Freitag, 10. Juli 2015

Nicholas Christopher: Tiger Rag

New Orleans/Louisiana ist als Sujet und Schauplatz ein Dauerbrenner. Hier meine Rezension von Tiger Rag von Nicholas Christopher, Übersetzt von Pociao,  DTV 2014.
In dieser Kritik auf Spiegel Online hieß es mehr oder weniger: Ist eben ein Unterhaltungsroman. Außerdem schreibe der Autor sehr leidenschaftlich und verliere so manchmal den Faden. Und er versuche, Musik in Literatur zu übertragen. „Und so ist Tiger Rag als Roman nur zu empfehlen für Menschen, die viel Ahnung von Musik haben - und nicht allzu viel Ahnung von Literatur.“ 

Genau das ist für mich der Widerspruch: Für einen Unterhaltungsroman muss man zu viel mitdenken, und andererseits ist er einfach, na ja, nicht unterhaltend genug. Es gibt nämlich Zeitsprünge, Vor- und Rückblenden, unterschiedliche Schriftarten, zwei parallel laufende Handlungsstränge, die am Schluss etwas gezwungen zusammengeführt werden. Es gibt unglaublich viele Namen und Personen, die schwer auseinanderzuhalten sind. Aber es wird viel Geschichte erzählt und mit der Handlung verwoben, so dass ich mich fast die ganze Zeit gefragt habe, was wohl wahr ist und was fiktiv.
Aber vielleicht mal konkret: Es fängt an in New Orleans, mit Charles Bolden (genannt Buddy oder King Bolden), offenbar unter Jazzmusikern eine wahre Legende, auch weil nichts Konkretes überliefert ist, außer sein Einfluss auf die Musiker, die mit ihm gearbeitet haben oder ihm nachgefolgt sind. Bolden spielte Kornett, war gutaussehend, hatte Stil, liebte viele Frauen – und endete relativ jung in einer Nervenheilanstalt, in der er die restlichen Jahrzehnte seines Lebens verbrachte.
Das Buch öffnet mit einer Aufnahmesession in einem Hotel (das es übrigens nicht gibt). Die Buddy Bolden-Band spielt drei Mal, und alle drei Male werden auf sogenannten Edison-Walzen aufgezeichnet. Alle drei gehen verloren, müssen verloren gehen, denn im Internet steht, dass es keine Aufzeichnungen gibt. D.h. eine bleibt doch übrig, und wo es zuerst um den Verlust der beiden ersten geht, ist der Rest des Buches dem Weg der letzten Walze gewidmet, die immer wieder in vertrauensvolle Hände weitergegeben, aber dann gestohlen wird.
Die zweite Handlung ist die um Ruby Cardillo, eine Anästhesistin Ende vierzig, deren Mann sich gerade scheiden lassen und eine Krankenschwester im Alter seiner Tochter geheiratet hat. Rubys Gegenreaktion: Sie schlägt völlig über die Stränge, schläft und isst nicht, trinkt, ist hyperaktiv und bereitet eine Rede für einen Kongress vor, wo sie den einzigen Vortrag hält. Erzählt wird auch von Rubys unsteter Kindheit, mit einer Mutter, die sich eher um den jeweiligen Mann in ihrem Leben und wenig um ihr Kind gekümmert hat. Dann kommt auch Rubys Tochter Devon ins Spiel, Mitte zwanzig ein gestrauchelte Jazzpianistin, die getrunken, Drogen genommen, gestohlen hat und dafür im Gefängnis war.
Rubys Vater war ein Taugenichts-Möchtegernmusiker namens Valentine Owen, der das Bindeglied zwischen den beiden Handlungssträngen bildet. Außerdem hat Ruby als Jugendliche
in New Orleans bei einer entfernten Tante, Marielle, gelebt, die eines Tages spurlos verschwindet und am Ende als Joan Neptune wieder auftaucht. Sie ist das zweite Bindeglied. Devon, die Tochter, begleitet ihre Mutter auf einer mehrtägigen Autofahrt nach New York, wo beide auch ein paar Tage bleiben. Sie suchen dort einen Musik- und Instrumentensammler auf, der ihnen von der Walze erzählt und die Tochter auf die Suche schicken will. Es gibt noch einige Verwicklungen, aber dann taucht die Walze auf, und Devon wird sie veröffentlichen, über Buddy Bolden schreiben und damit irgendwie wieder ins Leben zurückfinden. Es ist ein Happy End, ganz ohne Liebesgeschichte, eins, bei dem die Frauen einer Familie zueinander und in ihrem Zusammensein Kraft und Heilung finden. 
Leider bleiben die Figuren blutleer, schematisch, durchgehend gut oder schlecht, ohne dass wir ihre Motive nachvollziehen können. Ruby ist ein Klischee einer Geschiedenen, die ihr Leben wieder für sich zurückgewinnen will. Auch Devon, aus deren Sicht einige Teile geschrieben sind, bleibt blass. Aber am schlimmsten fällt Rubys Vater aus, eben jener Valentine Owen, der einfach nur durch und durch mies und mickrig und niedrig ist. Das ist unglaubwürdig, denn, wie ich aus Erfahrung weiß, halten sich auch die schlimmsten Schurken tief innen drin für gut oder wenigstens stark. 
Gelernt habe ich auch so einiges, zum Beispiel über den Unterschied zwischen einem Kornett und einer Trompete (Mundstück, Schalltrichter, Ton, Kornett ist schwerer zu spielen; interessanterweise wurde ja früher mehr Kornett gespielt), wie wichtig das Vorhandensein von Zähnen für das Spielen eines Blasinstruments ist und dass man (wie Leonard Bechet, der Bruder von Sidney) zwar ein guter Zugposaunist sein, aber eben mit den Ventilen nicht klar kommen kann.
New York im dicken Schnee wird sehr plastisch (es ist kurz vor Weihnachten), aber New Orleans besteht nur aus Straßennamen und Orten und wird einfach nicht lebendig. Und die Übersetzung? Übersetzt hat es die legendäre Pociao, die viel und offenbar gut übersetzt, denn welche Übersetzerin hat schon einen Künstlernamen? Hier scheint das Original nicht so sehr viel zu bieten: Ortsnamen und Anspielungen sind brav durchexerziert; nur einmal bin ich aufgeschreckt, nämlich bei dem Wort Eintopf. 

Damit ist vermutlich ein Gumbo gemeint und sollte im Fall von New Orleans unbedingt dort stehen. Als Ruby bei Marielle lebt, wird sie mit Shrimps in zehn verschiedenen Zubereitungen verwöhnt, mit „Okragemüse, Löwenzahnsuppe und Gumbo mit Krebsfleisch“ (S. 110).  Später wird die Reaktion von Kollegen und Kritikern auf Buddy Boldens Musik beschrieben. Dort heißt es: „Archimedes Robinson, ein junger Journalist mit schwülstigem Stil, bezeichnete es [Buddy Boldens Art zu Musizieren] im Parade Magazine als 'Delta-Mischung', einen musikalischen Eintopf, den Bolden als erster aufgetischt habe.“ (S. 173)
In meiner kürzlich in Bücher 4/2015 erschienen
Botschaft aus Babel zum Thema New Orleans Übersetzen (S. 62) habe ich dazu geschrieben:
„Zur legendären Esskultur von New Orleans gehört Gumbo – eine mit dunkler Mehlschwitze angedickte, scharfe Suppe mit Okraschoten, Fleisch und vielen anderen Zutaten. Wie Okra ist auch der Name Gumbo afrikanischen Ursprungs, und es ist so viel mehr als nur ein Gericht: Es steht für den besonderen Schmelztiegel New Orleans, mit seinen afrikanischen, karibischen, französischen und vielen anderen Einflüssen. Eintopf mag die knappste Beschreibung dafür sein, aber das Hybride, das für New Orleans so typisch ist, die ganze Feinheit und Würze in einen so urdeutschen Begriff zu zwängen, das funktioniert irgendwie nicht.“ (Wird vermutlich in Bälde ins Internet gestellt, andere Kolumnen siehe hier.) Der „musikalischene Eintopf“ mag bei uns eingebürgert sein, aber in New Orleans sollte man in jedem Fall einen „Gumbo“ servieren.

Was das Leben von Buddy Bolden und den Jazz angeht, ist das Buch äußerst informativ. Zum gleichen Thema gibt es übrigens noch einen früheren, ebenfalls sehr kompliziert aufgebauten Roman von Michael Ondaatje, Buddy Boldens Blues, übersetzt von Adelheid Dormagen, Hanser Verlag 1995.