimnis hat, aber nach dem Prinzip vieler Hollywoodfilme unverschuldet sterben muss.
Der dritte Ermittler ist Luca D’Andrea, italienischstämmiger Expolizist und Michaels früherer Mentor, der von diesem aber wegen seiner Verbandelungen mit der Mafia überführt und jetzt gerade nach mehreren Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde. Er ermittelt im Auftrag der Mafia.
Alle drei Ermittler decken wichtige Intrigen und Zusammenhänge auf und geraten dabei selbst in Lebensgefahr. Den eigentlichen Axtmörder stellt Luca und unterliegt ihm letztendlich im Zweikampf. Vorher wird ihm aber noch klar, dass es mit seiner erhofften Rückkehr nach Italien wohl nichts werden wird, und er erlebt noch so etwas wie Liebe, einen ruhigen Rückzugsort bei einer Frau, bei der nicht viele Worte nötig sind.
Das Buch ist spannend und beeindruckend konstruiert. Aber es ist doch so brutal, dass ich es nicht vor dem Einschlafen lesen konnte, ohne wild zu träumen. Woher so viele Autoren und Filmleute ihre Lust an der möglichst grausamen Vernichtung von Menschen haben (wie bereits gesagt noch über die eigentlichen, historisch belegten Axtmorde hinaus)? Der laut Internet tatsächlich verdächtigte Joseph Momfre wird übrigens nicht erwähnt.
Vorn im Buch befindet sich eine Karte vom New Orleans der damaligen Zeit, in der die verschiedenen Orte verzeichnet sind. Immer wieder gibt es Jazz, man fährt Straßenbahn, ins French Quarter, nach Gretna, zum Bayou St. John, das damals noch außerhalb der Stadt lag, es fallen viele, viele Straßennamen - und doch bleibt New Orleans irgendwie blass.
Blass bleibt auch die Sprache, aber spannend ist es trotzdem. Ganz nebenbei erfährt man viel über die Geschichte der Stadt zum Ende des Ersten Weltkriegs und am Beginn der Prohibition, über den Aufstieg des Jazz und vor allem auch über verschiedene Einwanderergruppen. Manches wirkt ein bisschen sehr ausgedacht, ein unmenschlicher Cajun als Menschenhändler und Zuhälter in New Orleans? Hmm. Und dann ist da noch der ewige, zermürbende Regen, der das ganze Buch durchzieht und der mir so untypisch vorkam, bis eine Figur eine Bemerkung darüber macht und eine Flut voraussagt. In der Literatur gilt übrigens das Jahr 1919, in dem die Französische Oper in New Orleans abbrannte, als Ende der kreolischen Kultur in New Orleans.
Der Axtmann wurde übrigens gleich nach 1919 zum Thema in Musikstücken und Karikaturen, später auch Comics und anderen Büchern, zuerst 1991 von Autorin Julie Smith, auch unter dem Titel The Axeman's Jazz.
Ray Celestins The Axeman’s Jazz ist schon ins Französische (unter dem Titel Carnaval), ins Spanische und ins Türkische übersetzt worden; von einer anstehenden deutschen Veröffentlichung ist mir bislang nichts bekannt. Kann man lesen, vielleicht sogar während der besinnlichen Weihnachtszeit...

Freitag, 10. Juli 2015

Nicholas Christopher: Tiger Rag

New Orleans/Louisiana ist als Sujet und Schauplatz ein Dauerbrenner. Hier meine Rezension von Tiger Rag von Nicholas Christopher, Übersetzt von Pociao,  DTV 2014.
In dieser Kritik auf Spiegel Online hieß es mehr oder weniger: Ist eben ein Unterhaltungsroman. Außerdem schreibe der Autor sehr leidenschaftlich und verliere so manchmal den Faden. Und er versuche, Musik in Literatur zu übertragen. „Und so ist Tiger Rag als Roman nur zu empfehlen für Menschen, die viel Ahnung von Musik haben - und nicht allzu viel Ahnung von Literatur.“ 

Genau das ist für mich der Widerspruch: Für einen Unterhaltungsroman muss man zu viel mitdenken, und andererseits ist er einfach, na ja, nicht unterhaltend genug. Es gibt nämlich Zeitsprünge, Vor- und Rückblenden, unterschiedliche Schriftarten, zwei parallel laufende Handlungsstränge, die am Schluss etwas gezwungen zusammengeführt werden. Es gibt unglaublich viele Namen und Personen, die schwer auseinanderzuhalten sind. Aber es wird viel Geschichte erzählt und mit der Handlung verwoben, so dass ich mich fast die ganze Zeit gefragt habe, was wohl wahr ist und was fiktiv.
Aber vielleicht mal konkret: Es fängt an in New Orleans, mit Charles Bolden (genannt Buddy oder King Bolden), offenbar unter Jazzmusikern eine wahre Legende, auch weil nichts Konkretes überliefert ist, außer sein Einfluss auf die Musiker, die mit ihm gearbeitet haben oder ihm nachgefolgt sind. Bolden spielte Kornett, war gutaussehend, hatte Stil, liebte viele Frauen – und endete relativ jung in einer Nervenheilanstalt, in der er die restlichen Jahrzehnte seines Lebens verbrachte.
Das Buch öffnet mit einer Aufnahmesession in einem Hotel (das es übrigens nicht gibt). Die Buddy Bolden-Band spielt drei Mal, und alle drei Male werden auf sogenannten Edison-Walzen aufgezeichnet. Alle drei gehen verloren, müssen verloren gehen, denn im Internet steht, dass es keine Aufzeichnungen gibt. D.h. eine bleibt doch übrig, und wo es zuerst um den Verlust der beiden ersten geht, ist der Rest des Buches dem Weg der letzten Walze gewidmet, die immer wieder in vertrauensvolle Hände weitergegeben, aber dann gestohlen wird.
Die zweite Handlung ist die um Ruby Cardillo, eine Anästhesistin Ende vierzig, deren Mann sich gerade scheiden lassen und eine Krankenschwester im Alter seiner Tochter geheiratet hat. Rubys Gegenreaktion: Sie schlägt völlig über die Stränge, schläft und isst nicht, trinkt, ist hyperaktiv und bereitet eine Rede für einen Kongress vor, wo sie den einzigen Vortrag hält. Erzählt wird auch von Rubys unsteter Kindheit, mit einer Mutter, die sich eher um den jeweiligen Mann in ihrem Leben und wenig um ihr Kind gekümmert hat. Dann kommt auch Rubys Tochter Devon ins Spiel, Mitte zwanzig ein gestrauchelte Jazzpianistin, die getrunken, Drogen genommen, gestohlen hat und dafür im Gefängnis war.
Rubys Vater war ein Taugenichts-Möchtegernmusiker namens Valentine Owen, der das Bindeglied zwischen den beiden Handlungssträngen bildet. Außerdem hat Ruby als Jugendliche
in New Orleans bei einer entfernten Tante, Marielle, gelebt, die eines Tages spurlos verschwindet und am Ende als Joan Neptune wieder auftaucht. Sie ist das zweite Bindeglied. Devon, die Tochter, begleitet ihre Mutter auf einer mehrtägigen Autofahrt nach New York, wo beide auch ein paar Tage bleiben. Sie suchen dort einen Musik- und Instrumentensammler auf, der ihnen von der Walze erzählt und die Tochter auf die Suche schicken will. Es gibt noch einige Verwicklungen, aber dann taucht die Walze auf, und Devon wird sie veröffentlichen, über Buddy Bolden schreiben und damit irgendwie wieder ins Leben zurückfinden. Es ist ein Happy End, ganz ohne Liebesgeschichte, eins, bei dem die Frauen einer Familie zueinander und in ihrem Zusammensein Kraft und Heilung finden. 
Leider bleiben die Figuren blutleer, schematisch, durchgehend gut oder schlecht, ohne dass wir ihre Motive nachvollziehen können. Ruby ist ein Klischee einer Geschiedenen, die ihr Leben wieder für sich zurückgewinnen will. Auch Devon, aus deren Sicht einige Teile geschrieben sind, bleibt blass. Aber am schlimmsten fällt Rubys Vater aus, eben jener Valentine Owen, der einfach nur durch und durch mies und mickrig und niedrig ist. Das ist unglaubwürdig, denn, wie ich aus Erfahrung weiß, halten sich auch die schlimmsten Schurken tief innen drin für gut oder wenigstens stark. 
Gelernt habe ich auch so einiges, zum Beispiel über den Unterschied zwischen einem Kornett und einer Trompete (Mundstück, Schalltrichter, Ton, Kornett ist schwerer zu spielen; interessanterweise wurde ja früher mehr Kornett gespielt), wie wichtig das Vorhandensein von Zähnen für das Spielen eines Blasinstruments ist und dass man (wie Leonard Bechet, der Bruder von Sidney) zwar ein guter Zugposaunist sein, aber eben mit den Ventilen nicht klar kommen kann.
New York im dicken Schnee wird sehr plastisch (es ist kurz vor Weihnachten), aber New Orleans besteht nur aus Straßennamen und Orten und wird einfach nicht lebendig. Und die Übersetzung? Übersetzt hat es die legendäre Pociao, die viel und offenbar gut übersetzt, denn welche Übersetzerin hat schon einen Künstlernamen? Hier scheint das Original nicht so sehr viel zu bieten: Ortsnamen und Anspielungen sind brav durchexerziert; nur einmal bin ich aufgeschreckt, nämlich bei dem Wort Eintopf. 

Damit ist vermutlich ein Gumbo gemeint und sollte im Fall von New Orleans unbedingt dort stehen. Als Ruby bei Marielle lebt, wird sie mit Shrimps in zehn verschiedenen Zubereitungen verwöhnt, mit „Okragemüse, Löwenzahnsuppe und Gumbo mit Krebsfleisch“ (S. 110).  Später wird die Reaktion von Kollegen und Kritikern auf Buddy Boldens Musik beschrieben. Dort heißt es: „Archimedes Robinson, ein junger Journalist mit schwülstigem Stil, bezeichnete es [Buddy Boldens Art zu Musizieren] im Parade Magazine als 'Delta-Mischung', einen musikalischen Eintopf, den Bolden als erster aufgetischt habe.“ (S. 173)
In meiner kürzlich in Bücher 4/2015 erschienen
Botschaft aus Babel zum Thema New Orleans Übersetzen (S. 62) habe ich dazu geschrieben:
„Zur legendären Esskultur von New Orleans gehört Gumbo – eine mit dunkler Mehlschwitze angedickte, scharfe Suppe mit Okraschoten, Fleisch und vielen anderen Zutaten. Wie Okra ist auch der Name Gumbo afrikanischen Ursprungs, und es ist so viel mehr als nur ein Gericht: Es steht für den besonderen Schmelztiegel New Orleans, mit seinen afrikanischen, karibischen, französischen und vielen anderen Einflüssen. Eintopf mag die knappste Beschreibung dafür sein, aber das Hybride, das für New Orleans so typisch ist, die ganze Feinheit und Würze in einen so urdeutschen Begriff zu zwängen, das funktioniert irgendwie nicht.“ (Wird vermutlich in Bälde ins Internet gestellt, andere Kolumnen siehe hier.) Der „musikalischene Eintopf“ mag bei uns eingebürgert sein, aber in New Orleans sollte man in jedem Fall einen „Gumbo“ servieren.

Was das Leben von Buddy Bolden und den Jazz angeht, ist das Buch äußerst informativ. Zum gleichen Thema gibt es übrigens noch einen früheren, ebenfalls sehr kompliziert aufgebauten Roman von Michael Ondaatje, Buddy Boldens Blues, übersetzt von Adelheid Dormagen, Hanser Verlag 1995.

Sonntag, 4. Januar 2015

Paul Morphy

Wenn ich Leuten erzähle, dass ich in Louisiana gelebt habe, dann fragt manchmal jemand, ob ich Paul Morphy kenne. Das klingt wie ein Geheimtipp, und es schwingt eine tiefe Verehrung mit. Die das fragen, sind die leidenschaftlichen Schachspieler.
Paul Morphy war nämlich so etwas wie der Mozart des Schachs, ein Genie, das alle anderen mit Leichtigkeit und in Windeseile an die Wand spielte, ewigen Ruhm einheimste und viel zu früh aufhörte und starb. Man nannte ihn „The Pride and Sorrow of Chess“ (Stolz und Kummer des Schachs). Er war aus New Orleans, dieser Stadt der Alten in der Neuen Welt oder wo sich die Alte mit der Neuen Welt mischt, und vermutlich hat das etwas damit zu tun.
Morphys Urgroßvater, der Ire Michael Murphy, änderte seinen Namen zu Morphy, als er nach Spanien zog. Sein Vater Alonzo Morphy, aus Charleston, South Carolina, war Anwalt und Richter am Obersten Gerichtshof von Louisiana und verheiratet mit Louise Le Carpentier, der Tochter einer französisch-kreolischen Familie aus New Orleans. Obwohl New Orleans fest in amerikanischer Hand war, als Paul Charles Morphy am 22. Juni 1837 geboren wurde, würde es mich nicht wundern, wenn man in dieser ehrwürdigen, kreolischen Familie auch Französisch gesprochen hätte. Der Louisiana Purchase, als die Amerikaner von den Franzosen das riesige, als Louisiana bezeichnete Territorium kauften, das sich bis nach Montana zog und den westlichen Teil des Mittelwestens einschloss, hatte schon 1803 stattgefunden. Ich glaube, ein Satz aus dem Wikipedia-Eintrag dazu beschreibt das, was folgte, sehr treffend: „Governing the Louisiana Territory was more difficult than acquiring it.“ (Das Territorium Louisiana zu regieren war schwieriger, als es zu erwerben.)
Anders als bei Mozart und der Musik scheint dem kleinen Paul niemand Schach beigebracht zu haben. Er war eben immer dabei, wenn sein Vater und  Onkel Ernest spielten, und sein älterer Bruder und seine Schwester Helena spielten auch. Schon mit 9 galt er als einer der besten Spieler in New Orleans, und 1850, mit 12, besiegte er den ungarischstämmigen Schachmeister Johann Löwenthal, der auf Gastspielreise in der Stadt war. 
Danach widmete sich Morphy in Mobile, Alabama, und an der Universität in New Orleans (jetzt Tulane) vor allem seinem Studium, das er 1857 mit einem Juradiplom abschloss. Da er aber noch minderjährig war, durfte er nicht praktizieren, und so ließ er sich erst einmal nach New York zu einem Amerikanischen Schachkongress einladen, wo er als Schachmeister der USA gefeiert wurde. Dann reiste er nach Europa, zunächst, um gegen den europäischen Meister, den Engländer Howard Staunton, zu spielen. Dazu kam es nicht, und es ist nicht klar, warum. Hatte Staunton Angst sich zu blamieren oder war er wirklich mit seinen Arbeiten zu Shakespeare beschäftigt oder hatte Morphy nicht die Startgebühr für das Spiel bezahlt?
Es war zwar für Morphy ein Dämpfer, aber dafür spielte er gegen alle anderen, darunter Daniel Harrwitz und Adolf Anderssen, und gewann, trotz zwischenzeitlicher Darmgrippe, fast durchgehend. In seinem Buch Paul Morphy - Sein Leben und Schaffen schreibt sein deutscher Biograf Max Lange im Jahr 1894: „Hervorgegangen aus einer spanischen und mütterlicherseits aus einer französischen Familie, aber geworden und entwickelt auf amerikanischem Boden, hat PAUL MORPHY die spanische Anmut und die französische Lebendigkeit in seiner Person mit dem kühlen und praktischen Sinn des amerikanischen Charakters wohl vereinigt. Eine ebenso kräftige wie rasche und feine Spielführung zeichnete alle seine Partien aus, und die Augenzeugen seines Spielens waren ohne Ausnahme des Lobes voll von seiner eleganten persönlichen Haltung wie graziösen Steinführung, von seiner steten Selbstbeherrschung in schwierigsten Lagen und von seiner unerschütterlichen Ruhe bei ihn überraschenden Wendungen.“ Das Buch ist übrigens 2009 neu verlegt worden und enthält viele Notationen der Spiele von Paul Morphy, die für Kenner vermutlich eine Offenbarung sind. Hier, mit Leseproben.
Nachdem er praktisch alle besiegt hatte, die es zu besiegen gab, zog er sich vom Schach zurück. Wieder in New Orleans versuchte Morphy, seine Anwaltspraxis in Gang zu bringen, aber erst kam der Amerikanische Bürgerkrieg dazwischen, und dann wollten seine Klienten mit ihm eigentlich immer nur über Schach reden. Zum Glück war er finanziell abgesichert und konnte in den Tag hinein leben.
Am 10. Juli 1884 starb Paul Morphy in der Badewanne, als er nach einem Spaziergang in der Mittagssonne bei einem eiskalten Bad einen Schlaganfall erlitt. Dem Mythos zufolge soll er schon nicht mehr zurechnungsfähig gewesen sein, aber vielleicht war er auch nur exzentrisch.
Einem Gerücht zufolge soll Morphy vor dem Schlafengehen einen Kreis aus Frauenschuhen um sein Bett gebildet haben (über seine private Seite ist sonst nichts weiter bekannt), aber in einem Text seiner Nichte heißt es, dass er seine eigenen vielen Schuhe in seinem Zimmer in einem Halbkreis angeordnet hätte.
Über sein Spiel wird viel spekuliert. Würde er heute mithalten können? Er hatte relativ wenig Übung, aber vermutlich war es auch gerade seine jugendliche Unbekümmertheit, mit der er seine Gegner verunsicherte und dann besiegte. Eine Kennerin schreibt: „Unlike masters of today, who after the centuries of analysis devoted to chess, look for 'truth' in each game, Morphy, as well as many of his contemporaries, looked for beauty, sometimes foregoing the simplest approach for a more pleasing one, and considered the combination the pinnacle of such beauty.“ (Anders als die heutigen Meister, die nach jahrhundertelangen Analysen der Schachspiele in jedem Spiel nach der „Wahrheit“ suchen, suchte Morphy wie viele seiner Zeitgenossen nach Schönheit, und entschied sich manchmal gegen den einfachsten Zug zugunsten eines gefälligeren, und die Kombination betrachtete er als das Allerschönste überhaupt.) Morphy spielte auch gern Blindschach und Vorgabepartien, bei denen dem schwächeren Gegner ein Vorteil eingeräumt wird, entweder mit Figuren oder Zügen, und wie es scheint, lief er dann zu seiner eigentlichen Form auf.
Morphy spielte Schach, wie es heute nicht mehr gespielt wird. Und doch schreibt der Schachweltmeister Bobby Fischer: "A popularly held theory about Paul Morphy is that if he returned to the chess world today and played our best contemporary players, he would come out the loser. Nothing is further from the truth. In a set match, Morphy would beat anybody alive today ..."
Die Morphys lebten übrigens in mehreren Häusern in New Orleans, die auch heute noch existieren. Eins davon war in der 417 Royal Street, wo sich heute das berühmte Restaurant Brennan’s befindet, ein weiteres an der Ecke der Esplanade und Chartres Street, das 1834 für Henry Raphael Denis gebaut wurde. Nach den Morphys lebte dort ein japanischer Chemiker Jokichi Takamine, der sich nach 1884 in New Orleans mit einem seiner Nachbarn anfreundete, dem Journalisten Lafcadio Hearn, der später in Japan ganz groß rauskam. Gleich um die Ecke, Esplanade und Royal Street, wuchs übrigens der nur 8 Jahre ältere kreolische Komponist Louis Moreau Gottschalk auf.
Morphys Grabmal befindet sich auf dem St. Louis Cemetery Nr. 1.  Weil es so schön die Welten illustriert, die da aufeinandertrafen, habe ich noch ein Foto der Partie zwischen Morphy und Löwenthal aus der Public Domain heruntergeladen.

Die Geschichte von Paul Morphy ist übrigens in dem Roman The Chess Players (1960) von Frances Parkinson Keyes auch literarisch verarbeitet worden. Keyes lebte in New Orleans im French Quarter, 1113 Chartres Street, das heute unter dem Namen Beauregard-Keyes House ein Museum ist und für Paul Morphys Großvater mütterlicherseits gebaut wurde. Aber alles was man wirklich über Morphy wissen muss, findet man in diesem, ja leidenschaftlichen Blog-Eintrag: hier.

Samstag, 22. Februar 2014

Vom Schreiben und Zugfahren


Dieser Tage habe ich Das Wagnis, die Welt in Worte zu fassen zu Ende gelesen, das Skript einer dreiteiligen Vortragsserie der Schriftstellerin Eudora Welty an der Harvard University. Der englische Titel One Writer’s Beginnings drückt besser aus, worum es geht: um ihre kurzweilige Kindheitsgeschichte, die Herkunft der Eltern und ihre Reifung zur Schriftstellerin. Eudora Welty (1909-2001) ist vor allem für ihre Kurzgeschichten und den Pulitzer Prize-prämierten Kurzroman The Optimist’s Daughter bekannt, war allerdings auch eine begabte Photographin (das Ogden Museum of Southern Art in New Orleans hatte letztes Jahr eine Ausstellung mit Podiumsdiskussion dazu). 
Den größten Teil ihres Lebens verbrachte sie in ihrem Elternhaus in Jackson, Mississippi, der Hauptstadt des Bundesstaats, die ich als selten hässliche Stadt in Erinnerung habe. Diesen Essay über ihren schriftstellerischen Ursprung endet sie mit den Worten: „Wie sie gesehen haben, bin ich eine Schriftstellerin, die einem behüteten Leben entstammt. Auch ein behütetes Leben kann abenteuerlich sein. Denn jedes echte Wagnis geht von innen aus.“ (In der leichtfüßigen Übersetzung von Karen Nölle in der Edition Fünf von 2011.) Der letzte Satz ist zum geflügelten Wort geworden, und im Original klingt er noch etwas wagehalsiger: „All serious daring starts from within“. 
The Optimist’s Daughter spielt zum Teil in einem Krankenhaus in New Orleans, und auch die Kurzgeschichte „No place for you, my love“ von 1952, über die sie berichtet, spielt in der Stadt. Sie zitiert auch eine Passage aus The Optimist’s Daughter, in der die Hauptfigur von einer Zugfahrt von Chicago nach Mississippi träumt und schreibt über eigene Zugfahrten, die sie von Jackson nach New York unternahm, um ihre Kurzgeschichten dort vorzustellen. Von Meridian, Mississippi, fuhr ein Zug für 17,50 Dollar von New Orleans kommend nach New York, zwei Nächte und drei Tage.
Dieser Zug fährt auch heute noch täglich, the Crescent, der 30 Stunden unterwegs ist. Ich bin damit schon mal nach Tuscaloosa, Alabama, gefahren, was wegen Überschwemmungen 8 oder 10 statt 6 Stunden dauerte. Es gibt auch noch den Sunset Limited von New Orleans nach Los Angeles über Texas, New Mexico und Arizona, der dreimal die Woche verkehrt und 48 Stunden unterwegs ist. Der berühmteste aber ist der City of New Orleans nach Chicago über Memphis, Tennessee. Er fährt täglich, die Fahrt dauert 19 Stunden, und es gibt mehrere Lieder gleichen Titels, eins davon in der Interpretation von Arlo Guthrie.
Die Eisenbahn, Amtrak, ist im Autofahrerland USA nicht besonders ausgebaut, sondern verkehrt nur auf großen, wichtigen Überlandstrecken oder auch als commuter trains, Pendlerzüge, in den Ballungsgebieten an der Ost- und Westküste. Dabei ist Eisenbahnfahren in den USA ein echtes Erlebnis: diese hohen, wuchtigen, schweren Wagen, in die man über ein Treppchen steigt, das einem der Schaffner bereitstellt, die Geräumigkeit und Stille und Kühle in den Waggons, und natürlich die wilden amerikanischen Landschaften, die man am besten aus dem Panoramawaggon gemächlich vorbeiziehen sieht, nix da mit unangenehmen ICE- oder gar TGV-Geschwindigkeiten.
Gerade heute habe ich gelesen, dass Amtrak bald „writer’s residencies“ an Bord einiger Züge anbieten wird, wo Schriftsteller umsonst über Land fahren dürfen und schreiben. (Hier.) Ich finde das eine tolle Idee. Und irgendwie denke ich mir, Eudora Welty hätte das auch gut gefunden.

Sonntag, 20. Oktober 2013

Tatwort. Die Übersetziade

Hier die Einladung zu unserem Übersetzerwettbewerb:


Es ist so weit! Das Übersetzerstudio, unser monatlicher Workshop für Übersetzungen ins Deutsche, feiert mit Tatwort. Die Übersetziade sein drittes Jahr. Wir treten in die Spuren von Translation Idol. Deutschland sucht den Superübersetzer, dem Übersetzungswettbewerb der Online-Zeitschrift www.no-mans-land.org, wo vor kurzem zum fünften Mal die beste Übersetzung eines Textes gekürt wurde.
Wir meinen: Das können wir auf Deutsch doch auch! Noch dazu in der Weltheimat der Übersetzung und der Hauptstadt der deutschsprachigen Übersetzer.
Die Aufgabe:
Um teilzunehmen, sendet uns Eure Übersetzung des unten stehenden Textauszugs (aus The Cosmopolitan von Donna Stonecipher) per E-Mail als Word- oder rtf-Datei an kontakt[AT]inapfitzner.net. Schreibt uns auch Eure Kontaktdaten und ein paar Informationen über Euch selbst. Einsendeschluss ist der 24. November 2013.
Übersetzt, wie Ihr wollt – frei oder treu, spielerisch oder prägnant, laut oder leise, respektvoll oder egoistisch, im Dialekt, in Denglisch, in Versen, nach Goethen oder Jelinek. Ob Greenhorn oder alter Hase: Probiert Euch aus, ganz ohne Lektor, Verlag oder Vertreter.
Der Entscheid selbst ist am 29. November 2013 in der Privatwirtschaft, Immanuelkirchstraße 21 in Prenzlauer Berg, Beginn: 20 Uhr. Im Idealfall tragt Ihr Eure Übersetzung persönlich vor oder Ihr lasst sie uns in irgendeiner elektronisch zu hörenden Form zukommen, sonst lesen wir sie vor. Danach wird über den Publikumspreis abgestimmt, und außerdem vergibt die Autorin Donna Stonecipher den Autorenpreis. Zu gewinnen gibt es jede Menge Ruhm, Ehre, Spaß und ein paar Preise sowie die Veröffentlichung auf der No-Man's-Land-Webseite.
Der Text:
Zu übersetzen ist ein Prosagedicht aus Donna Stoneciphers preisgekröntem Gedichtband The Cosmopolitan (Coffee House Press 2008, National Poetry Award), laut Rückentext: „Ornate miniature travelogues full of adventure and philosophical intrigue.“ Alle Gedichte enthalten ein „inlay“ in Form eines Zitats (in diesem Fall von Lenin, bei Elfriede Jelinek aufgestöbert).
Donna Stonecipher ist auch Autorin von Souvenir de Constantinople (2007) und The Reservoir (2002). Sie lebt in Berlin.
Über die vorhergehenden Translation Idol-Wettbewerbe lest Ihr hier: http://www.no-mans-land.org/ sowie im Blog von Katy Derbyshire http://lovegermanbooks.blogspot.de/



Donna Stonecipher

Inlay 22 (Elfriede Jelinek, by way of Lenin)

            1.
            In Cologne we bought cologne. In Morocco we bought morocco. In Kashmir we bought cashmere. Then, our suitcases stuffed, we flew back home to New York City, where we drank manhattan after manhattan until ill-advisedly late into the evening.

            2.
            “I’m an anarchist,” said the poet. “You’re spoiled,” said his girlfriend. A line of people in masks paraded by. And then the lights dimmed, and the one true anarchist was suddenly spot-lit in the crowd: a little girl with an ice cream sandwich melting in her bag.

            3.
            The beautiful people wanted to go only to places where there were other beautiful people, in cafés and restaurants and bars, and puffed nervously on their cigarettes when the number of ugly people shown to tables seemed to be reaching critical mass.
           
4.
            You like to be told what to do. You like to be shown to your plug and to glow in it like a nightlight. You like to be clued in, strapped on, knuckled under. You like to be held down and liquored up. You like to be scooped out, bowled over, seen through.


“Trust is fine, but control is better”


            5.
            Forking over our dollars, we hatched a grand plan for the overlapping economy: Let the French take care of the perfumes; the Dutch of the tulips; and the Italians of the leather shoes. Each would be a department in the department store in the Great Mall.

            6.
            She wrote, I want to be seen through. He wrote, But you are deliberately opaque. She wrote, I want people to want to work hard to see through my (really quite superficial) opacity. He wrote nothing back. She waited, but he wrote nothing back.

7.
            You like to go from room to room drowning yourself in dahlias. You like to stand in a crowd and implode and implode till all your individuality melts. You like to be underneath, on top, afloat. But it thrills you to hear your name in a stranger’s mouth.

8.
            Was it good or bad when the foreigner was said to be “more French than the French”? She of the huge hats and humble origins was “more bourgeois than the bourgeois.” And the cosmopolitan was more cosmopolitan than the cosmos itself.

            9.
            We bought china in China. We bought tangerines in Tangier. You bought turquoise in Turkey, and I bought an afghan in Afghanistan. I bought india ink in India, and you bought an indiaman in India. But nowhere did we relinquish any little bit of ourselves.



Montag, 14. Oktober 2013

Das seltsame Leben des Benjamin Button (The Curious Case of Benjamin Button)

Ich habe den Film zu Recherchezwecken gesehen: Es geht um Benjamin Button, der als winziger alter Mann geboren wird und im Laufe seines Lebens immer jünger wird. Hier ein paar andere Gründe, warum man sich den Film ansehen könnte.

1. New Orleans
Der Film spielt, das hat mich überrascht, zu großen Teilen in New Orleans. Auch die Filmemacher sollen überrascht gewesen sein, die sich wegen der Steuer- und anderer Begünstigungen entschieden hatten, dort zu drehen -- darüber, wie gut alles zu erreichen ist usw. Auch die Rahmenhandlung, in der die große Liebe von Benjamin Button als alte Frau in einem Krankenhaus stirbt, während Hurrikan Katrina herannaht, fügt sich ganz gut in die Geschichte. Zu sehen gibt es: natürlich die Bäume und die louisianische Landschaft, majestätische Häuser auch in Innenansichten, Blicke auf den Lake Pontchartrain, meist bei Sonnenuntergang, Straßenszenen aus dem French Quarter, immer wieder die Straßenbahn auf der St. Charles Avenue, einmal fahren Cate Blanchett und Brad Pitt auch ganz verliebt damit, ein Spielplatz an der Napoleon Avenue und Magazine Street, wo ich gleich um die Ecke gewohnt habe und die bizarren Südstaatenakzente der Schauspieler (wobei viele den von Brad Pitt sehr liebenswürdig finden, aber die finden bestimmt alles an Brad Pitt liebenswürdig).
In Russland beginnt Brad Pitt eine Affäre mit Tilda Swinton, Frau eines britischen Diplomaten oder Geschäftsmannes. 
Als sie ihn fragt, wo er herkomme, sagt er: „New Orleans. Louisiana.“ 
Und sie: „I didn’t know there was another.“ 
Indeed!

2. Francis Scott Fitzgerald
Falls man schon immer mal eine Geschichte von ihm lesen wollte und es nicht geklappt hat, wäre das ein Einstieg. Allerdings unterscheidet sich die Vorlage, die ich noch nicht kenne, sehr vom Film, bis auf den Titel und die generelle Idee. Wie ich Fitzgerald kenne, ist seine Kurzgeschichte sicherlich wesentlich lakonischer und weniger sentimental. Fitzgerald selbst stammte aus Minnesota und lebte im Januar 1920 für ein paar Wochen in New Orleans, in der 2900 Prytania Street. (Seine Geschichte spielt 1860 in Neuengland.) Von dort aus besucht er seine zukünftige Frau Zelda Sayre, später Fitzgerald, die nicht nur viele seiner Werke inspirierte, sondern selbst tolle Kurzgeschichten schrieb (manche sagen, er hätte bei ihr abgeschrieben). Sie war eine richtige Southern Belle aus Alabama nur zwei Bundesstaaten weiter und war bestimmt mal in New Orleans. 

3. Die Handlung
Im Film hat alles ein bisschen Märchencharakter. Es beginnt damit, dass ein Uhrmacher in New Orleans nach dem 1. Weltkrieg 1918 eine Uhr baut, die rückwärts geht, in der Hoffnung, dass sein im Krieg gefallener Sohn und andere wieder zurückkommen. Das hat mit der eigentlichen Filmhandlung wenig zu tun. Der daraufhin als winziger alter Mann geborene Benjamin wird von seinem leiblichen Vater ausgesetzt und von der schwarzen Betreiberin eines Altersheims und ihrem Lebensgefährten aufgenommen. Manche der schnellen Handlungswechsel und die warmen und bunten Farben haben mich ein bisschen an den Film Amélie erinnert. Ansonsten ist der Film vor allem eine Liebesgeschichte, natürlich einer großen Liebe, die das ganze Leben andauert, aber eben nicht so sein kann. Wenn man „große Gefühle“ nicht scheut und gern mal ein bisschen weint, ist das sehr schön.

4. Die Schauspieler
Cate Blanchett – hat einfach immer Klasse. Brad Pitt – sieht nett aus und ist nett. Tilda Swinton – wie immer ungewöhnlich. Im Film hat sie übrigens ein besonderes Hobby: Langstreckenschwimmen. Mir gefielen auch die Darsteller der Ersatzeltern von Benjamin: Taraji P. Henson und Mahershalalhashbaz Ali.

5. Die Musik...
war auch ganz schön.

Ein Grund, den Film nicht zu sehen, ist sicherlich die Länge, knapp 160 Minuten. 
Ansonsten gar nicht schlecht.

Donnerstag, 3. Oktober 2013

David Bowie und New Orleans


Der Londoner Independent hat gestern eine Liste von David Bowies hundert Lieblingsbüchern veröffentlicht. Erstaunlich, nicht nur weil man bei nicht allen Popstars davon ausgehen kann, dass sie lesen, sondern auch, weil er mehr als hundert gelesen hat und einige davon richtig anspruchsvoll, auch theoretisch, sind! Noch dazu sagt Bowie, wenn er nicht Musiker geworden wäre, dann wäre er Schriftsteller geworden, und er verstehe seine Lieder als kleine Romane. Die Liste wurde von seinem Kurator für eine Ausstellung mit dem Titel David Bowie Is zusammengestellt, die vom Victoria and Albert Museum in London jetzt nach Kanada in die Art Gallery of Ontario in Toronto gewandert ist, wo sie bis zum 27. November 2013 zu sehen ist. Auch die Münchener Abendzeitung berichtete darüber. Als er jung war, soll Bowie immer mit demonstrativ herumgetragenen Büchern in der U-Bahn angegeben haben, und bei Dreharbeiten in der Wüste hatte er eine ganze Truhe voller Bücher mit. Ob er jetzt E-Bücher liest, ist nicht erwähnt, aber angeben konnte man damit wirklich nur ganz kurz vor ein paar Jahren, als sie noch neu waren, finde ich.
Auf der Liste finden sich die Klassiker wie Camus’ Der Fremde oder George Orwells’ 1984, aber auch Überraschungen wie Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. oder Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. Auch auf der Liste sind einige Bücher oder Autoren, die ich hier schon rezensiert habe: On the Road von Jack Kerouac und Kaltblütig von Truman Capote, aber auch African American Studies-Klassiker wie Richard Wrights Autobiografie Black Boy und Nella Larsons Passing (auf Deutsch unter dem Titel Seitenwechsel), über ihr ganz persönliches Thema einer Mulattin, die als weiß „durchgeht“. Außerdem sind einige von meinen Lieblingsbüchern dabei, zum Beispiel Room at the Top  (Der Weg nach oben) von dem Angry Young Man John Braine.
Überrascht hat mich aber vor allem John Kennedy Tooles Confederacy of Dunces (Die Verschwörung der Idioten), das Bowie Anfang der 2000er Jahre gelesen hat, vielleicht ja in Vorbereitung auf ein Konzert in New Orleans? Auf mehreren Touren ist er dort aufgetreten, und man findet im Internet die Setlisten für die Konzerte am 30. April 2004 im Saenger Performing Arts Theater an der Canal Street (hier) und am 6. Oktober 1987 im Louisiana Superdome (hier). Bowies Titel Time ist wohl 1974 während eines Tourneestops in New Orleans entstanden. 
Übrigens war das wunderschöne Saenger, wo ich vor langer Zeit mal den Fiedler auf dem Dach gesehen habe, seit Hurrikan Katrina geschlossen. Heute wird es mit einer Gala eröffnet und noch im Oktober kommen Garrison Keillor mit dem Prairie Home Companion, Wynton Marsalis und Orchester, Diana Ross usw. Für die folgenden Monate sind auch der Satiriker Bill Maher und der Musiker Dave Matthews angekündigt. Und wer weiß, vielleicht schaut David Bowie jetzt auch mal wieder vorbei.

Dienstag, 10. September 2013

Alice Dunbar-Nelson


Im Februar habe ich hier eine Karnevalsgeschichte eingestellt, in meiner Übersetzung, die zwar etwas melodramatisch ist, aber doch einen kleinen Eindruck des New Orleans am Anfang des 20. Jahrhunderts gibt. Titel: Odalie, geschrieben hatte sie die junge Alice Dunbar-Nelson (1875-1935). Siehe hier.
Inzwischen habe ich mich etwas mehr mit der Autorin beschäftigt und möchte sie hier vorstellen. Geboren wurde sie als Alice Ruth Moore in New Orleans. Sie war Kreolin und gehörte somit zur „multiracial“, traditionell französischsprachigen Gruppe der „Farbigen“ („people of color“), obwohl sie auch fälschlicherweise als Afroamerikanerin geführt wird.  Ich habe hier schon erwähnt, dass in New Orleans fast nichts einfach schwarz-weiß ist und es historisch bedingt viele freie Schwarze gab und viele dunkelhäutige Kreolen (siehe Mary Gehmans Buch Free People of Color). Diese ethnisch-rassische Unbestimmtheit und Fragen der Identität sowie die damit verbundene Anerkennungshierarchie innerhalb der Minderheit thematisiert Alice Dunbar-Nelson in einigen ihrer Texte (darunter „The Stones of the Village“ -- „Die Steine des Dorfs": über einen hellhäutigen Aufsteiger, der seine afroamerikanischen Wurzeln verleugnet, „Brass Ankles Speaks“ -- „Messingknöchel spricht sich aus" -- autobiografischer Bericht über ihre Kindheit als fast weißes Mädchen unter Schwarzen).
Alice Dunbar-Nelson studierte an der Straight University (heute Dillard) und arbeitete ab 1892 als Lehrerin. Sie gründete in Brooklyn eine Mädchenschule. Sie lebte in New York, Washington D.C. und Wilmington, Delaware. Sie war politisch aktiv, setzte sich für die Rechte der Afroamerikaner und Frauen ein, für Bildung und das Frauenwahlrecht, gegen Lynching usw. 1898 heiratete sie den Lyriker Paul Dunbar, wurde aber nach vier Jahren geschieden. Sie heiratete dann den Arzt Henry A. Callis und schließlich Robert J. Nelson, einen Lyriker und Bürgerrechtler. Wie Paul Dunbar wird sie zur Harlem Renaissance gezählt.
Mit 20 erschien ihre erste Kurzgeschichtensammlung Violets and Other Tales; die zweite The Goodness of St. Rocque and Other Stories kam 1899 heraus. Neben Gedichten und Kurzgeschichten begann sie mindestens drei Romane zu schreiben. Sie verfasste zahlreiche politische Essays und Kolumnen, akademische Artikel und ein ausführliches Tagebuch.
Einige ihrer Kurzgeschichten, u. a. „Odalie“ und eine weitere Karnevalsgeschichte „A Carnival Jangle“ sind sehr sentimental, aber in dieser Sentimentalität gelingt es ihr oft, anhand eines einzelnen Schicksals ein bestimmtes Problem zu thematisieren.
Mir gefallen vor allem Essays wie „The Woman“, wo sie darüber nachdenkt, warum berufstätige Frauen eigentlich heiraten sollten. Sie verfasste auch eine Zeitungskolumne unter dem Titel „From A Woman’s Point of View“, dann umbenannt in „Une Femme dit“. Interessant ist für mich in ihren früheren Geschichten auch der Bezug auf New Orleans mit seiner französisch-kreolischen Prägung.
Auf dieser Webseite finden sich einige ihrer Essays, auf Deutsch ist leider noch nichts erschienen.

Sonntag, 14. Juli 2013

Nachtrag


Langston Hughes’ Simpel spricht sich aus habe ich in der Übersetzung von Günther Klotz jetzt noch einmal gelesen und finde es auf die Dauer schon anstrengend, so eine verschliffene Sprache zu lesen, bei der Umgangssprache durch falsche Grammatik wiedergegeben wird wie sie auch im Dialekt niemand verwendet. Auch der Duktus der Figur Simpel ist nicht durchweg liebenswert.
Auffallend ist die enorme Sachkenntnis des Übersetzers, die sich auch im Glossar zeigt. Zum Beispiel erklärt er die Formel „taxation without representation“ (Besteuerung ohne parlamentarische Vertretung ist Tyrannei) als eine Losung im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, da eben Kolonien zwar besteuert wurden, aber nicht politisch vertreten waren. Diese Losung wird übrigens heute auch von Bewohnern des District of Columbia (d.h. der Hauptstadt Washington) gepflegt, denn auch sie sind nicht im Kongress vertreten, müssen aber Steuern zahlen. Aber da sie nicht politisch vertreten sind, fehlt wohl der politische Wille, ihre parlamentarische Vertretung durchzusetzen. In dem Buch bezog sich der Satz auf die damalige Situation der Afroamerikaner.
Auch sehr schön gelöst ist das Wortspiel mit „Bar“, pass the bar heißt ja die Anwaltsprüfung bestehen, aber bar heißt eben auch Bar. Mir hat man vor langer Zeit mal einen Anstecker geschenkt: I passed the bar and stayed there – Ich bin an der Bar vorbeikommen und gleich geblieben. 
Hier der Dialog aus dem Buch:
„...du solltest Redner werden.“
„Hm, ich hab Angst vor den Publikum. Mein Platz ist bei der Bar.“
„Bei der Gerichts-Bar-keit als redefleißiger Anwalt?“
„Bein Gericht haben se keine richtige Bar.“
Auch interessant fand ich die Lösung für das Wort bitch, das eigentlich Hündin heißt, aber auch als Schimpfwort für (unangenehme) Frauen verwendet wird. „Petze“ heißt es bei Günther Klotz und im Duden fand ich „Petze“ in der Bedeutung als Hündin in bestimmten Landstrichen (allerdings nicht in meinem). Auch so ein Dauerbrenner der Übersetzungsschwierigkeiten.
Vor allem das Nachwort, das gar nicht so vordergründig sozialistisch ist, sondern gut auf die Situation der Afroamerikaner und die Entstehung des Buches eingeht, datiert aber das Buch. Es ist von 1960, also noch vor dem Mauerbau, und dort werden Wörter wie „Negerzeitung“, „Negerkirche“ usw. wertneutral verwendet. Das geht natürlich heute nicht, aber für die Verwendung des Wortes in historischen Texten selbst ist die Diskussion angestoßen und nicht beendet, sowohl in den USA wie auch hier.
Auf ironische, aber treffende Weise thematisiert Simpel die ungerechte Behandlung der Schwarzen, und in diesen Tagen zeigt sich besonders deutlich, wie weit das Land noch von wahrer Emanzipation entfernt ist. Der Neighborhood-Watch-Eiferer George Zimmerman ist heute freigesprochen worden, obwohl er den jungen Trayvon Martin ohne Not getötet hat. Viele Facebook-Kommentare weisen darauf hin, dass es sicher anders ausgegangen wäre, wenn George Zimmerman schwarz und Trayvon Martin weiß gewesen wäre. Auf der Titelseite von http://www.washingtonpost.com/ ist ein junger Schwarzer namens Will Reese zu sehen, der in Harlem mit einem Schild an der Straße steht. Darauf heißt es: Honk! Justice for Trayvon Martin! (Hupen! Gerechtigkeit für Trayvon Martin!) 
Noch ein Wort zu Robert Hemenway (*1941), dem Wiederentdecker von Zora Neale Hurston. Neben ihrer Biographie, einem Klassiker, schrieb er noch andere Bücher und Artikel zu afroamerikanischer Literatur und unterrichtete weiter als Professor für Englisch. 16 Jahre lang war er auch der sehr erfolgreiche Kanzler der University of Kentucky in Lexington, Kentucky und dann von 1995 bis 2009 Kanzler der University of Kansas mit mehreren Campussen.
Heute ist übrigens Bastille Day... Vive la République!

Samstag, 6. Juli 2013

Zora Neale Hurston: Their Eyes Were Watching God


Es war einmal ein junger weißer Englischprofessor aus Nebraska namens Robert Hemenway, der las so gegen Ende der sechziger Jahre Their Eyes Were Watching God und war hingerissen. Also wollte er mehr über die afroamerikanische Autorin Zora Neale Hurston (1891-1960) in Erfahrung bringen. Doch er merkte schnell, dass sie nicht nur nahezu vergessen war, sondern dass auch viele widersprüchliche Informationen über ihr Leben kursierten. So packte er seine Sachen, kaufte sich einen Pickup-Camper (einen Pickup-Truck mit Schlafaufsatz) und reiste kreuz und quer durch die östliche Hälfte der USA auf den Spuren seiner Autorin. 1977 erschien dann seine wegweisende Biografie über sie, die eine ganze Welle der Wiederentdeckung auslöste.
(Mich erinnert diese Geschichte ein klein wenig an den großartigen Film Sugarman, den ich vor ein paar Wochen gesehen habe, nur dass es dort um einen mexikanischstämmigen Musiker aus Detroit ging, der sogar noch lebte, und durch seine Wiederentdeckung und dann noch mal durch den Film einen späten Ruhm und Anerkennung erleben durfte. Zora Neale Hurston war eine schwarze Frau, noch dazu aus dem Süden, interessierte sich für die einfachen Menschen und ihre Sprache und Bräuche. Sie starb verarmt und unbekannt.)
Zunächst einmal begannen die African American Studies-Leute, sich für sie zu interessieren, allen voran die noch heute sehr aktive Koryphäe, der Harvardprofessor Henry Louis Gates. Dann machte sich die Schriftstellerin Alice Walker auf die Suche, die sich aus womanistischer Sicht für sie interessierte. In ihrem Essayband In Search of Our Mother’s Gardens von 1973 berichtet Walker über ihre fast erfolglose Suche nach dem verwilderten Grab von Zora Neale Hurston in Florida. (Darin erwähnt sie auch, wie sie bei ihrem Anflug auf Orlando vom Fenster aus Sanford, Florida sah. Das ist der Ort, in dem vor einem Jahr der Jugendliche Trayvon Martin erschossen wurde und wo jetzt der viel beachtete und kontroverse Prozess gegen George Zimmerman läuft, der seinen Tod auf dem Gewissen hat.) Dieser Essay ist übrigens in der deutschen Ausgabe Auf der Suche nach den Gärten unserer Mütter (Übersetzt von Gertraude Krueger, Frauenbuchverlag 1987) nicht enthalten, dafür in einen zweitem Band, Die Erfahrung des Südens. Good Morning Revolution (Übersetzt von Thomas Lindquist und Helga Pfetsch, Frauenbuchverlag 1988 bzw. Goldmann), in dem es zwei Essays zu der Autorin gibt. Es sind "Zora Neale Hurston: Eine Geschichte mit Moral und eine parteiische Ansicht" und "Auf der Suche nach Zora".
Seitdem also steht Zora Neale Hurston bei den African American Studies, bei den Frauen und bei den American Literature-Leuten auf der Leseliste. Zu Recht. Doch in den offiziellen Kanon der amerikanischen Literatur hat sie es noch nicht geschafft, so scheint es mir: zu schwarz, zu eigenwillig, zu südlich.
Zora Neale Hurston war ja nicht nur Autorin der Harlem Renaissance und Schriftstellerin, sondern auch Ethnologin, und so reiste sie durch die Gegend und sammelte Geschichten und Sprache „ihrer“ Leute. Sie tat das mit einer Selbstverständlichkeit, wie sie auch heute noch nicht unbedingt selbstverständlich ist. Möglicherweise hat das damit zu tun, dass sie in Eatonville, Florida, aufwuchs, einer der wenigen ausdrücklich afroamerikanischen Gründungen, wo ihr Vater lange Zeit Bürgermeister war und wo man sich lange Zeit nur unter Schwarzen bewegte und mit Weißen gar nicht groß abgeben musste. Heute gibt es in Eatonville ein Zora Neale Hurston National Museum of Fine Arts.
Hurston studierte an der renommierten schwarzen Howard University in Washington, D.C., dann bei Columbia in New York. Sie lebte in New York, forschte zum Hoodoo in New Orleans, reiste durch die Karibik und veröffentlichte Kurzgeschichten, Romane und ethnologische Studien und Sammlungen. In Their Eyes Were Watching God (1937) lässt sie ihre afroamerikanischen Figuren in der örtlichen Mundart sprechen. Ihre (männlichen) Kollegen nahmen ihr das übel, hielten es vermutlich für eine Art Verrat an den Schwarzen, allen voran Richard Wright, Autor des Protestromans Native Son (1941), der darin Rassismus, Unterdrückung und Lynchjustiz thematisiert und wo die Gewalt und Stigmatisierung, wie auch in If He Hollers Let Him Go (1946) von Chester Himes, stark sexualisiert ist. Richard Wright also warf dem Roman vor, die Schwarzen wie in einer Minstrel Show lächerlich zu machen. Ein vernichtendes Urteil.
Doch in Their Eyes Were Watching God geht es nicht so sehr um Rassismus, denn Weiße tauchen gar nicht auf, höchstens ein wenig darum, dass unter den Afroamerikanern die Hellhäutigen oft als schöner gelten und andererseits auch dafür verspottet werden. Und es geht auch nicht um Sex, sondern um Liebe. Es geht um die Hauptfigur Janie, die sich nach einer akzeptierenden, ebenbürtigen Liebe sehnt und sie, ohne selbst aktiv zu werden, nach allerlei Hindernissen auch findet, in dem um einiges jüngeren Tea Cake. Mit ihm kann sie das Leben in vollen Zügen genießen, lernt über Eifersucht und Treue, über Sein und Seinlassen. Zerstört wird diese Liebe durch einen verheerenden Hurrikan, den sie am Okeechobee-See in Florida erleben, wo Tea Cake sie in den Fluten vor einem tollwütigen Hund rettet und selbst von ihm gebissen wird. Um ihr Leben zu retten, muss Janie ihre große Liebe erschießen. (Die Darstellung von Hurrikanen in der Literatur ist auch noch mal ein Kapitel für sich, siehe Jesmyn Wards Salvage the Bones.)
In der Rahmenhandlung kehrt Janie danach in ihren Heimatort Eatonville zurück, wo die Nachbarn reden und sich das Maul zerreißen. Denn einfach eine schwarze Frau zu sein, die wirkliche Liebe sucht und lebt, die sich mit nicht weniger zufrieden geben will und die sich so anzieht, wie sie möchte, das passt bis heute nicht so recht in das allgemein vorgesehene Rollenmuster für schwarze Frauen. Und so ist Zora Neale Hurstons Liebesroman auch schon revolutionär.
Dialekt, Umgangssprache, Mundart in der Literatur ist immer ungewöhnlich und problematisch. Aber im Deutschen noch viel mehr, wo solche Sprache nach wie vor stark regional markiert ist und deshalb leicht lächerlich oder ironisch oder verniedlichend klingen kann. Was macht man also damit in der Übersetzung? Eines der ersten Beispiele, an das ich mich erinnern konnte, war Simple Speaks His Mind von Hurstons Harlem-Renaissance-Kollegen Langston Hughes aus den vierziger Jahren. Darin ist die Gossensprache auch wieder Stilmittel, denn sie charakterisiert einerseits die Hauptfigur als einfach gestrickt, aber doch mit Weisheit und Kritikvermögen gerüstet, so dass er soziale Missstände scheinbar unbedarft karikiert und in Frage stellt. 1960 erschien das Buch zum ersten Mal in der deutschen Übersetzung von Günther Klotz als Simpel spricht sich aus im Aufbauverlag in der DDR. Günther Klotz ist mir sonst weiter kein Begriff, aber in seinem Nachwort thematisiert er auch die Übersetzung: „Mehr als bei anderen Büchern muß die Übersetzung Ersatz sein, denn sie kann mit der leichten Verschleifung der Hochsprache die eigentümliche Qualität des Originals nur andeuten.“ Das klingt bescheiden, aber in meiner Erinnerung tat er das ganz geschickt und lesbar; die Neuübersetzung von Evelyn Steinthaler im Milena-Verlag scheint neutraler zu sein.
Their Eyes Were Watching God wurde zunächst 1993 von Barbara Henninges für den Ammann-Verlag übersetzt, als Und ihre Augen schauten Gott. Wie alle Erstübersetzungen ist auch diese verdienstvoll, denn sie erschließt diesen schwierigen und eigentümlichen Text furchtlos und korrekt fürs Deutsche, ergänzt ihn durch ein informatives Glossar. Immer wieder bewundere ich wie Übersetzer das früher ohne Internet gemacht haben (besonders auch in der DDR ohne Reisemöglichkeiten), denn so gebildet, belesen und weit gereist man auch sein mag, jeder Text stellt einen doch immer wieder vor neue Schwierigkeiten. Die Mundart bringt die Übersetzerin als Dialekt in unsere Sprache, für mich liest sie sich nach Ruhrpott, andere sehen sie als rheinischen Kunstdialekt. Es mag dafür Rechtfertigungen geben -- auch eine Redeweise armer Leute, regional geprägt usw. -- doch irgendwie macht man so etwas heute nicht mehr und für mich funktioniert es einfach nicht.
Für die Edition Fünf, die persönliche Lieblingsbücher von Frauen nicht nur für Frauen verlegt, hat sich ein Mann der Neuübersetzung angenommen, Hans-Ulrich Möhring, und noch dazu bekennt er, dass dieses Buch, Vor ihren Augen sahen sie Gott, ein Traumprojekt war und damit eines seiner am Horizont fahrenden Schiffe in den Hafen eingelaufen ist. Beides ist ungewöhnlich. Auch er berichtet in einem Nachwort über das Buch und die Autorin und über sein Verfahren. Die Verlegerin Silke Weniger hat mir das so zusammengefasst (und mich damit neugierig gemacht): Er übersetzt, indem er einzelne Sätze im Original stehen lässt. Er selbst beschreibt den Blues als sein leitendes Prinzip. Das liest sich dann zum Beispiel so: „Ah was skeered. Ich hatte Schiss.“ (Bei Barbara Henninges steht: Ich hatte Anx.) oder „Dann musst du ihnen sagen, dass die Liebe nicht so was ist wie ein Schleifstein, der überall gleich ist und mit allem das Gleiche macht, wo er mit in Berührung kommt. Love is lak de sea. Wie das Meer ist die Liebe, immer in Bewegung, aber seine Form kriegt es erst von der Küste, an die es trifft, und die ist von Küste zu Küste anders.“ Für mich entsteht durch diese Doppelung eine interessante Intensität. Es ist, als ob sich die Figuren selbst dolmetschen, selbst erklären und noch kompetenter über sich selbst sprechen.
Überhaupt die Liebe. In meiner kleinen Bücher-Kolumne habe ich sie als grundlegende Übersetzungsmethode für diesen Text ausgemacht, denn das Deutsche stattet die Figuren mit einem besonderen, warmen Witz aus, zeichnet sie mit viel Liebe. Auch in Möhrings eigenem Roman, Vom Schweigen meines Übersetzers (Fahrenheit-Verlag 2008), geht es nicht nur um einen amerikanischen Schriftsteller, der in Deutschland seinem Übersetzer und seiner eigenen Familiengeschichte begegnet, sondern auch um das Übersetzen und Schreiben und die Liebe: „Liebe“, sagt er. „Wirst du deswegen Übersetzer? Vielleicht. Du hast eine Zeitlang im Ausland gelebt, die Lebensweise gefällt dir, die andere Art der Menschen, die Landschaft, das Klima, die Sitten und Gebräuche – die Sprache. Oder du liebst die Literatur eines Landes, einer Epoche, eines Milieus, wünschst dir einen weiteren Horizont – oder wenigstens eine andere Enge als die gewohnte. Wie kannst du, in der Form eines Berufs, deiner Liebe nahe blieben? Andere mag motivieren was will, aber du, Liebestäterin die du bist, kannst du die Liebe bewahren? Wenn du merkst, dass du mit deiner Arbeit keine Karriere machen kannst, kaum die Butter aufs Brot verdienst. Du sagst dir die Wichtigkeit deiner Arbeit vor: du bist Kulturvermittler, Völkerverbinder, was weiß ich. Du engagierst dich in deinem Berufsverband. Vielleicht gewinnst du ein bescheidenes Ansehen. Vielleicht nicht. Aber du musst den Alltag ertragen. Alle müssen das.“
Das klingt ziemlich ernüchternd, aber das Traumprojekt kam erst nach diesem Roman. In der Zeitschrift Übersetzen 01/13 haben übrigens Lektorin Karen Nölle und der Übersetzer über ihre enge Zusammenarbeit berichtet. Und für mich ist es auch diese besondere Konstellation, die Liebe zwischen Lektorat und Übersetzung, die Vor ihren Augen sahen sie Gott auch auf Deutsch so liebens- äh lesenwert macht.
Übrigens: Der Traum ist die Wahrheit, eine lange Nacht über Zora Neale Hurston von Daniela Kletzke und Hans-Ulrich Möhring demnächst im Radio, Deutschlandradio Kultur am 20.7.2013 von 0:05 Uhr bis 3:00 Uhr und Deutschlandfunk am 20.7. um 23:05 Uhr bis 21.7.2013 um 2:00 Uhr.

Samstag, 22. Juni 2013

Die Huey P. Long Bridge


Wenn man in dem „Fly“ genannten Teil des Audubon Park auf der Kante am Ufer sitzt, das dort mit drahtverhauenem Geröll befestigt ist, dann kann man ganz weit rechts am Rande in der Ferne eine Brücke sehen. Vor einem fließt der Mississippi vorbei und diese Brücke steht in einem so eigenartigen Winkel, dass einem schlagartig klar wird, wie sehr sich der Fluss hier windet. Es ist eine mit Stahlstrebenaufbau versehene Brücke, eine cantilevered steel through truss bridge, auf Deutsch: eine Ausleger-Fachwerkbrücke aus Stahl (hier). Erbaut wurde sie von 1932 bis 1935 und benannt ist sie nach Huey P. Long, dem legendären, flamboyanten Gouverneur von Louisiana (1893-1935).
Huey P. Long, der legendäre Kingfish, war nur von 1928 bis 1932 Gouverneur, ein Demokrat, der sich für Bildung einsetzte und 111 Brücken und das State Capitol in Baton Rouge erbauen ließ, einen irgendwie stalinistisch aussehenden Wolkenkratzer mit tollem Blick auf den Fluss. 1932 wurde er Senator und am 10. September 1935 im Foyer eben jenes State Capitols erschossen. Heutzutage bezeichnet man Leute wie ihn als Populisten, aber für mich war er eher ein Mann aus dem Volk fürs Volk mit viel Energie und Ideen.
Robert Penn Warren machte ihn als Willie Stark zur Hauptfigur seines brillanten Romans All the King’s Men von 1946 (auf Deutsch: Das Spiel der Macht), für den er den Pulitzer Preis erhielt. In dem Roman wird die Rastlosigkeit, das Visionäre und vielleicht Manipulative dieser Figur sehr deutlich. Durch seine Infrastrukturprojekte, u.a. Autobahnen, wirkte er der Isolierung der Landbevölkerung entgegen, was ein Faktor beim Verschwinden des Cajun-Französischen ist.
Auch die Huey P. Long-Brücke (eine Auto- und Eisenbahnbrücke etwas außerhalb von New Orleans) ist ihm zu verdanken, wurde allerdings erst im Dezember 1935 eingeweiht. Jetzt ist sie erweitert worden, mit breiteren Fahrspuren. Letzten Sonntag wurde sie nach dem Umbau wieder eingeweiht (hier), mit Band zerschneiden und Zeremonie, Bands und Bier und einem 5km-Lauf, dem in der großen Hitze ein 59-Jähriger zum Opfer fiel (hier). Besonders gefällt mir, dass auch die „35er“ eingeladen waren, die über zwanzig Bürger, davon einige weit über 80, die auch bei der Eröffnung im Dezember 1935 über die Brücke gelaufen waren.
Die Brücke, die Baton Rouge und Port Allen verbindet, ähnelt übrigens dieser Brücke und heißt auch Huey P. Long Bridge, eröffnet wurde sie 1940 (hier). Irgendwann in den neunziger Jahren sind die beiden Maler Mitchell Long und Robin Durand an meinem Geburtstag dort hingegangen und habe die Brücke für mich gemalt. Mitchells Bild hängt hier bei mir an der Wand, Robins war in New Orleans gelagert und ist bei Hurrikan Katrina in den Fluten versunken. Sehr schade.

Dienstag, 4. Juni 2013

Jesmyn Ward: Salvage the Bones


Vor vielen Jahren hatte ich die afroamerikanische Zeitschrift Essence abonniert, las alle schwarzen Autorinnen, derer ich habhaft werden konnte und schrieb gelegentlich auch über sie und ihre Bücher: Sonia Sanchez, Ntozake Shange, Terry McMillan, Maya Angelou, Bebe Moore Campbell, Tina McElroy Ansa, Nikki Giovanni, Marita Golden und viele andere. Damals kam ich zu dem Schluss, dass Toni Morrisons Weltruf und ihr Nobelpreis etwas damit zu tun haben, dass sie eher in einer europäischen oder weißen Tradition schreibt und deshalb ein breiteres, internationales Publikum anspricht. Die meisten dieser Autorinnen, war mein Eindruck, standen in einer ganz anderen, vielleicht eher einer oralen Tradition. Ihre Geschichten waren Frauengeschichten um Liebe, Familie, Selbstbehauptung, Identität, und ihr Stil oft loser, erzählender, vielleicht weniger streng.
Mich sprach das an, auch der Womanism der schwarzen Frauen, den Alice Walker dem weißen Feminismus gegenüber stellte. John Lennon sang 1972 ganz treffend „Woman is the Nigger* of the World“, und man kann sich vorstellen, wo schwarze Frauen in dieser Hierarchie stehen, die sich noch dazu seit über zwanzig Jahren im Rap beschimpfen und objektivieren lassen müssen. Alice Walker, die in Georgia aufwuchs, ist für The Color Purple bekannt, aber mir gefiel auch ihr Roman Meridian, in dem sie über eine junge Aktivistin (sich selbst?) im Universitätsmilieu schreibt, die als Frau in der männerdominierten Bürgerrechtsbewegung aneckt und ihren eigenen Platz finden oder sich schaffen will.
Jesmyn Ward ist eine junge Autorin aus Mississippi und damit aus dem tiefen ländlichen Süden, wo es wirklich nur Schwarz oder Weiß gibt und die allgemeine Armut und Abgelegenheit den Rassismus noch verschärft. In Salvage the Bones hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, das Leben der armen ländlichen Schwarzen ihrer Heimat darzustellen. Dafür erhielt sie 2011 den National Book Award. 
Es geht um eine Fünfzehnjährige namens Esch, die nur mit ihrem Vater, ihren Brüdern und deren Freunden aufwächst, da ihre Mutter bei der Geburt des jüngsten Bruders Junior gestorben ist. So muss sie selbst die traditionelle weibliche Rolle in der Familie übernehmen und ihren kleinen Bruder mit aufziehen. Als Vorbild der Weiblichkeit hat sie nur verschwommene Erinnerungen an ihre Mutter, den Medea-Mythos, den sie in jenem Sommer liest, und – und das ist im Buch gut nachvollziehbar – China, die Pitbull-Hündin ihres Bruders Skeetah, die gerade Welpen geboren hat.
Die Armut der Familie ist erschütternd, ebenso wie ihre ungeschickten, zum Scheitern förmlich verurteilten Versuche, Geld zu verdienen. Der Alkoholikervater verliert dabei einige Finger, der Bruder Randall die Aussicht auf ein Basketballstipendium und Skeetah eine Welpe nach der anderen und schließlich noch seine geliebte Hündin. Esch ist schwanger, vermutlich von Manny, der mit einer anderen Frau zusammenlebt und wohl genau der unverbindliche, unreife Typ mit gutem Aussehen und jungenhaftem Charme ist, dem Frauen, die es nicht besser wissen – und woher sollte Esch es wissen? –, verfallen. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das, im wahrsten Sinne des Wortes, „in einer Welt der Männer“ aufwächst, an einem Ort, wo alle „hungern, streiten und kämpfen“. Aber Esch schläft auch mit anderen, die sie fragen, als wäre das eben ihre natürliche Rolle. Dann ist da einer, der nicht fragt, und das wundert sie. Es ist Big Henry, auch ein Freund ihrer Brüder, der zu ihr hält und auch in Zukunft für sie da sein wird.
Ein kostenloses Rezensionsexemplar bringt sozusagen die Verpflichtung mit sich, eine Rezension zu schreiben, und so muss ich das Buch auch lesen, selbst wenn ich es eigentlich zur Seite legen würde. Meistens ist das zum Glück so. Hier war es die ausweglose und elende Lebenssituation des Mädchens und ihrer Familie, die ich, da ich die Region gut kenne, bildhaft vor Augen hatte. Doch am Ende des Buches gibt es einen Hoffnungsschimmer in Form von Big Henry.
Das Buch ist meisterhaft komponiert und geschrieben und hat auch etwas Universelles, Europäisches, und nicht nur wegen Medea. Natürlich hat man Jesmyn Ward in Interviews nach William Faulkner gefragt, denn thematisch ist es wie bei diesem: Süden, Mississippi, arme Schwarze. Doch ist ihre Perspektive eine ganz andere, einerseits ethnisch (da sie selbst Schwarze ist und über ihre Heimat schreibt), aber dann auch die einer jungen Frau, die über eine noch viel jüngere Frau schreibt, die sie ja mal war. Hier definieren die Männer, was eine Frau ist. Auch wenn Manny und Skeetah sich darüber unterhalten, ob China, die noch säugt, überhaupt Hundekämpfe abhalten kann, dann vergleichen sie Esch und China. Skeetah ist voller Vertrauen in die Stärke der beiden, anders als Manny, der sich immer wieder abfällig äußert.
Der lautlose Soundtrack, das Hintergrundrauschen des Buches, ist der sich ankündigende Hurrikan Katrina. The Pit, das Anwesen der Familie, liegt wie Jesmyn Wards Heimatort Delisle an der Golfküste von Mississippi an der Bucht Bay St. Louis, unweit des gleichnamigen Ortes. Hier ist Katrina direkt aufgetroffen und an Land gegangen, anders als in New Orleans, das erst durch brechende Dämme überflutet wurde. Hier wurden ganze Strände weggeschwemmt und Häuser von den Fluten weggerissen und dem Erdboden gleichgemacht. Hier sind vertraute Straßenzüge und Häuser seit dem Hurrikan gar nicht mehr vorhanden, einfach verschwunden.
Hier also erlebt die Familie den Hurrikan, den sie wie viele Leute, die ihr Leben lang mit Hurrikanwarnungen leben, unterschätzt hatten. Der Vater sieht zum ersten Mal, das seine Tochter schwanger ist, und wirft sie vor Schreck ins Wasser. Skeetah rettet sie, muss aber dafür seine Hündin China loslassen. Am Ende sind alle in Sicherheit, außer China, auf deren Rückkehr Skeetah und Esch ungeduldig warten.
In Interviews spricht sich Jesmyn Ward immer wieder gegen die Behauptung aus, die Wahl von Obama habe gezeigt, dass die USA post-racial seien, dass also die Rasse keine Rolle mehr spiele. Sie sagt: "Als ich aufwuchs, war ich ständig mit Rassismus konfrontiert, nicht etwa mit verdecktem oder institutionellem Rassismus, sondern mit offenkundigem, Ich-nenne-dich-Nigger-Rassismus. Meine Erfahrungswelt war in keiner Hinsicht post-rassisch und ist es auch heute nicht."** Hier.
Das eine ist sicher der offene Rassismus, aber der Roman zeigt auch deutlich die Trennung zwischen Schwarz und Weiß und die strukturelle Ungerechtigkeit der Armut, die unter Afroamerikanern viel stärker verbreitet ist als unter Weißen. Dabei sind die dargestellten Figuren keine harmlosen, lieben, edlen Schwarzen, sondern schon solche, die sich prügeln, Marihuana rauchen, klauen und eben Hundekämpfe veranstalten. Sie sind aus Fleisch und Blut, nicht perfekt, als Vater und als Geschwister hilflos, doch voller Liebe für einander. Ein großes Buch.
Das Original kam bei Bloomsbury heraus; im Herbst erscheint es bei Antje Kunstmann unter dem Titel Vor dem Sturm in der Übersetzung von Ulrike Becker. Der Titel Salvage the Bones heißt wörtlich Die Knochen retten. Es gibt übrigens schon jetzt jede Menge Lesegruppen zu dem Buch und auch in meinem Exemplar sind begleitende Materialien und Fragen zur Diskussion abgedruckt. Auch als Schullektüre könnte ich es mir gut vorstellen.
* Ich persönlich bin eine Verfechterin von Political Correctness, die leider durch alberne Übertreibungen in Verruf geraten ist. Schon aus Höflichkeit möchte ich Menschen so bezeichnen, wie sie gern bezeichnet werden möchten. Deshalb gehört das N-Wort nicht zu meinem Wortschatz.
** It really bothers me when people say we live in a postracial America. Growing up, I encountered racism all the time, and not covert or institutional racism, but in-your-face, I’m-gonna-call-you-a-nigger racism. There was nothing postracial about my experience, and there still isn’t.