Samstag, 22. Juni 2013

Die Huey P. Long Bridge


Wenn man in dem „Fly“ genannten Teil des Audubon Park auf der Kante am Ufer sitzt, das dort mit drahtverhauenem Geröll befestigt ist, dann kann man ganz weit rechts am Rande in der Ferne eine Brücke sehen. Vor einem fließt der Mississippi vorbei und diese Brücke steht in einem so eigenartigen Winkel, dass einem schlagartig klar wird, wie sehr sich der Fluss hier windet. Es ist eine mit Stahlstrebenaufbau versehene Brücke, eine cantilevered steel through truss bridge, auf Deutsch: eine Ausleger-Fachwerkbrücke aus Stahl (hier). Erbaut wurde sie von 1932 bis 1935 und benannt ist sie nach Huey P. Long, dem legendären, flamboyanten Gouverneur von Louisiana (1893-1935).
Huey P. Long, der legendäre Kingfish, war nur von 1928 bis 1932 Gouverneur, ein Demokrat, der sich für Bildung einsetzte und 111 Brücken und das State Capitol in Baton Rouge erbauen ließ, einen irgendwie stalinistisch aussehenden Wolkenkratzer mit tollem Blick auf den Fluss. 1932 wurde er Senator und am 10. September 1935 im Foyer eben jenes State Capitols erschossen. Heutzutage bezeichnet man Leute wie ihn als Populisten, aber für mich war er eher ein Mann aus dem Volk fürs Volk mit viel Energie und Ideen.
Robert Penn Warren machte ihn als Willie Stark zur Hauptfigur seines brillanten Romans All the King’s Men von 1946 (auf Deutsch: Das Spiel der Macht), für den er den Pulitzer Preis erhielt. In dem Roman wird die Rastlosigkeit, das Visionäre und vielleicht Manipulative dieser Figur sehr deutlich. Durch seine Infrastrukturprojekte, u.a. Autobahnen, wirkte er der Isolierung der Landbevölkerung entgegen, was ein Faktor beim Verschwinden des Cajun-Französischen ist.
Auch die Huey P. Long-Brücke (eine Auto- und Eisenbahnbrücke etwas außerhalb von New Orleans) ist ihm zu verdanken, wurde allerdings erst im Dezember 1935 eingeweiht. Jetzt ist sie erweitert worden, mit breiteren Fahrspuren. Letzten Sonntag wurde sie nach dem Umbau wieder eingeweiht (hier), mit Band zerschneiden und Zeremonie, Bands und Bier und einem 5km-Lauf, dem in der großen Hitze ein 59-Jähriger zum Opfer fiel (hier). Besonders gefällt mir, dass auch die „35er“ eingeladen waren, die über zwanzig Bürger, davon einige weit über 80, die auch bei der Eröffnung im Dezember 1935 über die Brücke gelaufen waren.
Die Brücke, die Baton Rouge und Port Allen verbindet, ähnelt übrigens dieser Brücke und heißt auch Huey P. Long Bridge, eröffnet wurde sie 1940 (hier). Irgendwann in den neunziger Jahren sind die beiden Maler Mitchell Long und Robin Durand an meinem Geburtstag dort hingegangen und habe die Brücke für mich gemalt. Mitchells Bild hängt hier bei mir an der Wand, Robins war in New Orleans gelagert und ist bei Hurrikan Katrina in den Fluten versunken. Sehr schade.

Mittwoch, 12. Juni 2013

Rerun: Dear Universe


This is an entry I wrote on a sunny, louvered porch in Donaldsonville, Louisiana, last fall.

Tuesday, 18 September 2012
Dear Universe,

You’re probably wondering why my ecological footprint has exploded over the past two weeks, why I’m trampling the environment with gigantic shoes. The answer is simple: I’m in the USA. And because I’m just visiting, I can’t arrange things the way I’d like them.
First, the transportation: airplanes brought me and my baggage here, more than 8,200 kilometers (some 5,100 miles), and hopefully they’ll bring me back the more than 8,500 kilometers (some 5,300 miles) in one piece. In the process, they release incredible amounts of emissions directly into the vulnerable sky. Fortunately I do this very rarely, and the next time I get paid, I’ll make a donation and ask for atonement. 
Then I’ve got a little rental car, which I don’t use every day, since I’m spending time staying with lots of nice people, but it is covering a considerable distance (around 1,000 miles so far). Unfortunately this is essential, because otherwise I’d be dependent on other people chauffeuring me around to an extent that perhaps famous writers could reckon with. And while I’m here I can’t be so strict about my vegetarian diet, and so the airplanes will have a heavier load to take back, and countless animals, above all cows, will have died for my sake, of course not without previously releasing large quantities of methane into the atmosphere. (Forgoing meat and milk products, I recently heard in an episode of Freakonomics on NPR, hereis the surest way to eat an environmentally friendly diet. Unfortunately, this show doesn’t run on NPR Berlin.)
And then the trash: all the disposable cups and silverware and packaging used on the flight alone, even though it supposedly gets recycled! Here all the coffee shops serve everything with paper cups, plates and bags, and when I ask for tap water, I’m given it in a thin, transparent cup that tastes obnoxiously of plastic the very second time you use it. At least I do without the straws now.
Then there’s the air conditioning, always running and usually much too cold for me. At a reading in the Baton Rouge Gallery on Sunday it was set at 71° Fahrenheit, when it was about 96° outside! Now I’m sitting completely un-air conditioned on a screened-in veranda, and after just a few days in Louisiana I feel that I have a sort of fresh glow. Not because of the air conditioning, but despite it…
I admit that there’s also a certain clandestine attraction to living as carelessly and excessively as most Americans. But in just a week, dear Universe, I’ll be good again, saving and recycling, riding my bike, walking, running to the train and riding it and letting countless animals live. See you then!
Translated by Isabel Cole

Dienstag, 4. Juni 2013

Jesmyn Ward: Salvage the Bones


Vor vielen Jahren hatte ich die afroamerikanische Zeitschrift Essence abonniert, las alle schwarzen Autorinnen, derer ich habhaft werden konnte und schrieb gelegentlich auch über sie und ihre Bücher: Sonia Sanchez, Ntozake Shange, Terry McMillan, Maya Angelou, Bebe Moore Campbell, Tina McElroy Ansa, Nikki Giovanni, Marita Golden und viele andere. Damals kam ich zu dem Schluss, dass Toni Morrisons Weltruf und ihr Nobelpreis etwas damit zu tun haben, dass sie eher in einer europäischen oder weißen Tradition schreibt und deshalb ein breiteres, internationales Publikum anspricht. Die meisten dieser Autorinnen, war mein Eindruck, standen in einer ganz anderen, vielleicht eher einer oralen Tradition. Ihre Geschichten waren Frauengeschichten um Liebe, Familie, Selbstbehauptung, Identität, und ihr Stil oft loser, erzählender, vielleicht weniger streng.
Mich sprach das an, auch der Womanism der schwarzen Frauen, den Alice Walker dem weißen Feminismus gegenüber stellte. John Lennon sang 1972 ganz treffend „Woman is the Nigger* of the World“, und man kann sich vorstellen, wo schwarze Frauen in dieser Hierarchie stehen, die sich noch dazu seit über zwanzig Jahren im Rap beschimpfen und objektivieren lassen müssen. Alice Walker, die in Georgia aufwuchs, ist für The Color Purple bekannt, aber mir gefiel auch ihr Roman Meridian, in dem sie über eine junge Aktivistin (sich selbst?) im Universitätsmilieu schreibt, die als Frau in der männerdominierten Bürgerrechtsbewegung aneckt und ihren eigenen Platz finden oder sich schaffen will.
Jesmyn Ward ist eine junge Autorin aus Mississippi und damit aus dem tiefen ländlichen Süden, wo es wirklich nur Schwarz oder Weiß gibt und die allgemeine Armut und Abgelegenheit den Rassismus noch verschärft. In Salvage the Bones hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, das Leben der armen ländlichen Schwarzen ihrer Heimat darzustellen. Dafür erhielt sie 2011 den National Book Award. 
Es geht um eine Fünfzehnjährige namens Esch, die nur mit ihrem Vater, ihren Brüdern und deren Freunden aufwächst, da ihre Mutter bei der Geburt des jüngsten Bruders Junior gestorben ist. So muss sie selbst die traditionelle weibliche Rolle in der Familie übernehmen und ihren kleinen Bruder mit aufziehen. Als Vorbild der Weiblichkeit hat sie nur verschwommene Erinnerungen an ihre Mutter, den Medea-Mythos, den sie in jenem Sommer liest, und – und das ist im Buch gut nachvollziehbar – China, die Pitbull-Hündin ihres Bruders Skeetah, die gerade Welpen geboren hat.
Die Armut der Familie ist erschütternd, ebenso wie ihre ungeschickten, zum Scheitern förmlich verurteilten Versuche, Geld zu verdienen. Der Alkoholikervater verliert dabei einige Finger, der Bruder Randall die Aussicht auf ein Basketballstipendium und Skeetah eine Welpe nach der anderen und schließlich noch seine geliebte Hündin. Esch ist schwanger, vermutlich von Manny, der mit einer anderen Frau zusammenlebt und wohl genau der unverbindliche, unreife Typ mit gutem Aussehen und jungenhaftem Charme ist, dem Frauen, die es nicht besser wissen – und woher sollte Esch es wissen? –, verfallen. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das, im wahrsten Sinne des Wortes, „in einer Welt der Männer“ aufwächst, an einem Ort, wo alle „hungern, streiten und kämpfen“. Aber Esch schläft auch mit anderen, die sie fragen, als wäre das eben ihre natürliche Rolle. Dann ist da einer, der nicht fragt, und das wundert sie. Es ist Big Henry, auch ein Freund ihrer Brüder, der zu ihr hält und auch in Zukunft für sie da sein wird.
Ein kostenloses Rezensionsexemplar bringt sozusagen die Verpflichtung mit sich, eine Rezension zu schreiben, und so muss ich das Buch auch lesen, selbst wenn ich es eigentlich zur Seite legen würde. Meistens ist das zum Glück so. Hier war es die ausweglose und elende Lebenssituation des Mädchens und ihrer Familie, die ich, da ich die Region gut kenne, bildhaft vor Augen hatte. Doch am Ende des Buches gibt es einen Hoffnungsschimmer in Form von Big Henry.
Das Buch ist meisterhaft komponiert und geschrieben und hat auch etwas Universelles, Europäisches, und nicht nur wegen Medea. Natürlich hat man Jesmyn Ward in Interviews nach William Faulkner gefragt, denn thematisch ist es wie bei diesem: Süden, Mississippi, arme Schwarze. Doch ist ihre Perspektive eine ganz andere, einerseits ethnisch (da sie selbst Schwarze ist und über ihre Heimat schreibt), aber dann auch die einer jungen Frau, die über eine noch viel jüngere Frau schreibt, die sie ja mal war. Hier definieren die Männer, was eine Frau ist. Auch wenn Manny und Skeetah sich darüber unterhalten, ob China, die noch säugt, überhaupt Hundekämpfe abhalten kann, dann vergleichen sie Esch und China. Skeetah ist voller Vertrauen in die Stärke der beiden, anders als Manny, der sich immer wieder abfällig äußert.
Der lautlose Soundtrack, das Hintergrundrauschen des Buches, ist der sich ankündigende Hurrikan Katrina. The Pit, das Anwesen der Familie, liegt wie Jesmyn Wards Heimatort Delisle an der Golfküste von Mississippi an der Bucht Bay St. Louis, unweit des gleichnamigen Ortes. Hier ist Katrina direkt aufgetroffen und an Land gegangen, anders als in New Orleans, das erst durch brechende Dämme überflutet wurde. Hier wurden ganze Strände weggeschwemmt und Häuser von den Fluten weggerissen und dem Erdboden gleichgemacht. Hier sind vertraute Straßenzüge und Häuser seit dem Hurrikan gar nicht mehr vorhanden, einfach verschwunden.
Hier also erlebt die Familie den Hurrikan, den sie wie viele Leute, die ihr Leben lang mit Hurrikanwarnungen leben, unterschätzt hatten. Der Vater sieht zum ersten Mal, das seine Tochter schwanger ist, und wirft sie vor Schreck ins Wasser. Skeetah rettet sie, muss aber dafür seine Hündin China loslassen. Am Ende sind alle in Sicherheit, außer China, auf deren Rückkehr Skeetah und Esch ungeduldig warten.
In Interviews spricht sich Jesmyn Ward immer wieder gegen die Behauptung aus, die Wahl von Obama habe gezeigt, dass die USA post-racial seien, dass also die Rasse keine Rolle mehr spiele. Sie sagt: "Als ich aufwuchs, war ich ständig mit Rassismus konfrontiert, nicht etwa mit verdecktem oder institutionellem Rassismus, sondern mit offenkundigem, Ich-nenne-dich-Nigger-Rassismus. Meine Erfahrungswelt war in keiner Hinsicht post-rassisch und ist es auch heute nicht."** Hier.
Das eine ist sicher der offene Rassismus, aber der Roman zeigt auch deutlich die Trennung zwischen Schwarz und Weiß und die strukturelle Ungerechtigkeit der Armut, die unter Afroamerikanern viel stärker verbreitet ist als unter Weißen. Dabei sind die dargestellten Figuren keine harmlosen, lieben, edlen Schwarzen, sondern schon solche, die sich prügeln, Marihuana rauchen, klauen und eben Hundekämpfe veranstalten. Sie sind aus Fleisch und Blut, nicht perfekt, als Vater und als Geschwister hilflos, doch voller Liebe für einander. Ein großes Buch.
Das Original kam bei Bloomsbury heraus; im Herbst erscheint es bei Antje Kunstmann unter dem Titel Vor dem Sturm in der Übersetzung von Ulrike Becker. Der Titel Salvage the Bones heißt wörtlich Die Knochen retten. Es gibt übrigens schon jetzt jede Menge Lesegruppen zu dem Buch und auch in meinem Exemplar sind begleitende Materialien und Fragen zur Diskussion abgedruckt. Auch als Schullektüre könnte ich es mir gut vorstellen.
* Ich persönlich bin eine Verfechterin von Political Correctness, die leider durch alberne Übertreibungen in Verruf geraten ist. Schon aus Höflichkeit möchte ich Menschen so bezeichnen, wie sie gern bezeichnet werden möchten. Deshalb gehört das N-Wort nicht zu meinem Wortschatz.
** It really bothers me when people say we live in a postracial America. Growing up, I encountered racism all the time, and not covert or institutional racism, but in-your-face, I’m-gonna-call-you-a-nigger racism. There was nothing postracial about my experience, and there still isn’t.