Montag, 20. Januar 2014

Tatwort. Die Übersetziade. -- Alle Einsendungen


Tatwort. Die Übersetziade
Am 29. November 2013 war unser erster Entscheid für Tatwort. Die Übersetziade, ein feines, warmes und fröhliches Fest des Übersetzens. Wir hatten elf Einsendungen erhalten. Zu übersetzen war ein Prosagedicht aus Donna Stoneciphers preisgekröntem Gedichtband The Cosmopolitan (Coffee House Press 2008, National Poetry Award). Donna Stonecipher hatte anonym den Gewinner des Autorinnenpreises ausgewählt und der Publikumspreis wurde nach Abstimmung vergeben.

Das Original:
Donna Stonecipher
Inlay 22 (Elfriede Jelinek, by way of Lenin)

1. In Cologne we bought cologne. In Morocco we bought morocco. In Kashmir we bought cashmere. Then, our suitcases stuffed, we flew back home to New York City, where we drank manhattan after manhattan until ill-advisedly late into the evening.

2. “I’m an anarchist,” said the poet. “You’re spoiled,” said his girlfriend. A line of people in masks paraded by. And then the lights dimmed, and the one true anarchist was suddenly spot-lit in the crowd: a little girl with an ice cream sandwich melting in her bag.

3. The beautiful people wanted to go only to places where there were other beautiful people, in cafés and restaurants and bars, and puffed nervously on their cigarettes when the number of ugly people shown to tables seemed to be reaching critical mass.
           
4. You like to be told what to do. You like to be shown to your plug and to glow in it like a nightlight. You like to be clued in, strapped on, knuckled under. You like to be held down and liquored up. You like to be scooped out, bowled over, seen through.
“Trust is fine, but control is better”
5. Forking over our dollars, we hatched a grand plan for the overlapping economy: Let the French take care of the perfumes; the Dutch of the tulips; and the Italians of the leather shoes. Each would be a department in the department store in the Great Mall.

6. She wrote, I want to be seen through. He wrote, But you are deliberately opaque. She wrote, I want people to want to work hard to see through my (really quite superficial) opacity. He wrote nothing back. She waited, but he wrote nothing back.

7. You like to go from room to room drowning yourself in dahlias. You like to stand in a crowd and implode and implode till all your individuality melts. You like to be underneath, on top, afloat. But it thrills you to hear your name in a stranger’s mouth.

8. Was it good or bad when the foreigner was said to be “more French than the French”? She of the huge hats and humble origins was “more bourgeois than the bourgeois.” And the cosmopolitan was more cosmopolitan than the cosmos itself.

9. We bought china in China. We bought tangerines in Tangier. You bought turquoise in Turkey, and I bought an afghan in Afghanistan. I bought india ink in India, and you bought an indiaman in India. But nowhere did we relinquish any little bit of ourselves.

Der Autorinnenpreis:

Lars-Arvid Brischke:              Einlage 22 (Elfriede Jelinek, ursprünglich von Lenin)

1. In Köln kauften wir Kölsch. In Marokko kauften wir Moloko. In Kashmir kauften wir Kasimir. Dann flogen wir mit vollgestopften Taschen zurück nach Hause nach New York und tranken bis der Doktor kam einen Manhattan nach dem anderen.
           
2. „Ich bin ein Anarchist“, sagte der Dichter. „Du bist verdorben“, sagte seine Dirne. Eine Reihe Maskierter paradierte vorbei. Dann dunkelte es und die einzige echte Anarchistin in der Menge stand plötzlich im Rampenlicht: Ein Dirndl mit einem schmelzenden Sandwich-Eis im Säckel.

3. Die Schönen wollten nur an Orte gehen wo es andere Schöne gab, in Cafes und Restaurants und Bars, und zogen nervös an ihren Zigaretten wenn die Zahl der Hässlichen, denen Tische gezeigt wurden, eine kritische Masse zu erreichen schien.            

4. Du magst es, wenn dir einer sagt wo’s langgeht. Du magst es, wenn dir einer deinen Stecker zeigt, in dem du glimmst wie ein Nachtlicht. Du willst im Bilde sein, angeschnallt, untergebuttert. Du magst dich  ausgebremst und schnapserfüllt. Willst ausgehöhlt sein, umgestoßen, durchschaut. 
                                                „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“
5. Wir hauten unsre Dollars auf den Kopf und schmiedeten den Plan für eine überlappende  Ökonomie: Sollen sich die Franzosen um Parfums, die Holländer um Tulpen und die Italiener um schicke Lederschuhe kümmern. Jeder wäre eine Ware eines Warenhauses in der großen Einkaufszone.

6. Sie schrieb, ich will durchschaut werden. Er schrieb, du bist absichtlich undurchsichtig. Sie schrieb, ich möchte, dass Leute sich bemühen mögen, bei meiner (eigentlich echt nur oberflächlichen) Undurchsichtigkeit durchzublicken. Er antwortete nichts. Sie wartete, doch er antwortete nichts.

7. Du gehst so gern von Raum zu Raum, ertränkst dich in Dahlien. Du stehst gern in der Menge, brichst zusammen, brichst zusammen bis dein ganzes Wesen schmilzt. Du bist gern unter uns, obenauf, im Fluss. Doch es erregt dich, deinen Namen aus fremdem Mund zu hören.

8. War es gut oder schlecht, den Ausländer „französischer als einen Franzosen“ zu nennen? Sie mit ihren großen Hüten und ihren bescheidenen Wurzeln war „spießiger als die Spießer“. Und der Kosmopolit war kosmopolitischer als der Kosmos.

9. Wir kauften Kobaltblau in China. Wir kauften Orange in Tanger. Du kauftest Türkis in der Türkei und ich kaufte einen Affen in Afghanistan. Ich kaufte Indigo in Indien und du kauftest ein Individuum in Indien. Aber nirgends gaben wir auch nur das Mindeste von uns preis.

Der Publikumspreis:

Sven Scheer: nach Donna Stonecipher (entschuldige)
Durchschuss 22 (Elfriede Jelinek mit Lenin im Beiwagen)

1. In Gouda kauften wir Gouda. In Roquefort kauften wir Roquefort. In Cheddar kauften wir Cheddar. Dann, der Koffer miefend, ging’s heim nach Pilsen, wo wir Pilsener auf Pilsener tranken, bis sich der Sternenhimmel vor unseren Augen drehte.

2. „Ich bin ein Spießer“, sagte der Dichter. „Bild dir bloß nichts ein“, sagte seine Freundin. Eine Polonaise der Masken zog vorüber. Die Lichter verloschen, und die Aura des Dichters spießte ein unschuldiges kleines Mädchen auf. Unschuldig? Aus ihrer Tasche tropfte Eiscreme.

3. Die Schönen sagten: O Herr, lass strahlend Schöne neben mir sein. Überall, im Café, im Restaurant und in der Bar. Nervös aßen sie ihre Zigaretten auf, als mehr und mehr Hässliche neben ihnen Platz nahmen. Die Apokalypse nahte.
           
4. Du willst ständigen Empfang. Du willst in die Steckdose gesteckt werden und wie ein Smartphone leuchten. Du willst chatten, whats-appen, twittern. Du willst eins aufs Maul und abgefüllt werden. Du willst, dass deine Festplatte ausgebaut, gelöscht, re-booted wird.
„Vertrauen gut und schön, Kontrolle besser und schöner.“
5. Wir packten die Euro auf den Tresen und erklärten der Wirtschaft dahinter unseren Masterplan: Erst mal ein Jever aus Jever, dann eine Berliner Bulette, zum Schluss einen kurzen Klaren aus Nordhausen. Und das alles, ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen.

6. Sie schrieb: Vertrau mir nicht. Er schrieb: Das hatte ich auch nicht vor. Sie schrieb: Du spinnst wohl, vertrau mir jetzt sofort. Er schrieb nicht mehr. Es klopfte, und sie erschrak, als ein Lichtstrahl durch den Türspalt drang.

7. Noch bevor er dich erreicht, ertrinkt er im Dahlienmeer deines Zimmers. Du stiefelst auf ihm herum, bis er ein einziger Brei ist, Persönlichkeit und alles. Du hast die volle Kontrolle und beseitigst alle Spuren, bis nichts mehr übrig ist als dein Name auf seinem Mund.

8. War es gut oder schlecht, als man von dem Fremden sagte, er sei angeschickerterer als die Schickeria? Und sie aus der Bettenburg, sie mit den Zahnkronen, blauer als jedes Blaublut, rief: Der Cosmopolitan hier ist der beste der Milchstraße!

9. Wir kauften eine blaue Briefmarke in Mauritius. Wir kauften Indianer in Amerika. Du kauftest eine Wiener in Frankfurt, und ich kaufte eine Frankfurter in Wien. Dazu Dijon du weißt schon woher. Und trotz allem blieb es dabei: Mia san mia, alles andere ist Käse.

Die übrigen Übersetzungen in der Reihenfolge des Einsendedatums:

Thies Thiessen:   Einlegearbeit 22 (Elfriede Jelinek, über Lenin)

 1. In Köln kauften wir Echt Kölnisch. In Marokko maroquinisch. In Kaschmir Kaschmir. Dann waren die Koffer voll und wir flogen heim, nach New York City, Manhattan. Mann, hätten wir das bloß nicht bis in den Abend getrunken, uns war übel.

2. „Ich bin ein Anarchist“ sagte der  Dichter. “Du bist verzogen” sagte seine Freundin. Hintereinanderweg paradierten Menschen in Masken vorbei. Es wurde dunkel, und auf einmal erstrahlte der einzig echte Anarchist in der Menge: ein kleines Mädchen mit einer Eiscremewaffel, die in seiner Tasche schmolz. 

3. Die Schönen wollten nur dahin, wo auch andere Schöne waren, in Cafés und Restaurants und Bars, und sie zogen nervöser an ihren Zigaretten, sobald die sichtbar Hässlichen bedrohlich mehr wurden und die kritische Masse zu erreichen schienen.
           
4. Du magst, dass man Dir sagt, was du tun sollst. Du möchtest gefasst sein, in deiner Fassung still glimmen wie ein Nachtlicht. Du magst, wenn man dich hinweist, festmacht, beugt. Du möchtest runtergehalten werden und saufgebaut. Leergelöffelt, überschüsselt, durchgesichtet, das willst Du sein.
“Vertrauen ist gut. Kontrolle ist besser.”
5. Wir gaben unsere Dollars aus und brüteten einen Plan aus für eine allumfassende Wirtschaft: Lasst die Franzosen sich ums Parfum kümmern,  die Holländer um die Tulpen und die Italiener um die Lederschuhe. Für jeden eine Abteilung im Angebot des Großen Warenhauses.
 
6. Sie schrieb: „Ich möchte durchsichtig werden“. Er schrieb: „Aber du bist nun einmal undurchschaubar“. Sie  schrieb: „Die Menschen sollen sich bemühen, dass sie meine (wirklich oberflächige) Oberfläche durchschauen. Er schrieb nichts. Sie wartete, aber er schrieb nichts.

7. Du möchtest von Raum zu Raum gehen, dich in Dahlien versenken, ertränken. Du möchtest in der Menge stehen und implodieren, implodieren, bis alles was du bist, dahinschmilzt. Du möchtest drunter sein und drüber, schwimmen. Aber es erregt dich, deinen Namen zu hören aus eines Unbekannten Mund. 

8. War das gut oder schlecht, als es hieß, der Fremde wäre „französischer als die Franzosen“? Die mit den übergroßen Hüten und der niedrigen Herkunft „spießiger als jeder Spießer?“  Und der in aller Welt Gewandte weltgewandter als die Welt? 

9. In China kauften wir Chinoiserien.  Perser kauften wir in Persien. Du kauftest Türkise in der Türkei, und ich einen Afghanen in Afghanistan. Ich kaufte Indigo in Indien,  und du als Indienfahrer einen Indienfahrer. Aber nirgends haben wir gaben wir von uns auch nur das kleinste bisschen preis.

Alexander Zuckschwerdt:  Intarsie 22 (Lenin, über Elfriede Jelinek)

1. In Köln haben wir Kölnischwasser gekauft. In Marokko haben wir Maroquin gekauft. In Kaschmir haben wir Kaschmir gekauft. Dann, mit vollbeladenen Koffern, sind wir nach New York zurückgeflogen, wo wir bis unvernünftig spät Manhattan um Manhattan tranken.

2. „Ich bin ein Anarchist“, sagte der Dichter. „Du bist verzogen“, sagte seine Freundin. Eine Reihe Menschen in Masken marschierte vorbei. Und dann wurden die Lampen gedimmt, und das Rampenlicht fiel plötzlich auf den wahren Anarchisten in der Menge: ein kleines Mädchen, in dessen Täschchen ein Waffeleis dahinschmolz.

3. Die Schönen wollten nur dort hingehen, wo auch andere Schöne waren, in Cafés und Restaurants und Bars, und zogen nervös an ihren Zigaretten, als die Zahl der Hässlichen, die man an den umstehenden Tischen platzierte, eine kritische Höhe zu erreichen schien.

4. Du magst es, wenn man dir sagt, was du zu tun hast. Du magst es, wenn man dich an deine Dose führt, wo du dann glimmen kannst wie ein Nachtlicht. Du magst es, aufgeklärt, angebunden, unterworfen zu werden. Du magst es, niedergehalten und abgefüllt zu werden. Du magst es, ausgenommen, umgehauen, durchschaut zu werden.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“

5. Wir klaubten unser Geld zusammen und heckten einen grandiosen Plan für die übergreifende Wirtschaft aus: Lasst die Franzosen sich um die Duftwässer kümmern, die Holländer um die Tulpen und die Italiener um die Lederschuhe. Jeder wäre eine Abteilung innerhalb des großen Konsumtempels.

6. Sie schrieb: Ich will durchschaut werden. Er schrieb: Aber du bist so verschlossen. Sie schrieb: Ich will, dass die Menschen etwas dafür tun wollen, meine (wirklich nur oberflächliche) Verschlossenheit zu durchschauen. Er schrieb nichts zurück. Sie wartete, doch er schrieb nichts zurück.

7. Du magst es, von Raum zu Raum zu gehen, in Dahlien zu versinken. Du magst es, in einer Menge zu stehen und zu implodieren und zu implodieren, bis deine gesamte Individualität zusammenschmilzt. Du magst es, untendrunter, obenauf, über Wasser zu sein. Aber du liebst es, deinen Namen aus dem Munde eines Fremden zu hören.

8. War es gut oder schlecht, wenn man von dem Ausländer sagte, er sei „französischer als ein Franzose“? Die mit den großen Hüten und dem bescheidenen Hintergrund war „großbürgerlicher als ein Großbürger“. Und der Kosmopolit war kosmopolitischer als der Kosmos selbst.

9. Wir haben Chili in Chile gekauft. Wir haben einen USB-Stick in Usbekistan gekauft. Du hast Türkis in der Türkei gekauft, und ich habe ein Mosaik in Mosambik gekauft. Ich habe Tsatsiki in Tadschikistan gekauft, und du hast Maronen in Marokko gekauft. Aber nirgends haben wir auch nur ein winziges Stück von uns gelassen.

Karen Braun:                        Intarsie 22 (Elfriede Jelinek, unter Zuhilfenahme von Lenin)

1. In Köln erwarben wir Duftwasser. In Marokko genarbtes Leder. In Kaschmir die zarteste Wolle der Ziegen. Mit berstenden Koffern flogen wir hinterher heim nach New York, tranken dort massenweise Manhattans, unbesonnen, bis tief in die Nacht.
2. „Ich bin Anarchist“, sprach der Dichter. „Du bist ein verzogener Fratz“, sagte seine Freundin. Dann schritt bei gedämpfter Beleuchtung ein Aufzug von Masken vorbei; ein Scheinwerfer holte aus der Menge die einzige echte Gesetzlose ans Licht: ein kleines Mädchen, dem im Rucksack das Eis aus der Waffel schmolz.
3. Die strahlend Schönen strebten stets nur an Orte, wo ihresgleichen sich aufhielt, in Cafés, Restaurants und Bars. Voller Unmut zogen sie an ihren Zigaretten, sobald die Anzahl der Hässlichen das ihnen genehme Maß zu übersteigen drohte.
4. Du liebst Handlungsanweisungen. Du möchtest die Hand spüren, die den Stecker in die Dose schiebt, die Tischlampe sein, das dann leuchtet. Du wirst gerne eingeführt, vorgeführt, abgeführt. Niedergehalten, hochgeputscht. Erschöpft, überwältigt, durchschaut.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“
5. Beim Bezahlen schmiedeten wir den ultimativen Plan für eine übergreifende Ökonomie: Sollen sich die Franzosen um die Düfte kümmern, die Holländer um die Tulpen und die Italiener um die ledernen Schuhe. Für jeden eine Abteilung im großen Kaufhaus des Westens.
6. Sie schrieb: Ich möchte durchschaut werden. Er schrieb: Du bist aber aus Milchglas, absichtlich. Sie schrieb: Ich will, dass man sich Mühe gibt mit meiner Undurchsichtigkeit. Die ist doch bloß im Vordergrund. Er antwortete nicht. Sie wartete, aber er schrieb nicht zurück.
7. Gern gehst du von Zimmer zu Zimmer, ertränkst dich in Dahlien. Stehst inmitten von Menschen, zerbirst und zerspringst in dir, bis alles zerfließt, was dich ausmacht. Bist mit Vorliebe drunter und drüber, im Oberwasser. Doch erregt dich der Klang deines Namens im Mund eines Fremden.
8. War es gut oder schlecht, als man den Ausländer einen „besseren Deutschen“ hieß? Die Dame mit Tellerhut, niedriger Herkunft, war „edler als alle von Adel“. Und der Weltbürger in mehr Welten daheim als das Weltall selbst.
9. Wir kauften Chinarinde in China. Granatäpfel in Granada. Du Türkise in der Türkei, ich einen Perserteppich in Persien. In Indien erstand ich die typische Tusche, du besorgtest das Schiff für die Heimfahrt. An keinem Ort allerdings gaben wir auch nur einen Hauch von uns selbst preis.


Marion Oechsler: Zwischenspiel 22 (Lenin, entdeckt bei Elfriede Jelinek)

1. In Köln kauften wir Kölnisch Wasser. In Marokko kauften wir Maroquin. In Kaschmir kauften wir Kaschmir. Und als unsere Koffer schließlich vollgestopft waren, flogen wir zurück nach New York City, wo wir einen Manhattan nach dem anderen tranken, bis alles zu spät war.

2. „Ich bin Anarchist“, sagte der Dichter. „Du bist verwöhnt“, sagte seine Freundin. Eine Parade von Menschen in Masken zog vorüber. Dann wurden die Lichter gedimmt, und die eine wahre Anarchistin stach plötzlich hell erleuchtet aus der Menge hervor: ein kleines Mädchen mit einem Eis, das in ihrer Tüte vor sich hin schmolz.

3. Die schönen Menschen wollten sich nur an Orten aufhalten, an denen auch andere schöne Menschen waren, in Cafés, Restaurants und Bars. Nervös zogen sie an ihren Zigaretten, sobald sich die Zahl der hässlichen Menschen, die an ihre Tische gewiesen wurden, zu einem Mob auszuwachsen drohte.

4. Du hast es gern, wenn man dir sagt, was du zu tun hast. Wenn man dir zeigt, wo du dich einstöpseln kannst, um wie ein Nachtlämpchen in seiner Steckdose zu glühen. Du lässt dich gern einweihen, aufbuckeln, unterbuttern. Du magst es, dich überrennen und volllaufen zu lassen. Es gefällt dir, wenn du ausgekratzt, umgehauen, durchschaut wirst.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“
5. Während wir unwillig unsere Scheine rausrückten, brüteten wir einen Masterplan für die übergreifende Wirtschaft aus: Sollten sich die Franzosen doch um die Parfums kümmern, die Holländer um die Tulpen und die Italiener um die Lederschuhe. Sie würden dann jeweils einen Verkaufsraum im Kaufhaus im Großen Einkaufszentrum bekommen.

6. Sie schrieb Ich will durchschaut werden. Er schrieb Aber du bist doch absichtlich undurchsichtig. Sie schrieb Ich will, dass die Leute sich anstrengen wollen, meine (zugegebenermaßen ziemlich oberflächliche) Undurchsichtigkeit zu durchschauen. Darauf schrieb er nichts zurück. Sie wartete, aber er schrieb nichts zurück.

7. Es gefällt dir, von einem Zimmer ins nächste zu gehen und dabei in Dahlien zu ertrinken. Du magst es, in einer Menschenmenge zu stehen und zu implodieren, immer weiter, bis der letzte Funke deiner Individualität erlischt. Du bewegst dich gern unterhalb, obenauf, mit dem Strom. Aber du bist hin und weg, wenn du deinen Namen aus dem Mund eines Fremden hörst.

8. War es gut oder schlecht, als sie von dem Ausländer meinten, er sei „französischer als die Franzosen“? Sie mit den riesigen Hüten und ihrer niederen Herkunft war „bürgerlicher als alles Bürgerliche“. Und der Kosmopolit war kosmopolitischer als der Kosmos selbst.

9. Wir kauften Chinos in China. Wir kauften Seetang in Tanger. Du kauftest Türkis in der Türkei, ich kaufte einen Afghanen in Afghanistan. Ich kaufte Indigo in Indien, du kauftest einen Indienfahrer in Indien. Aber nirgends haben wir auch nur einen winzigen Bruchteil unserer selbst abgetreten.

Dusty-Anne Rhodes und Agnes Bethke:  Intarsie 22 (Elfriede Jelinek nach Lenin)

1. In Panama kauften wir Panamas. In Norwegen kauften wir Norweger. In Kaschmir kauften wir Kaschmir.
Mit vollgestopften Koffern flogen wir dann nachhause, zurück nach New York City, wo wir Manhattan auf Manhattan tranken bis unvernünftig spät in die Nacht.

2.  „Ich bin Anarchist“, sagte der Dichter. „Du bist verwöhnt“, sagte seine Freundin. Eine Reihe von Menschen in Masken zog vorbei. Und dann wurden die Lichter gedimmt, und der eine wahre Anarchist wurde plötzlich in der Menge angestrahlt: ein kleines Mädchen mit einem Sandwich-Eis, das in seiner Tasche schmolz.

3. Die schönen Leute wollten nur an Orte gehen, wo andere schöne Leute waren, in Cafés und Restaurants und Bars, und sie zogen nervös an ihren Zigaretten, wenn die Anzahl hässlicher Leute, die an Tische geführt wurden, eine kritische Masse zu erreichen schien.

4. Du magst, wenn man Dir sagt, was Du tun sollst. Du magst, wenn man dich zu deiner Steckdose führt und darin zu glimmen wie ein Schlummerlicht.
Du magst, ins Bild gesetzt, unterworfen zu werden. Du magst, festgehalten und abgefüllt zu werden. Du magst, ausgehöhlt, umgehauen und durchschaut zu werden.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“
5. Während wir unsere Dollars hinblätterten, heckten wir einen grandiosen Plan für die eng verzahnte Wirtschaft aus: Lass die Franzosen sich ums Parfum kümmern, die Holländer um Tulpen, und die Italiener um Lederschuhe. Jeder wäre eine eigene Abteilung im Kaufhaus in der großen Shopping Mall der Welt.

6. Sie schrieb, Ich will durchschaut werden. Er schrieb, Aber du bist gewollt undurchsichtig.
Sie schrieb, Ich will, dass Menschen sich richtig anstrengen wollen,  durch meine (doch recht oberflächliche) Undurchdringlichkeit hindurchzuschauen. Er schrieb nichts zurück. Sie wartete, aber er schrieb nichts zurück.

7. Du magst es, von Raum zu Raum zu gehen und in Edelpelargonien zu ertrinken. Du magst, in einer Menschenmenge zu stehen und zu implodieren und zu implodieren, bis all Deine Einzigartigkeit schmilzt. Du magst es unten drunter, obenauf, im Wasser treibend. Aber es gibt Dir einen Kick, wenn du deinen Namen aus dem Mund eines Fremden hörst.

8. War es gut oder schlecht, als vom Ausländer gesagt wurde, er sei „französischer als die Franzosen“? Sie mit den großen Hüten und den bescheidenen Anfängen war „spießiger als die Spießbürger“. Und der Kosmopolit war kosmopolitischer als der Kosmos selbst.

9. Wir kauften Chinin in ChinaWir kauften Tabak in Tobago. Du kauftest Türkise in der Türkei und ich kaufte einen Perser in Persien. Ich kaufte arabische Gewürze und Du kauftest einen Araber. Aber nirgendwo gaben wir auch nur ein bisschen von uns selbst preis.

Michael Karjalainen-Dräger:  Inlay twenty-two (Elfriede Jelinek via Lenin)

1. In Köln kauften wir Kölnischwasser. In Kaschmir kauften wir Kaschmir. Dann flogen wir mit vollgestopften Koffern heim nach New York City, wo wir einen Manhattan nach dem anderen soffen bis idiotisch lang in die Nacht hinein.

2. „Ich bin ein Anarchist“, sagte der Dichter. „Du bist verdorben“, sagte seine Freundin. Eine Reihe maskierten Volks marschierte vorbei. Und dann wurden die Lichter gedimmt, und die Scheinwerfer fielen auf den einzig wahren Anarchisten im Gedränge: ein kleines Mädchen mit einem Eiscreme-Sandwich, das in ihrer Tasche schmolz.

3. Die Schönen wollten ausschließlich an Orten sein, wo andere Schöne waren, in Cafés und Restaurants und Bars; sie pafften nervös ihre Zigaretten während die Zahl der Hässlichen, die an die Tische geführt wurden, die kritische Masse zu erreichen schien.

4. Du liebst es, wenn man dir sagt, wo’s langgeht. Du liebst es, wenn man deinen Zündschlüssel dreht und dich zum Vorglühen bringt. Du liebst es, wenn man dir Anweisungen gibt, wenn du festgeschnallt wirst und kuschen musst. Du liebst es, wenn man dich klein hält und dir einschenkt. Du liebst es, wenn man dich schlaucht, wenn du sprachlos bist und wenn du durchschaut wirst.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“
 5. Während wir unser Geld beim Fenster hinaus warfen, brüteten wir  einen großartigen Plan für die überbordende Wirtschaft aus: die Franzosen sollen sich um die Parfums kümmern; die Niederländer um die Tulpen; und die Italiener um die Lederschuhe. Für jeden ein Laden an der Great Mall.

6. Sie schrieb, sie wolle durchschaut werden. Er schrieb, sie würde sich mit voller Absicht undurchschaubar geben. Sie schrieb, sie wolle, dass sich Menschen anstrengten, um ihre (wirklich total oberflächliche) Undurchschaubarkeit zu durchschauen. Er schrieb nicht zurück. Sie wartete, er aber schrieb nicht zurück.

7. Du liebst es, wenn du von Raum zu Raum gehst, dich im Duft von Dahlien ertränkst. Du liebst es, wenn du  in der Menge stehst und implodierst und implodierst bis deine ganze Individualität ausgelöscht ist. Du liebst es, wenn du unten-drunter, über-drüber, obenauf bist. Aber es erregt dich, wenn ein Unbekannter auf seinen Lippen deinen Namen trägt.

8. Ist es gut oder schlecht, wenn von Fremden gesagt wird, dass sie „französischer als die Franzosen“ wären? Sie war, mit ihren gigantischen Hüten und ihrer niedrigen Abstammung „bürgerlicher als die Bürger“. Und der Weltbürger war weltbürgerlicher als die Welt selbst.

9. Wir kauften China-Porzellan in China. Wir kauften Tangerinen in Tanger. Du kauftest Türkis in der Türkei und ich kaufte eine Afghan-Decke in Afghanistan. Ich kaufte indische Tinte in Indien, und du kauftest dort einen Indienfahrer. Aber nirgendwo gaben wir auch nur ein kleines bisschen von uns selbst preis.

Jan Imgrund:   Intarsie 22 (Elfriede Jelinek, ursprünglich Lenin)
1. In Köln kauften wir Kölnisch Wasser. In Shiraz kauften wir Shiraz. In Kaschmir kauften wir Kaschmir. Dann flogen wir mit Übergepäck heim nach New York City, und dort tranken wir einen Manhattan nach dem anderen, bis tief in die Nacht.
2. „Ich bin Anarchist“, sagte der Dichter. „Du bist verwöhnt“, sagte seine Freundin. Maskierte Menschen zogen vorbei. Dann dimmte das Licht herunter, und plötzlich richtete sich ein Scheinwerfer auf den einzigen echten Anarchisten in der Menge: es war ein kleines Mädchen, und in ihrer Tasche schmolz ein Eiskonfekt.
3. Die Beautiful People wollten nur in Locations gehen, wo andere Beautiful People waren, Cafés und Restaurants und Bars, und zogen nervös an ihren Zigaretten, wenn der Anteil Ugly People, die man zu ihren Tischen geleitete, eine kritische Masse zu erreichen schien.
4. Dir gefällt, wenn man dir sagt, was du tun sollst. Du gefällt es, wenn man dich zu deinem  Stecker führt, dass du in ihm glühen kannst wie ein Lämpchen. Dir gefällt es, betippt, angeschnallt, unterjocht zu sein. Dir gefällt es, niedergedrückt und eingeflößt zu sein. Dir gefällt es, abgeschöpft, überwältigt, durchschaut zu sein.
„Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist besser.“
5. Unsere Dollars rüberschiebend heckten wir einen Plan für die übergreifende Wirtschaft aus: Die Franzosen kümmern sich um Parfum, die Holländer um die Tulpen, und die Italiener um  die Lederschuhe. Jeder hätte seinen Platz in einer Abteilung im Großen Kaufhaus.
6. Sie schrieb: Ich will durchschaut werden. Er schrieb: aber du bist mit Absicht opak. Sie schrieb: ich möchte, dass die Leute durch meine (eigentlich recht oberflächliche) Undurchsichtigkeit hindurchsehen. Er schrieb nichts zurück. Sie wartete, aber er schrieb nichts zurück.
7. Dir gefällt es, Zimmer über Zimmer zu durchschreiten, in Dahlien ertrinkend. Dir gefällt es,  in einer Menschenmenge zu stehen und zu implodieren und zu implodieren, bis all deine Individualität schmilzt. Dir gefällt es, zuunterst zu sein, zuoberst, zu schwimmen. Aber du bist aufgeregt, wenn ein Fremder deinen Namen in den Mund nimmt.
8. War es gut oder schlecht wenn es hieß, der Ausländer sei „französischer als die Franzosen“? Die Dame aus bescheidenen Verhältnissen, mit den riesigen Hüten, war „bürgerlicher als die Bourgeoisie“. Und der Kosmopolit war kosmopolitischer als der gesamte Kosmos.
9. Wir kauften Hamburger in Hamburg. Wir kauften Mandarinen in der Mandschurei. Du kauftest Türkise in der Türkei, und ich kaufte einen Afghanen in Afghanistan. Ich kaufte ein Englischhorn in England, und du kauftest einen Engländerschlüssel in England. Aber wir gaben nirgends auch nur das kleinste Stück von uns preis.
Martina Tichy:  Donna Stonecipher // Inlay 22 (Elfriede Jelinek, by way of Lenin)

1. In Köln kauften wir Kölnisch Wasser. In Muskat kauften wir Muskat. In Kaschmir kauften wir Kaschmir. Mit randvollen Koffern flogen wir zurück nach New York, wo wir bis unklug spät in die Nacht Manhattan um Manhattan tranken.

2. „Ich bin ein Anarchist“, sagte der Dichter. „Du bist verhätschelt“, sagte seine Freundin. Maskierte zogen im Gänsemarsch vorbei. Dann erloschen die Lichter, und ein Spot zeigte auf die einzig wahre Anarchistin in der Menge: ein kleines Mädchen mit einem dahinschmelzenden Eiscremesandwich in der Tasche.

3. Die Schönen wollten immer nur dorthin, wo noch andere Schöne waren, in Cafés, Restaurants und Bars, und pafften nervös an ihren Zigaretten, wenn die Anzahl der Hässlichen, denen Plätze angewiesen wurden, eine kritische Masse zu erreichen schien.

4. Du lässt dir gern sagen, was du tun sollst. Du lässt dir gern deine Steckdose zuweisen und erglühst darin wie ein Nachtlicht. Du lässt dich gern einweisen, anbinden, unterbuttern. Du lässt dich gern niederhalten und abfüllen. Du lässt dich gern ausschaufeln, umkegeln, durchschauen.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“
5. Wir brachten unsere Dollars unters Volk und brüteten einen grandiosen Plan für die überlappende Wirtschaft aus: Die Franzosen kümmern sich um die Parfüms, die Holländer um die Tulpen und die Italiener um die Lederschuhe. Ein jedes hätte eine Abteilung im Kaufhaus im Großen Einkaufszentrum.

6. Sie schrieb: Ich will durchschaut werden. Er schrieb: Aber du bist doch mit Absicht undurchsichtig. Sie schrieb: Ich will, dass die Leute hart daran arbeiten wollen, meine (nun wirklich reichlich oberflächliche) Undurchsichtigkeit zu durchschauen. Er schrieb nichts zurück. Sie wartete, aber er schrieb nichts zurück.

7. Du gehst gern von Raum zu Raum und ertränkst dich in Dahlien. Du stehst gern in einer Menschenmenge und zerspringst innerlich, bis sich alles auflöst, was dich ausmacht. Du bist gern drunter, drüber, in der Schwebe. Aber du findest es aufregend, wenn ein Fremder dich beim Namen nennt.

8. War es gut oder schlecht, dass es von dem Ausländer hieß, er sei „französischer als die Franzosen“? Die mit den riesigen Hüten und der niederen Herkunft war „gutbürgerlicher als die Gutbürgerlichen.“ Und der Kosmopolit war kosmopolitischer als der Kosmos selbst.

9. Wir kauften Persianer in Persien. Wir kauften Jersey auf Jersey. Du kauftest Türkise in der Türkei, und ich kaufte Sardinen auf Sardinien. Ich kaufte Indigo in Indien, und du kauftest einen Indienfahrer in Indien. Doch nirgendwo gaben wir auch nur das kleinste bisschen von uns preis.

Jenny Merling:    Inlay 22 (Elfriede Jelinek, by way of Lenin)
1. In Köln haben wir uns Kölnisch Wasser gekauft. In Marokko Marokkoleder. In Kaschmir Kaschmirwolle. Dann sind wir mit unseren vollen Koffern zurück nach New York geflogen, haben dort einen Manhattan nach dem anderen getrunken und sind unvernünftig lange aufgeblieben.
2. „Ich bin Anarchist“, sagte der Künstler. „Du bist bloß verwöhnt“, meinte seine Freundin. Menschen mit Masken zogen in einer langen Prozession vorbei. Dann wurde es schummerig im Raum. Und plötzlich leuchtete die einzig wahre Anarchistin inmitten der Menge auf wie von einem Scheinwerfer angestrahlt: ein kleines Mädchen mit einem geschmolzenen Eis am Stiel in der Tasche.
3. Wunderschöne Menschen wollen nur in Cafés und Restaurants und Kneipen sitzen, wo auch alle anderen Menschen wunderschön sind. Fast panisch ziehen sie an ihren Zigaretten, sobald für ihren Geschmack zu viele hässliche Leute an ihnen vorbei zu ihren Tischen geführt werden.

4. Du willst, dass man dir vorschreibt, was du tun sollst. Du willst eine Steckdose zugewiesen bekommen, in die du dich einstöpseln und dann leuchten kannst wie ein Nachtlicht. Du willst wissen, was von dir erwartet wird, willst, dass man dich festschnallt, dich an der kurzen Leine hält. Du willst, dass man dich gegen deinen Willen betrunken macht. Du willst, dass man dich aushöhlt, dich durcheinander kegelt, dich durchschaut.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.”
5. Während wir noch widerwillig für die Fehler der anderen zahlten, hatten wir bereits große Pläne, wie die Wirtschaft zu retten sei: Die Franzosen kennen sich mit Parfum aus, die Holländer haben ihre Tulpen, die Italiener ihre Designerschuhe – also bekommt jede Nation einen eigenen Laden in unserem neuen Einkaufszentrum, das so groß sein wird, dass man es vom Mond aus sehen kann.
6. Sie schrieb: Ich will, dass man mich durchschaut. Er schrieb zurück: Wieso machst du dann immer einen auf undurchschaubar? Sie schrieb: Ich will, dass sich jemand die Mühe macht, meine Undurchschaubarkeit (die ziemlich oberflächlich ist, wenn wir mal ehrlich sind) zu durchschauen. Er schrieb darauf nichts zurück. Sie wartete, aber er schrieb nichts mehr.
7. Du wanderst gern durch die Zimmer und ertrinkst dabei in Dahlien. Du stehst gern in der Menge und zerbrichst, zerbrichst in immer kleinere Teile, bis alles, was dich ausmacht, fort ist. Du gehst den Sachen gern auf den Grund, bist gern oben auf, lässt dich auch gern treiben. Und trotzdem hast du immer noch dieses Kribbeln im Bauch, wenn jemand Fremdes deinen Namen sagt.
8. War das ein Kompliment oder eher ein Vorwurf, als jemand über den Ausländer meinte, er sei „französischer als ein Franzose“? Die Dame aus einfachen Verhältnissen, die mit den großen Hüten, sei „bourgeoiser als bourgeois“? Und der Kosmopolit kosmopolitischer als der Kosmos selbst?
9. Aus China haben wir uns chinesisches Porzellan mitgebracht. Aus der Champagne Champagner. In der Türkei hast du dir türkischen Honig gekauft und ich mir in Afghanistan Schwarzen Afghanen. Aus Indien habe ich Indisch-Blau mit nach Hause gebracht, und du dir einen Ostindienfahrer. Aber im Gegenzug auch von uns selbst etwas dagelassen haben wir nirgendwo.

Samstag, 11. Januar 2014

Nur ganz kurz

Anfang der Woche kam es zu einem wahrscheinlich historischen Ereignis: In Berlin war es mindestens 13 Grad Celsius wärmer als zur gleichen Zeit in New Orleans, wo die arktische Klirrkälte mit 2- C Einzug hielt. Auf Facebook diskutierte man Methoden zur Rettung der Tomatenpflanzen (abdecken, Taschenlampe oder andere Wärmequelle daneben legen), und der traditionell erste Umzug der Mardi-Gras-Saison, die Krewe of Joan of Arc (Jeanne d'Arc), die am 6. Januar in historischen Kostümen durchs French Quarter zieht, musste sich warm anziehen. Heute sind in New Orleans wieder 22 Grad, es gibt King cakes und alles dürfte wieder in Butter sein.
Von den New Orleans Saints (dem Footballteam) heißt es, dass sie bei kaltem Wetter nicht so gut spielen, und trotzdem haben sie letztes Wochenende in Philadelphia gegen die gleichnamigen Eagles knapp gewonnen. Als sie gegen drei Uhr früh am Flughafen in New Orleans eintrafen, standen Fans an der Ausfallstraße Spalier und klatschten und johlten.
Das neue Jahr hat wieder mit einigen Schießereien und Morden begonnen. Auch das wird in der Wahl zum Bürgermeister eine Rolle spielen, die jetzt in die heiße Phase tritt. Es gibt vier Kandidaten: den amtierenden Bürgermeister Mitch Landrieu (Demokrat), den ehemaligen Richter Michael Bagneris (Demokrat; Obama hat zwar Landrieu seine Unterstützung ausgesprochen, aber das lokale Orleans Parish Democratic Executive Committee unterstützt Bagneris); Danatus N. King, Präsident der lokalen Abteilung des NAACP (National Association for the Advancement of Colored People, eine Bürgerrechtsorganisation für Afroamerikaner; King ist auch Demokrat) und Manny "Chevrolet" Bruno (parteilos), der immer wieder zur komischen Unterhaltung kandidiert.
Der erste Wahlgang findet am 1. Februar 2014 statt; die Stichwahl zwischen den beiden übrig gebliebenen Kandidaten ist per Gesetz für den 4. Samstag nach dem ersten Samstag im Februar vorgesehen. Allerdings hat Gouverneur Bobby Jindal schon 2102 für dieses Jahr eine Ausnahme festgelegt, den 15. März 2014, weil die Wahl sonst dem Karneval in die Quere kommen würde (Aschermittwoch, und somit alles vorbei, ist nämlich am 5. März 2014). Nur in New Orleans, oder?

Sonntag, 5. Januar 2014

Treme -- das Ende

Ende Dezember lief die letzte, eine halbe, Staffel der Fernsehserie Treme, die jetzt 38 Monate später wieder einsetzt. Die Serie spielt ja in der Zeit nach Hurrikan Katrina, vor allem in dem historischen kreolischen Viertel Treme gleich neben dem French Quarter, das jetzt hübsch gentrifiziert wird, wie ich bei meinem letzten Besuch beobachten konnte.
Es ist eine Serie, in der die Stadt, New Orleans, die sehr kantige Hauptrolle spielt und die Musik die Ecken wieder glättet. Der Times-Picayune-Filmkritiker Dave Walker stellte sich vor (in diesem Artikel), wie die Filmemacher David Simon und Eric Overmyer (bekannt für The Wire) dem Sender HBO ihr Serienkonzept vorgestellt haben mögen (die Figurennamen in Klammern sind von mir):
-- Eine unserer Hauptfiguren ist ein ruppiger R&B-Musiker, der immer wieder Probleme mit seiner Vaterrolle hat. Er spielt Posaune. (Wendell Pierce als Antoine Batiste)
-- Eine andere Figur ist ein Schwarzer, der sich selbst als Indian(er) bezeichnet und sich für Straßenumzüge als eine Art Las-Vegas-Showgirl verkleidet, zum Beat von afrikanischen Trommeln. In jeder Staffel zeigen wir das in einer Folge. Die übrige Zeit näht er. (Clarke Peters als Albert Lambreaux)
-- Eine weitere Figur ist ein Universitätsprofessor und Schriftsteller mit Schreibblockade, der seine Wut über das Internet herauslässt. Er wird von einem Film. und Fernsehstar gespielt, aber wir lassen ihn gleich nach Mardi Gras sterben. (John Goodman als Creighton Bernette) Seine Frau ist Anwältin und vertritt Leute, die sie nicht bezahlen können. (Melissa Leo als Toni Bernette)
-- Der bestaussehende junge Mann unter den Figuren ist garstig zu Wiederaufbaufreiwilligen und misshandelt die liebe junge Frauenfigur. Er hat auch ein Drogenproblem. (Michiel Huisman als Sonny, Lucia Micarelli als Annie)
-- Wir bringen die Zuschauer dazu, Steve Zahn zu hassen. (als Musikmöchtegernimpressario Davis McAlary)
-- Khandi Alexander verbringt die ganze erste Staffel damit, ihrem Bruder nachzuspüren, der im post-Katrina-Gefängnissystem verschollen ist, das Kafka das Fürchten gelernt hätte. Dann findet sie bei den Emmy Awards keine Beachtung. Die folgenden Staffeln werden noch viel schlimmer für sie.
-- Wir haben eine Köchin, die einen Hubig's Pie aufmotzen und als hohe Kochkunst präsentieren kann... Die meiste Zeit ist sie nicht in der Stadt. (Kim Dickens als Janette Desautel)
-- Wir machen Hunderte von Anspielungen auf Dinge wie Hubig's Pies und Leute wie Dave Bartholomew und erklären sie nicht.
-- Es gibt mehrere tolle Beerdigungen.
-- In den Straßen wird oft wild getanzt, meistens scheinbar ohne Grund.
-- Tolle Musik aus New Orleans wird eine Hauptrolle spielen, aber das meiste davon haben sie noch nie gehört.
Er schließt die Aufzählung mit den Worten: "Es ist ein Wunder, dass die Serie gemacht wurde und so lange lief." 
Nicht alle Figuren sind sympathisch und selbst die sympathischen machen immer wieder die Art Fehler, wo man als Zuschauer zusammenzuckt. Eine der direktesten und besten Figuren für mich ist Antoine Batistes Lebensgefährtin Desiree, gespielt von der Laienschauspielerin Phyllis Montana LeBlanc, die als eine der Interviewpartnerinnen in Spike Lees Dokumentar-Epos When the levees broke auf sich aufmerksam machte.
Mich fasziniert vor allem die Atmosphäre der Serie, die einen förmlich einsaugt, und natürlich New Orleans, das absolut wiederzuerkennen ist. Für das "es richtig treffen" sorgten sicher die mitarbeitenden lokalen Autoren wie Lolis Eric Elie, der sogar noch ein Kochbuch zur Serie herausgebracht hat. 
Die Serie hatte viele Fans und wenige Zuschauer. Manche New Orleanser haben sie nicht gesehen, weil sie Angst hatten, es würde ihnen zu nahe gehen. Doch wenn man die Kommentare liest, hat sie Einheimische und vor allem auch Auswärtige tief berührt. Wie einer schreibt, mehr als Spike-Lees Katrina-Requiem. 
Was Treme so besonders und so wichtig macht, ist, dass es das lebendige New Orleans zeigt, wie und warum die Leute immer noch oder wieder oder überhaupt erst hier wohnen und leben wollen. Schade, dass es vorbei ist. Gut, dass es es gibt (in 36 Folgen).
Mehrere Soundtrack-Alben sind erhältlich und ab Ende Januar gibt es die DVDs (wie es scheint nur auf Englisch und vorerst nur für den amerikanischen Markt).
Vorschauen, Videos, Zusammenfassungen finden sich hier.
In der Times-Picayune werden die Anspielungen und Hintergründe der einzelnen Folgen erklärt, Treme explained.