Mittwoch, 23. Dezember 2015

Weihnachten in New Orleans 1877

Hier eine kleine Meldung über Weihnachten in New Orleans von Lafcadio Hearn. Ich habe es übersetzt.

7. Januar 1878

Heiligabend kam von Westen her mit glühend orangefarbener Pracht, und über dem Sonnenuntergang türmten sich Massen von zitronengelben Wolken. Die ganze Stadt war in orangefarbenes Licht getaucht, kurz bevor die Sonne verschwand, und zwischen den zitronengelben Wolken und dem Blau waren zarte Grüntöne. Wie von Zauberhand nahm das Farbenspiel dieses Sonnenuntergangs die Farben der Obststände überall in der Stadt wieder auf, wo sich die goldenen Früchte zu üppigen Bergen türmten und wo statt der Markisen aus weißer Leinwand jetzt lange Arkadengänge aus Orangenzweigen geflochten waren, an denen immer noch die Früchte glänzten. Es war eine orangene Weihnacht.

Und das Original:
January 7, 1878

Christmas Eve came in with a blaze of orange glory in the West, and masses of lemon-colored clouds piled up above the sunset. The whole city was filled with orange-colored light, just before the sun went down; and between the lemon-hued clouds and the blue were faint tints of green. The colors of that sunset seemed a fairy mockery of the colors of the fruit booths throughout the city; where the golden fruit lay piled up in luxuriant heaps, and where the awnings of white canvas had been replaced by long archways of interwoven orange branches with the fruit still glowing upon them. It was an Orange Christmas.

Merry Christmas and Happy Holidays everyone!

Sonntag, 20. Dezember 2015

Der Axtmann von New Orleans

Das mit dem Axtmörder ist so ein amerikanisches Klischee, mit dem u.a. unbegründete Ängste karikiert werden können. Dabei sind Axtmörder im Land der Schusswaffen im Verhältnis relativ selten. Aber New Orleans hatte tatsächlich einen, der vor etwa 100 Jahren sein Unwesen trieb. Bis heute ist nicht mit völliger Sicherheit aufgeklärt, wer es war. Gefasst wurde er nämlich nicht, sondern er hörte irgendwann einfach auf zu morden, wahrscheinlich weil er selbst ums Leben kam.
Es begann in den Jahren 1911-1912, dann gab es eine längere Pause, womöglich wegen eines Aufenthalts im Staatsgefängnis in Angola oder in einer Irrenanstalt, und dann schlug er in den Jahren 1918-1919 in Serie zu und verdiente sich den Namen Axeman of New Orleans. Betroffen waren hauptsächlich italienischstämmige Lebensmittelhändler, die äußerst brutal niedergemetzelt wurden, vor allem auch deren Frauen; gestohlen wurde nichts. Interessanterweise gibt es einen Brief des Axtmanns vom 13. März 1919, der in der New Orleans Times Picayune veröffentlicht wurde. Der Brief ist ein Meisterwerk an Sprachgewandtheit und Zynismus, in dem er ankündigt, dass er die Stadt in wenigen Tagen wieder heimsuchen würde und nur Häuser, in denen in jener Nacht Jazz gespielt würde, vor ihm in Sicherheit wären.
Genau das ist der Aufhänger des Erstlings des Briten Ray Celestin, in dem der Brief gleich zwei Mal abgedruckt ist. Der Thriller trägt den Titel The Axeman’s Jazz und erschien 2014.
Celestin spinnt eine spannende, ausgeklügelte und äußerst blutrünstige Geschichte, in der er fast nichts Interessantes und Ungewöhnliches an New Orleans auslässt: die Mafia, arme irische Einwanderer, Cajuns, kreolische Plantagenbesitzer, Voodoo, Polizeikorruption, Jazzbeerdigungen, einen Kommissar, der erpressbar ist, weil er mit einer schwarzen Frau verheiratet ist und Familie hat, ein Zitat von Lafcadio Hearn, a lil’ love und – Louis Armstrong. 
In der Sache wird von drei Seiten her ermittelt, wovon natürlich nur die eine Untersuchung durch die Polizei legitimiert ist, doch am Ende deckt jede der drei Parteien ihr Drittel auf, so dass für die Leserin das ganze, sehr komplexe Knäuel an Verwicklungen entwirrt wird, während den jeweils anderen beiden Parteien der Rest verborgen bleibt.
Die erste Ermittlerin ist eigentlich ein Team, bestehend aus Ida Davis, einer sehr jungen, sehr begabten und sehr hellhäutigen Kreolin, die in einer Detektivagentur arbeitet und sich dort langweilt, und ihrem Kindheitsfreund, der früher bei ihrem Vater Trompetenunterricht hatte und ihr jetzt bei den Ermittlungen hilft. Anders als sie ist er schwarz, Jazzmusiker und heißt Lewis (und eben nicht Louis, aber ansonsten stimmen alle biografischen Details überein).
Der zweite Ermittler ist Kommissar Michael Talbot, der in der eigenen Polizeiwache geschnitten wird und sich von Korruption umgeben sieht. Kurzzeitig gesellt sich ihm ein sehr junger, sehr fähiger, frisch eingewanderter Ire als Assistent an die Seite, Kerry, der ein eigenes, hoffnungsvolles Geheimnis hat, aber nach dem Prinzip vieler Hollywoodfilme unverschuldet sterben muss.
Der dritte Ermittler ist Luca D’Andrea, italienischstämmiger Expolizist und Michaels früherer Mentor, der von diesem aber wegen seiner Verbandelungen mit der Mafia überführt und jetzt gerade nach mehreren Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde. Er ermittelt im Auftrag der Mafia.
Alle drei Ermittler decken wichtige Intrigen und Zusammenhänge auf und geraten dabei selbst in Lebensgefahr. Den eigentlichen Axtmörder stellt Luca und unterliegt ihm letztendlich im Zweikampf. Vorher wird ihm aber noch klar, dass es mit seiner erhofften Rückkehr nach Italien wohl nichts werden wird, und er erlebt noch so etwas wie Liebe, einen ruhigen Rückzugsort bei einer Frau, bei der nicht viele Worte nötig sind.
Das Buch ist spannend und beeindruckend konstruiert. Aber es ist doch so brutal, dass ich es nicht vor dem Einschlafen lesen konnte, ohne wild zu träumen. Woher so viele Autoren und Filmleute ihre Lust an der möglichst grausamen Vernichtung von Menschen haben (wie bereits gesagt noch über die eigentlichen, historisch belegten Axtmorde hinaus)? Der laut Internet tatsächlich verdächtigte Joseph Momfre wird übrigens nicht erwähnt.
Vorn im Buch befindet sich eine Karte vom New Orleans der damaligen Zeit, in der die verschiedenen Orte verzeichnet sind. Immer wieder gibt es Jazz, man fährt Straßenbahn, ins French Quarter, nach Gretna, zum Bayou St. John, das damals noch außerhalb der Stadt lag, es fallen viele, viele Straßennamen - und doch bleibt New Orleans irgendwie blass.
Blass bleibt auch die Sprache, aber spannend ist es trotzdem. Ganz nebenbei erfährt man viel über die Geschichte der Stadt zum Ende des Ersten Weltkriegs und am Beginn der Prohibition, über den Aufstieg des Jazz und vor allem auch über verschiedene Einwanderergruppen. Manches wirkt ein bisschen sehr ausgedacht, ein unmenschlicher Cajun als Menschenhändler und Zuhälter in New Orleans? Hmm. Und dann ist da noch der ewige, zermürbende Regen, der das ganze Buch durchzieht und der mir so untypisch vorkam, bis eine Figur eine Bemerkung darüber macht und eine Flut voraussagt. In der Literatur gilt übrigens das Jahr 1919, in dem die Französische Oper in New Orleans abbrannte, als Ende der kreolischen Kultur in New Orleans.
Der Axtmann wurde übrigens gleich nach 1919 zum Thema in Musikstücken und Karikaturen, später auch Comics und anderen Büchern, zuerst 1991 von Autorin Julie Smith, auch unter dem Titel The Axeman's Jazz.
Ray Celestins The Axeman’s Jazz ist schon ins Französische (unter dem Titel Carnaval), ins Spanische und ins Türkische übersetzt worden; von einer anstehenden deutschen Veröffentlichung ist mir bislang nichts bekannt. Kann man lesen, vielleicht sogar während der besinnlichen Weihnachtszeit...

Montag, 7. September 2015

10 Jahre nach Katrina

Wie ein Hurrikan sind die Katrina-Erinnerungsartikel, -filme und andere Beiträge über uns hinweggezogen. Aus der Flut möchte ich zwei Sendungen empfehlen, die mich berührt haben. Auf Arte noch ein paar Tage lang zu sehen ist ein sehr aktueller Dokumentarfilm Only New Orleans, in dem es um damals und heute geht. Es kommen viele Musiker zu Wort, u.a. auch Davis Rogan, das Vorbild für die von Steve Zahn gespielte Rolle des Davis McAlary in der Serie Treme, Irma Thomas, Familienmitglieder der Andrews/Hill-Dynastie, von denen Trombone Shorty vielleicht der bekannteste und kommerziell erfolgreichste ist, und -- wie immer der vollendete Gentleman -- der große Allen Toussaint, der berichtet, dass die Zeit nach Katrina ihm auch Chancen eröffnet hat. Vom Mann hinter den Kulissen, dem Komponisten und Produzenten, hat er sich nämlich zum Performer entwickelt, der auch selbst mit seinen Liedern auftritt. Gezeigt werden übrigens auch Bilder aus der Ninth Ward, u.a. des Make It Right NOLA-Projekts von Brad Pitt, über das ich kürzlich gelesen habe, dass viele der Entwürfe doch nicht gebaut wurden, weil sie zu teuer waren und das erforderliche Geld nicht aufgetrieben werden konnte. Aber das Viertel wiederbelebt und aufgewertet hat das Projekt allemal. Der Film wurde erst in diesem Sommer fertiggestellt. Ich kenne den Ausspruch übrigens als "Only in New Orleans".
Dann habe ich auf NPR noch eine Folge von This American Life gehört, Nr. 565, Lower 9 +10. Darin geht es um die völlig zerstörte und weggeschwemmte Lower Ninth Ward, deren Bilder damals um die Welt gingen. Thematisiert wird, dass die Bewohner sich dagegen verwahrt haben, dass die Reisebusse zum Gaffen durch ihr Viertel fuhren, und es geht um alte und neue Bewohner, z.B. einen Postangestellten, der ein Cafe mit Kopierladen und anderen Dingen eröffnet hat, um das Viertel wieder zu beleben, um das Ringen einer zugezogenen jungen weißen Familie um Akzeptanz, um Anklänge an einen früheren Hurrikan von 1927, bei dem auch ein Viertel geopfert wurde, um die Innenstadt zu retten. Für mich am beeindruckendsten war die letzte kleine Geschichte um einen jungen Mann, der damals 23 war und seitdem versucht hat, seinen besten Freund von damals wiederzufinden, Samuel, von dem er hofft, dass er noch lebt. Wie durch ein Wunder bringen die Radioleute die beiden per Telefon wieder zusammen. Beide sind sehr bewegt, beide hatten gehofft und nacheinander gesucht, und man hört die alte Vertrautheit und Zuneigung in ihren Stimmen. In ihrer Sprache aber hört man auch die Welten, die sich inzwischen zwischen ihnen aufgetan haben. Der eine ist in New Orleans geblieben und klingt wie jemand von der Straße, und der andere lebt nach einer Odyssee in einem anderen Bundesstaat und hört sich sehr erwachsen und gebildet an. Auch das hat also der Hurrikan gemacht. Verlinkt ist auch eine frühere Sendung, die vor zehn Jahren gleich nach dem Unglück aufgenommen und gesendet wurde.

Freitag, 10. Juli 2015

Nicholas Christopher: Tiger Rag

New Orleans/Louisiana ist als Sujet und Schauplatz ein Dauerbrenner. Hier meine Rezension von Tiger Rag von Nicholas Christopher, Übersetzt von Pociao,  DTV 2014.
In dieser Kritik auf Spiegel Online hieß es mehr oder weniger: Ist eben ein Unterhaltungsroman. Außerdem schreibe der Autor sehr leidenschaftlich und verliere so manchmal den Faden. Und er versuche, Musik in Literatur zu übertragen. „Und so ist Tiger Rag als Roman nur zu empfehlen für Menschen, die viel Ahnung von Musik haben - und nicht allzu viel Ahnung von Literatur.“ 

Genau das ist für mich der Widerspruch: Für einen Unterhaltungsroman muss man zu viel mitdenken, und andererseits ist er einfach, na ja, nicht unterhaltend genug. Es gibt nämlich Zeitsprünge, Vor- und Rückblenden, unterschiedliche Schriftarten, zwei parallel laufende Handlungsstränge, die am Schluss etwas gezwungen zusammengeführt werden. Es gibt unglaublich viele Namen und Personen, die schwer auseinanderzuhalten sind. Aber es wird viel Geschichte erzählt und mit der Handlung verwoben, so dass ich mich fast die ganze Zeit gefragt habe, was wohl wahr ist und was fiktiv.
Aber vielleicht mal konkret: Es fängt an in New Orleans, mit Charles Bolden (genannt Buddy oder King Bolden), offenbar unter Jazzmusikern eine wahre Legende, auch weil nichts Konkretes überliefert ist, außer sein Einfluss auf die Musiker, die mit ihm gearbeitet haben oder ihm nachgefolgt sind. Bolden spielte Kornett, war gutaussehend, hatte Stil, liebte viele Frauen – und endete relativ jung in einer Nervenheilanstalt, in der er die restlichen Jahrzehnte seines Lebens verbrachte.
Das Buch öffnet mit einer Aufnahmesession in einem Hotel (das es übrigens nicht gibt). Die Buddy Bolden-Band spielt drei Mal, und alle drei Male werden auf sogenannten Edison-Walzen aufgezeichnet. Alle drei gehen verloren, müssen verloren gehen, denn im Internet steht, dass es keine Aufzeichnungen gibt. D.h. eine bleibt doch übrig, und wo es zuerst um den Verlust der beiden ersten geht, ist der Rest des Buches dem Weg der letzten Walze gewidmet, die immer wieder in vertrauensvolle Hände weitergegeben, aber dann gestohlen wird.
Die zweite Handlung ist die um Ruby Cardillo, eine Anästhesistin Ende vierzig, deren Mann sich gerade scheiden lassen und eine Krankenschwester im Alter seiner Tochter geheiratet hat. Rubys Gegenreaktion: Sie schlägt völlig über die Stränge, schläft und isst nicht, trinkt, ist hyperaktiv und bereitet eine Rede für einen Kongress vor, wo sie den einzigen Vortrag hält. Erzählt wird auch von Rubys unsteter Kindheit, mit einer Mutter, die sich eher um den jeweiligen Mann in ihrem Leben und wenig um ihr Kind gekümmert hat. Dann kommt auch Rubys Tochter Devon ins Spiel, Mitte zwanzig ein gestrauchelte Jazzpianistin, die getrunken, Drogen genommen, gestohlen hat und dafür im Gefängnis war.
Rubys Vater war ein Taugenichts-Möchtegernmusiker namens Valentine Owen, der das Bindeglied zwischen den beiden Handlungssträngen bildet. Außerdem hat Ruby als Jugendliche
in New Orleans bei einer entfernten Tante, Marielle, gelebt, die eines Tages spurlos verschwindet und am Ende als Joan Neptune wieder auftaucht. Sie ist das zweite Bindeglied. Devon, die Tochter, begleitet ihre Mutter auf einer mehrtägigen Autofahrt nach New York, wo beide auch ein paar Tage bleiben. Sie suchen dort einen Musik- und Instrumentensammler auf, der ihnen von der Walze erzählt und die Tochter auf die Suche schicken will. Es gibt noch einige Verwicklungen, aber dann taucht die Walze auf, und Devon wird sie veröffentlichen, über Buddy Bolden schreiben und damit irgendwie wieder ins Leben zurückfinden. Es ist ein Happy End, ganz ohne Liebesgeschichte, eins, bei dem die Frauen einer Familie zueinander und in ihrem Zusammensein Kraft und Heilung finden. 
Leider bleiben die Figuren blutleer, schematisch, durchgehend gut oder schlecht, ohne dass wir ihre Motive nachvollziehen können. Ruby ist ein Klischee einer Geschiedenen, die ihr Leben wieder für sich zurückgewinnen will. Auch Devon, aus deren Sicht einige Teile geschrieben sind, bleibt blass. Aber am schlimmsten fällt Rubys Vater aus, eben jener Valentine Owen, der einfach nur durch und durch mies und mickrig und niedrig ist. Das ist unglaubwürdig, denn, wie ich aus Erfahrung weiß, halten sich auch die schlimmsten Schurken tief innen drin für gut oder wenigstens stark. 
Gelernt habe ich auch so einiges, zum Beispiel über den Unterschied zwischen einem Kornett und einer Trompete (Mundstück, Schalltrichter, Ton, Kornett ist schwerer zu spielen; interessanterweise wurde ja früher mehr Kornett gespielt), wie wichtig das Vorhandensein von Zähnen für das Spielen eines Blasinstruments ist und dass man (wie Leonard Bechet, der Bruder von Sidney) zwar ein guter Zugposaunist sein, aber eben mit den Ventilen nicht klar kommen kann.
New York im dicken Schnee wird sehr plastisch (es ist kurz vor Weihnachten), aber New Orleans besteht nur aus Straßennamen und Orten und wird einfach nicht lebendig. Und die Übersetzung? Übersetzt hat es die legendäre Pociao, die viel und offenbar gut übersetzt, denn welche Übersetzerin hat schon einen Künstlernamen? Hier scheint das Original nicht so sehr viel zu bieten: Ortsnamen und Anspielungen sind brav durchexerziert; nur einmal bin ich aufgeschreckt, nämlich bei dem Wort Eintopf. 

Damit ist vermutlich ein Gumbo gemeint und sollte im Fall von New Orleans unbedingt dort stehen. Als Ruby bei Marielle lebt, wird sie mit Shrimps in zehn verschiedenen Zubereitungen verwöhnt, mit „Okragemüse, Löwenzahnsuppe und Gumbo mit Krebsfleisch“ (S. 110).  Später wird die Reaktion von Kollegen und Kritikern auf Buddy Boldens Musik beschrieben. Dort heißt es: „Archimedes Robinson, ein junger Journalist mit schwülstigem Stil, bezeichnete es [Buddy Boldens Art zu Musizieren] im Parade Magazine als 'Delta-Mischung', einen musikalischen Eintopf, den Bolden als erster aufgetischt habe.“ (S. 173)
In meiner kürzlich in Bücher 4/2015 erschienen
Botschaft aus Babel zum Thema New Orleans Übersetzen (S. 62) habe ich dazu geschrieben:
„Zur legendären Esskultur von New Orleans gehört Gumbo – eine mit dunkler Mehlschwitze angedickte, scharfe Suppe mit Okraschoten, Fleisch und vielen anderen Zutaten. Wie Okra ist auch der Name Gumbo afrikanischen Ursprungs, und es ist so viel mehr als nur ein Gericht: Es steht für den besonderen Schmelztiegel New Orleans, mit seinen afrikanischen, karibischen, französischen und vielen anderen Einflüssen. Eintopf mag die knappste Beschreibung dafür sein, aber das Hybride, das für New Orleans so typisch ist, die ganze Feinheit und Würze in einen so urdeutschen Begriff zu zwängen, das funktioniert irgendwie nicht.“ (Wird vermutlich in Bälde ins Internet gestellt, andere Kolumnen siehe hier.) Der „musikalischene Eintopf“ mag bei uns eingebürgert sein, aber in New Orleans sollte man in jedem Fall einen „Gumbo“ servieren.

Was das Leben von Buddy Bolden und den Jazz angeht, ist das Buch äußerst informativ. Zum gleichen Thema gibt es übrigens noch einen früheren, ebenfalls sehr kompliziert aufgebauten Roman von Michael Ondaatje, Buddy Boldens Blues, übersetzt von Adelheid Dormagen, Hanser Verlag 1995.

Mittwoch, 20. Mai 2015

Familienbands/bande

Um die Jahrtausendwende gab es in Baton Rouge, Louisiana, eine junge Band namens Red Stick Ramblers (red stick, roter Stab oder Stock, ist die wörtliche Übersetzung von baton rouge und ein Spitzname für die Stadt), Collegestudenten der Louisiana State University, die Cajun und Louisiana Traditionals, Western Swing und Anderes spielten, unbekümmert und natürlich und mit einer gekonnt sparsamen Instrumentierung, bei der jedes Instrument Gehör fand (zum Beispiel im "Main Street Blues"). Den Kern der Band bildeten damals die beiden Freunde Linzay Young und Joel Savoy, wobei Linzay der Sänger und Frauenschwarm war und der zurückhaltendere Joel die Fiddel virtuos bediente. (Es gibt von 2009 eine CD nur mit den beiden und hier ein Lied auf Youtube). Joel war damals bei einer Kollegin von mir im Französischkurs und sein kleiner Bruder Wilson Savoy, der irgendwie auch überall mitspielte (vor allem Akkordeon), war ein äußerst talentierter Student in meinem Deutschkurs. Mit in der Band war auch Ricky Rees am Großmutterbass, der jetzt in Austin, Texas, bei den Soul Supporters spielt. Linzay Young führte die Band noch bis 2013 weiter, brachte in der Koch-Reise-Sendung No Reservations Anthony Bourdain echtes Cajun-Essen nahe (siehe auch hier im Blog) und weihte in der Fernsehserie Treme die Geigerin Lucia Micarelli ins Fiddelspielen ein (auch hier im Blog).
Die beiden Savoy-Brüder entstammen einer Cajun-Musikerfamilie und spielen auch heute noch mit ihren Eltern Marc und Ann Savoy in der Savoy Family Cajun Band (in dem Video auf ihrer Webseite mit einer wunderbaren akustischen Version links Wilson und rechts daneben Joel). Das Ehepaar spielt seit 1977 zusammen und immer wieder auch mit dem berühmten Michael Doucet von Beausoleil.
Als ich mir jetzt meine Red Stick Ramblers-CD wieder einmal angehört habe, fing ich auch ein bisschen an zu gugeln. Und siehe da, Wilson Savoy hat eine Band namens Pine Leaf Boys und ist auch Filmemacher. Joel Savoy hat ein Plattenlabel namens Valcour Records und das Aufnahmestudio SavoyFaire. Er ist mit Kelli Jones-Savoy verheiratet, die aus einer Musikerfamilie in North Carolina stammt, und musiziert auch mit ihr, und Linzay Young ist mit Emma verheiratet und spielt jetzt auch gemeinsam mit ihr und ihren Eltern in der Good & Young Band. Die beiden Paare spielen auch zusammen als Double Date, hier ihre Aufnahme von "I’m Tyin’ Up The Blues". Sehr hübsch auch "I’ll Be There". Irgendwie klingt das ziemlich nach Happy End.
Jetzt hier und heute in Berlin habe ich auch eine Lieblingsband, die überhaupt nichts mit Louisiana zu tun hat, ganz andere Musik macht, aber im weitesten Sinne auch eine Familienband ist: Yellow Bird (benannt nach dem gleichnamigen Lied von Harry Belafonte). Zum ersten Mal erlebt habe ich sie bei einem Konzert 2012 in der Kugelbahn im Wedding, das auch ihre kanadische Ein-Mann-Vorband Martin Gallop bei ihrem CD-Release-Konzert im Februar erwähnte. Angefangen hat die Band mit dem Paar Manon Kahle und Uli Kempendorff, sie Amerikanerin aus den Appalachen in Vermont, er Berliner mit einschlägiger USA-Erfahrung. Manon mit glockenklarer Stimme, die auch Ukulele spielt, singt in close harmony mit der samtdunkel klingenden Schweizerin Lucia Cadotsch; es spielen an der Gitarre Ronny Graupe, an verschiedenen Klarinetten Uli Kempendorff und am Schlagzeug Michael Griener. Die Band spielt Americana, Country und Folk mit Spielfreude, Witz und einer klar aus dem Jazz kommenden Haltung, durch die alles irgendwie frisch und zugleich tief und echt klingt und einen Alte-Welt-Touch bekommt. Schön und toll instrumentiert sind sie alle, doch meine Favoriten sind "I Don't Believe You've Met My Baby" und "Hello Stranger". Inzwischen rückt Yellow Bird auch mit neuen, eigenen Liedern heraus, die Tolles für die Zukunft erahnen lassen. Es gibt eine sehr aktuelle Webseite, die eingehendes Surfen verdient, von Manon Kahle gestaltete Videos, und immer wieder Live-Konzerte, zum Beispiel am 5. Juni auf dem Stolze Openair-Festival in Zürich und am 6. Juni auf dem Stadtfest Eberswalde. Vielleicht fliegt ja spätestens dort neuen Fans ein gelbes Vögelchen zu.

Mittwoch, 18. März 2015

Kudzu

Es ist nicht mehr zu übersehen: winzige Kälbchen und Fohlen auf den Weiden, Schneeglöckchen und Krokusse hinterm Haus. Und ein flirrendes zartes Netz aus Vogelgezwitscher liegt in der Luft. Aber als noch nichts darauf hinzudeuten schien und es morgens noch grau und gefroren war, da gab es erst einmal nur eine Farbe: das Gelbgrün an den Stämmen der Eschenahorne. Bei näherer Betrachtung ist es ein trockener Bewuchs, kein Moos, eher wie eine Rinde aus tausenden grünen Blütchen.
Der Eschenahorn, dieser Eindringling aus den USA, war mal wieder der erste!
Auch in Louisiana sind die fremdländischen Invasoren, die sich wegen fehlender Feinde ungehindert ausbreiten können, immer die ersten. Der eine ist Chinese Privet, Chinesischer Liguster, der Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde und die Strauchlandschaft dominiert, einheimische Pflanzen erstickt und die gesamte Pflanzengemeinschaft verändert. Ähnlich sieht es mit dem Chinese Tallow aus, Chinesischer Talgbaum, der u.a. zur Herstellung von Biodiesel dient. Es hält sich immer noch das Gerücht, dass Benjamin Franklin die Pflanze in den Süden der USA eingeführt hat.
Tja, und dann wäre da noch Kudzu aus Japan, dem der National Geographic letztens ein kleines Artikelchen gewidmet hat. Kudzu ist auch als Nahrungsergänzungsmittel erhältlich, es soll beim Raucherentzug helfen und bei Wechseljahrbeschwerden. Das Bundesinstitut für Risikobewertung schreibt: „Es liegen keine Berichte über schädliche Wirkungen des Wurzelpulvers usw. vor.“ Na, wenigstens das.
Kudzu wächst sehr dekorativ, denn es legt sich wie ein romantischer grüner Schleier über alles und verbreitet sich rasant über den gesamten amerikanischen Süden, wie ich selbst im Laufe der Jahre beobachtet habe. Kudzu ist ein bisschen wie der leidenschaftliche Beau: Man könnte es für unendliche Liebe halten, aber eigentlich geht es um Kontrolle; er drückt einem die Luft zum Atmen ab und duldet niemand anderes im Leben der Geliebten. Kudzu hat Wurzeln, die sich bis zu dreieinhalb Meter in den Boden graben und ursprünglich gegen Bodenerosion helfen sollten. Unter dem dichten, schweren Vorhang stirbt alles andere ab und selbst Telefonleitungen zerreißen. Da nützt es auch nichts, dass die Pflanze schön duftet und hübsche Blüten hat. Man experimentiert mit Pilzen, auch Schafe und Ziegen sollen gut sein. Aber eine wirkliche Lösung ist noch nicht in Sicht.
Hier ein Foto aus dem Internet von Galen Parks Smith:

Vielleicht noch zwei Frühlingszeichen:
Der Frühling zwischen Kuba und den USA begann im Dezember mit raschen, aber vorsichtigen Annäherungen. Am Sonnabend, 14. März 2015, fand jetzt seit 1958 der erste Direktflug von New Orleans nach Havanna statt, die beide historisch nicht nur ihre quasi-karibischer Charakter verbindet, sondern auch die gemeinsame koloniale Geschichte unter den Spaniern. Es war vorerst nur ein Charterflug für 80 Geschäftsreisende und zivile Aktivisten, die an einer Cuba Hoy-Konferenz (Kuba heute) teilnehmen wollten. Hier. Ich nehme an, dass es auch einen Rückflug geben wird.
Und: Letzte Woche war die sehr komische Radio-Quizsendung Wait Wait Don’t Tell Me zu Gast im Saenger Theatre in New Orleans, und das war etwas ganz Besonderes. Der Moderator Peter Sagal begann zwar mit einem etwas abgegriffenen Witz, aber eigentlich war alles sehr warmherzig und fröhlich, richtig New Orleans eben, und als dann noch der junge, wirklich begnadete Posaunist Trombone Shorty (*Troy Andrews) bei Not My Job lauter abwegige Instrumente raten sollte (Der Mann ist Musiker! Kein Wortmensch, aber er erzählte von seinen Anfängen als 5-Jähriger mit Band im French Quarter...), da wurde er nach der ersten falschen Antwort von einer riesigen Welle aus Vorsagen und Applaus und Liebe durch den Rest der schwierigen Übung getragen. Der Moderator meinte: „They really love you here.“ They do! Und ich wäre so gern dabei gewesen.

Dienstag, 17. Februar 2015

Verschiedenes


Was wir dieses Jahr schon alles verpasst haben:
1. Den 200. Jahrestag der Schlacht von New Orleans am 8. Januar 1815, die im ein paar Kilometer entfernten Chalmette am Mississippi gefochten wurde. Es war eine der letzten Schlachten des Britisch-Amerikanischen Krieges, des vielleicht ersten Krieges, den die junge USA 1812 angefangen hatte. Auf britischer Seite waren sehr hohe Verluste (2700, gegenüber 71 Amerikanern) zu beklagen, weil die Soldaten in klassischer Gefechtsformation antraten und reihenweise niedergemäht wurden. Nach Ende der Schlacht erfuhren die Kriegsparteien, dass bereits am 24. Dezember 1814 der Friedensvertrag von Gent geschlossen worden war, der erst im Februar 1815 durch die USA ratifiziert wurde. Andrew Jackson war der erfolgreiche Befehlshaber, der schließlich 1829 siebenter Präsident der USA wurde. An ihn erinnert auch die Reiterstatue auf dem Jackson Square, dem früheren Place d’Armes, im French Quarter. Die Originalstatue befindet sich im Lafayette Park in Washington, D.C., unweit des Weißen Hauses, ein weiterer Abguss in Nashville, Tennessee, und schließlich wurde 1987 noch einer für Jacksonville, Florida angefertigt. Jackson ist besonders auch für sein grausames Vorgehen gegen die Indianer bekannt. Eine wichtige Rolle in diesem Krieg spielte auch der Pirat Jean Lafitte, nach dem zum Beispiel ein State Park benannt ist. 
2. Heute ist schon wieder der letzte Tag der Mardi Gras-Saison (der Fat Tuesday), an dem besonders viele Paraden stattfinden, u.a. Rex und Zulu. Vor einigen Wochen hatte jemand auf Facebook ein Heimvideo aus den 1950er Jahren eingestellt, das beim Mardi Gras gefilmt worden war. Ohne Ton sah man Bilder aus dem French Quarter, wo sogar das Publikum aufwändig und phantasievoll verkleidet war. Auch das hat sich sehr geändert, denn heute wird Karneval eher konsumiert. Es gibt die Krewes, die die Gefährte (meist riesige LKW) schmücken und sich selbst maskieren. Die Maskierten werfen von den Wagen Plasteperlenketten, bedruckte Becher, Doubloons (eine Art Münzen) und anderen Tinnef in die Menge, die darum heftig kämpft, und selbst fast nie verkleidet ist. Ein aktuelles Video zeigt die 610 Stompers, die am Sonntag in der ganz und gar männlichen Krewe of Toth-Parade in hellblauen Shorts getanzt haben und nach eigener Erklärung als Männer Freude in die Welt bringen wollen. Gerade in New Orleans ein guter und wichtiger Vorsatz. Während der ganz und gar weiblichen Muses-Parade am Donnerstag kam es am Rande zu einer Auseinandersetzung, bei der zwei junge Männer erschossen wurden. Ein 19-Jähriger war der Täter. Manchmal tanzt beim Mardi Gras sogar die Polizei mit, hier
3. In Louisiana gibt es weitgehend noch eine sehr lebendige Volkskultur, die natürlich vor allem auf dem Lande betrieben wird: Cajun Mardi Gras, Festivals mit Musik, Tanz, Essen und wöchentliche Tanzveranstaltungen, bei denen alles von 8 bis 80 Cajun-Tänze tanzt, immer im Kreis durch den Raum und mit wechselnden Partnern. Man nennt das Fais Do Do, eigentlich ein beschwichtigender Spruch in der Babysprache zum Einschlafen, weil die Frauen ihre kleinen Kinder oft zu den Bällen mitbrachten, die dann dort in einem extra Raum (parc aux petits) schlafen sollten. Das ist die traditionelle Erklärung. Eine andere führt den Begriff auf Dos à Dos, einen Ruf für einen Tanzschritt im Contra Dance zurück. (Hier.) Jetzt gibt es eine Webseite, die an viele, auch heute nicht mehr existierende Dancehalls erinnert, eingerichtet vom Center for Louisiana Studies. Aufgelistet sind dort auch die noch heute geöffneten Dancehalls, davon, und das ist keine Überraschung, die meisten in Lafayette, Eunice, Breaux Bridge, Mamou, wo die Cajun-Tradition noch gepflegt wird. Sehr schön und interessant. 

Sonntag, 4. Januar 2015

Paul Morphy

Wenn ich Leuten erzähle, dass ich in Louisiana gelebt habe, dann fragt manchmal jemand, ob ich Paul Morphy kenne. Das klingt wie ein Geheimtipp, und es schwingt eine tiefe Verehrung mit. Die das fragen, sind die leidenschaftlichen Schachspieler.
Paul Morphy war nämlich so etwas wie der Mozart des Schachs, ein Genie, das alle anderen mit Leichtigkeit und in Windeseile an die Wand spielte, ewigen Ruhm einheimste und viel zu früh aufhörte und starb. Man nannte ihn „The Pride and Sorrow of Chess“ (Stolz und Kummer des Schachs). Er war aus New Orleans, dieser Stadt der Alten in der Neuen Welt oder wo sich die Alte mit der Neuen Welt mischt, und vermutlich hat das etwas damit zu tun.
Morphys Urgroßvater, der Ire Michael Murphy, änderte seinen Namen zu Morphy, als er nach Spanien zog. Sein Vater Alonzo Morphy, aus Charleston, South Carolina, war Anwalt und Richter am Obersten Gerichtshof von Louisiana und verheiratet mit Louise Le Carpentier, der Tochter einer französisch-kreolischen Familie aus New Orleans. Obwohl New Orleans fest in amerikanischer Hand war, als Paul Charles Morphy am 22. Juni 1837 geboren wurde, würde es mich nicht wundern, wenn man in dieser ehrwürdigen, kreolischen Familie auch Französisch gesprochen hätte. Der Louisiana Purchase, als die Amerikaner von den Franzosen das riesige, als Louisiana bezeichnete Territorium kauften, das sich bis nach Montana zog und den westlichen Teil des Mittelwestens einschloss, hatte schon 1803 stattgefunden. Ich glaube, ein Satz aus dem Wikipedia-Eintrag dazu beschreibt das, was folgte, sehr treffend: „Governing the Louisiana Territory was more difficult than acquiring it.“ (Das Territorium Louisiana zu regieren war schwieriger, als es zu erwerben.)
Anders als bei Mozart und der Musik scheint dem kleinen Paul niemand Schach beigebracht zu haben. Er war eben immer dabei, wenn sein Vater und  Onkel Ernest spielten, und sein älterer Bruder und seine Schwester Helena spielten auch. Schon mit 9 galt er als einer der besten Spieler in New Orleans, und 1850, mit 12, besiegte er den ungarischstämmigen Schachmeister Johann Löwenthal, der auf Gastspielreise in der Stadt war. 
Danach widmete sich Morphy in Mobile, Alabama, und an der Universität in New Orleans (jetzt Tulane) vor allem seinem Studium, das er 1857 mit einem Juradiplom abschloss. Da er aber noch minderjährig war, durfte er nicht praktizieren, und so ließ er sich erst einmal nach New York zu einem Amerikanischen Schachkongress einladen, wo er als Schachmeister der USA gefeiert wurde. Dann reiste er nach Europa, zunächst, um gegen den europäischen Meister, den Engländer Howard Staunton, zu spielen. Dazu kam es nicht, und es ist nicht klar, warum. Hatte Staunton Angst sich zu blamieren oder war er wirklich mit seinen Arbeiten zu Shakespeare beschäftigt oder hatte Morphy nicht die Startgebühr für das Spiel bezahlt?
Es war zwar für Morphy ein Dämpfer, aber dafür spielte er gegen alle anderen, darunter Daniel Harrwitz und Adolf Anderssen, und gewann, trotz zwischenzeitlicher Darmgrippe, fast durchgehend. In seinem Buch Paul Morphy - Sein Leben und Schaffen schreibt sein deutscher Biograf Max Lange im Jahr 1894: „Hervorgegangen aus einer spanischen und mütterlicherseits aus einer französischen Familie, aber geworden und entwickelt auf amerikanischem Boden, hat PAUL MORPHY die spanische Anmut und die französische Lebendigkeit in seiner Person mit dem kühlen und praktischen Sinn des amerikanischen Charakters wohl vereinigt. Eine ebenso kräftige wie rasche und feine Spielführung zeichnete alle seine Partien aus, und die Augenzeugen seines Spielens waren ohne Ausnahme des Lobes voll von seiner eleganten persönlichen Haltung wie graziösen Steinführung, von seiner steten Selbstbeherrschung in schwierigsten Lagen und von seiner unerschütterlichen Ruhe bei ihn überraschenden Wendungen.“ Das Buch ist übrigens 2009 neu verlegt worden und enthält viele Notationen der Spiele von Paul Morphy, die für Kenner vermutlich eine Offenbarung sind. Hier, mit Leseproben.
Nachdem er praktisch alle besiegt hatte, die es zu besiegen gab, zog er sich vom Schach zurück. Wieder in New Orleans versuchte Morphy, seine Anwaltspraxis in Gang zu bringen, aber erst kam der Amerikanische Bürgerkrieg dazwischen, und dann wollten seine Klienten mit ihm eigentlich immer nur über Schach reden. Zum Glück war er finanziell abgesichert und konnte in den Tag hinein leben.
Am 10. Juli 1884 starb Paul Morphy in der Badewanne, als er nach einem Spaziergang in der Mittagssonne bei einem eiskalten Bad einen Schlaganfall erlitt. Dem Mythos zufolge soll er schon nicht mehr zurechnungsfähig gewesen sein, aber vielleicht war er auch nur exzentrisch.
Einem Gerücht zufolge soll Morphy vor dem Schlafengehen einen Kreis aus Frauenschuhen um sein Bett gebildet haben (über seine private Seite ist sonst nichts weiter bekannt), aber in einem Text seiner Nichte heißt es, dass er seine eigenen vielen Schuhe in seinem Zimmer in einem Halbkreis angeordnet hätte.
Über sein Spiel wird viel spekuliert. Würde er heute mithalten können? Er hatte relativ wenig Übung, aber vermutlich war es auch gerade seine jugendliche Unbekümmertheit, mit der er seine Gegner verunsicherte und dann besiegte. Eine Kennerin schreibt: „Unlike masters of today, who after the centuries of analysis devoted to chess, look for 'truth' in each game, Morphy, as well as many of his contemporaries, looked for beauty, sometimes foregoing the simplest approach for a more pleasing one, and considered the combination the pinnacle of such beauty.“ (Anders als die heutigen Meister, die nach jahrhundertelangen Analysen der Schachspiele in jedem Spiel nach der „Wahrheit“ suchen, suchte Morphy wie viele seiner Zeitgenossen nach Schönheit, und entschied sich manchmal gegen den einfachsten Zug zugunsten eines gefälligeren, und die Kombination betrachtete er als das Allerschönste überhaupt.) Morphy spielte auch gern Blindschach und Vorgabepartien, bei denen dem schwächeren Gegner ein Vorteil eingeräumt wird, entweder mit Figuren oder Zügen, und wie es scheint, lief er dann zu seiner eigentlichen Form auf.
Morphy spielte Schach, wie es heute nicht mehr gespielt wird. Und doch schreibt der Schachweltmeister Bobby Fischer: "A popularly held theory about Paul Morphy is that if he returned to the chess world today and played our best contemporary players, he would come out the loser. Nothing is further from the truth. In a set match, Morphy would beat anybody alive today ..."
Die Morphys lebten übrigens in mehreren Häusern in New Orleans, die auch heute noch existieren. Eins davon war in der 417 Royal Street, wo sich heute das berühmte Restaurant Brennan’s befindet, ein weiteres an der Ecke der Esplanade und Chartres Street, das 1834 für Henry Raphael Denis gebaut wurde. Nach den Morphys lebte dort ein japanischer Chemiker Jokichi Takamine, der sich nach 1884 in New Orleans mit einem seiner Nachbarn anfreundete, dem Journalisten Lafcadio Hearn, der später in Japan ganz groß rauskam. Gleich um die Ecke, Esplanade und Royal Street, wuchs übrigens der nur 8 Jahre ältere kreolische Komponist Louis Moreau Gottschalk auf.
Morphys Grabmal befindet sich auf dem St. Louis Cemetery Nr. 1.  Weil es so schön die Welten illustriert, die da aufeinandertrafen, habe ich noch ein Foto der Partie zwischen Morphy und Löwenthal aus der Public Domain heruntergeladen.

Die Geschichte von Paul Morphy ist übrigens in dem Roman The Chess Players (1960) von Frances Parkinson Keyes auch literarisch verarbeitet worden. Keyes lebte in New Orleans im French Quarter, 1113 Chartres Street, das heute unter dem Namen Beauregard-Keyes House ein Museum ist und für Paul Morphys Großvater mütterlicherseits gebaut wurde. Aber alles was man wirklich über Morphy wissen muss, findet man in diesem, ja leidenschaftlichen Blog-Eintrag: hier.