Sonntag, 20. Dezember 2015

Der Axtmann von New Orleans

Das mit dem Axtmörder ist so ein amerikanisches Klischee, mit dem u.a. unbegründete Ängste karikiert werden können. Dabei sind Axtmörder im Land der Schusswaffen im Verhältnis relativ selten. Aber New Orleans hatte tatsächlich einen, der vor etwa 100 Jahren sein Unwesen trieb. Bis heute ist nicht mit völliger Sicherheit aufgeklärt, wer es war. Gefasst wurde er nämlich nicht, sondern er hörte irgendwann einfach auf zu morden, wahrscheinlich weil er selbst ums Leben kam.
Es begann in den Jahren 1911-1912, dann gab es eine längere Pause, womöglich wegen eines Aufenthalts im Staatsgefängnis in Angola oder in einer Irrenanstalt, und dann schlug er in den Jahren 1918-1919 in Serie zu und verdiente sich den Namen Axeman of New Orleans. Betroffen waren hauptsächlich italienischstämmige Lebensmittelhändler, die äußerst brutal niedergemetzelt wurden, vor allem auch deren Frauen; gestohlen wurde nichts. Interessanterweise gibt es einen Brief des Axtmanns vom 13. März 1919, der in der New Orleans Times Picayune veröffentlicht wurde. Der Brief ist ein Meisterwerk an Sprachgewandtheit und Zynismus, in dem er ankündigt, dass er die Stadt in wenigen Tagen wieder heimsuchen würde und nur Häuser, in denen in jener Nacht Jazz gespielt würde, vor ihm in Sicherheit wären.
Genau das ist der Aufhänger des Erstlings des Briten Ray Celestin, in dem der Brief gleich zwei Mal abgedruckt ist. Der Thriller trägt den Titel The Axeman’s Jazz und erschien 2014.
Celestin spinnt eine spannende, ausgeklügelte und äußerst blutrünstige Geschichte, in der er fast nichts Interessantes und Ungewöhnliches an New Orleans auslässt: die Mafia, arme irische Einwanderer, Cajuns, kreolische Plantagenbesitzer, Voodoo, Polizeikorruption, Jazzbeerdigungen, einen Kommissar, der erpressbar ist, weil er mit einer schwarzen Frau verheiratet ist und Familie hat, ein Zitat von Lafcadio Hearn, a lil’ love und – Louis Armstrong. 
In der Sache wird von drei Seiten her ermittelt, wovon natürlich nur die eine Untersuchung durch die Polizei legitimiert ist, doch am Ende deckt jede der drei Parteien ihr Drittel auf, so dass für die Leserin das ganze, sehr komplexe Knäuel an Verwicklungen entwirrt wird, während den jeweils anderen beiden Parteien der Rest verborgen bleibt.
Die erste Ermittlerin ist eigentlich ein Team, bestehend aus Ida Davis, einer sehr jungen, sehr begabten und sehr hellhäutigen Kreolin, die in einer Detektivagentur arbeitet und sich dort langweilt, und ihrem Kindheitsfreund, der früher bei ihrem Vater Trompetenunterricht hatte und ihr jetzt bei den Ermittlungen hilft. Anders als sie ist er schwarz, Jazzmusiker und heißt Lewis (und eben nicht Louis, aber ansonsten stimmen alle biografischen Details überein).
Der zweite Ermittler ist Kommissar Michael Talbot, der in der eigenen Polizeiwache geschnitten wird und sich von Korruption umgeben sieht. Kurzzeitig gesellt sich ihm ein sehr junger, sehr fähiger, frisch eingewanderter Ire als Assistent an die Seite, Kerry, der ein eigenes, hoffnungsvolles Geheimnis hat, aber nach dem Prinzip vieler Hollywoodfilme unverschuldet sterben muss.
Der dritte Ermittler ist Luca D’Andrea, italienischstämmiger Expolizist und Michaels früherer Mentor, der von diesem aber wegen seiner Verbandelungen mit der Mafia überführt und jetzt gerade nach mehreren Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde. Er ermittelt im Auftrag der Mafia.
Alle drei Ermittler decken wichtige Intrigen und Zusammenhänge auf und geraten dabei selbst in Lebensgefahr. Den eigentlichen Axtmörder stellt Luca und unterliegt ihm letztendlich im Zweikampf. Vorher wird ihm aber noch klar, dass es mit seiner erhofften Rückkehr nach Italien wohl nichts werden wird, und er erlebt noch so etwas wie Liebe, einen ruhigen Rückzugsort bei einer Frau, bei der nicht viele Worte nötig sind.
Das Buch ist spannend und beeindruckend konstruiert. Aber es ist doch so brutal, dass ich es nicht vor dem Einschlafen lesen konnte, ohne wild zu träumen. Woher so viele Autoren und Filmleute ihre Lust an der möglichst grausamen Vernichtung von Menschen haben (wie bereits gesagt noch über die eigentlichen, historisch belegten Axtmorde hinaus)? Der laut Internet tatsächlich verdächtigte Joseph Momfre wird übrigens nicht erwähnt.
Vorn im Buch befindet sich eine Karte vom New Orleans der damaligen Zeit, in der die verschiedenen Orte verzeichnet sind. Immer wieder gibt es Jazz, man fährt Straßenbahn, ins French Quarter, nach Gretna, zum Bayou St. John, das damals noch außerhalb der Stadt lag, es fallen viele, viele Straßennamen - und doch bleibt New Orleans irgendwie blass.
Blass bleibt auch die Sprache, aber spannend ist es trotzdem. Ganz nebenbei erfährt man viel über die Geschichte der Stadt zum Ende des Ersten Weltkriegs und am Beginn der Prohibition, über den Aufstieg des Jazz und vor allem auch über verschiedene Einwanderergruppen. Manches wirkt ein bisschen sehr ausgedacht, ein unmenschlicher Cajun als Menschenhändler und Zuhälter in New Orleans? Hmm. Und dann ist da noch der ewige, zermürbende Regen, der das ganze Buch durchzieht und der mir so untypisch vorkam, bis eine Figur eine Bemerkung darüber macht und eine Flut voraussagt. In der Literatur gilt übrigens das Jahr 1919, in dem die Französische Oper in New Orleans abbrannte, als Ende der kreolischen Kultur in New Orleans.
Der Axtmann wurde übrigens gleich nach 1919 zum Thema in Musikstücken und Karikaturen, später auch Comics und anderen Büchern, zuerst 1991 von Autorin Julie Smith, auch unter dem Titel The Axeman's Jazz.
Ray Celestins The Axeman’s Jazz ist schon ins Französische (unter dem Titel Carnaval), ins Spanische und ins Türkische übersetzt worden; von einer anstehenden deutschen Veröffentlichung ist mir bislang nichts bekannt. Kann man lesen, vielleicht sogar während der besinnlichen Weihnachtszeit...

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