Montag, 31. Dezember 2012

Beasts of the Southern Wild


In den letzten arbeitswütigen Tagen habe ich für das Museum of Modern Art übersetzt, dessen Sammlung auch virtuell besucht werden kann, unter diesem Link. Auch aus (oder über) Louisiana finden sich dort Werke, vor allem auch Fotografien aus New Orleans von Henri Cartier-Bresson, Lee Friedlander und Walker Evans und natürlich von E.J.Bellocq, der für seine Fotos aus Storyville Anfang des 20. Jahrhunderts bekannt ist. Etwas Malerei ist auch dabei und – Film, so Robert Flahertys (1884-1955) Dokudrama-Klassiker Louisiana Story von 1948. In diesem Schwarzweißfilm zeigt die Kamera die wilde und exotische, damals noch unberührte, Landschaft Louisianas und die wilden und exotischen Cajuns, die sie bewohnen. Aus ihrer Armut und ihrem autarken Leben werden diese durch die Ankunft der Ölindustrie herausgerissen, die Erkundungsbohrungen durchführt. Natürlich sind die Ölarbeiter alle freundlich und helfen den naiven Cajuns aus ihrem Elend (der Film wurde von Standard Oil gesponsort). Zu sehen ist die aufregende Beziehung zwischen moderner Technik und Fortschritt und dem Naturreichtum der Region, aber es gibt auch einen Moment der Wehmut, denn es ist auch ein Abschied und ein Eintritt in eine neue Welt.
65 Jahre später ist das alles längst Alltag. Vor kurzem hat die BP-Ölkatastrophe weite Teile des Golfs von Mexiko verseucht und die Folgen sind immer noch spürbar. Abgesehen davon verliert Louisiana ständig an Boden, mit jedem Hurrikan noch viel mehr, unter anderem weil die Explorationskanäle der Ölfirmen die Marschen zerstören und das eindringende Salzwasser die rettende Natur (Pflanzen und auch Tiere) auffrisst.
Insofern ist der Film Beasts of the Southern Wild, den Ihr auch alle sehen müsst, eine moderne Fortsetzung der Louisiana Story, denn hier geht es genau darum, dass die Menschen ihre Heimat an das Wasser verlieren und aber partout nicht gehen wollen.. Auch vor Ort mit Laiendarstellern gedreht und ebenso ein gewissermaßen politischer Film, mit einer Aussage, der sich der Zuschauer nicht entziehen kann. Vor allem aber ist ein großer, aufwühlender Film mit packenden Bildern, in dem ein kleines Mädchen namens Hushpuppy ihr Leben in den Kontext ihres Landes, das sie vergessen hat, in den globalen Kontext mit Erderwärmung und aber auch in die Menschheitsgeschichte einordnet.
Das ist für einen Debütfilm (von Benh Zeitlin – sollte man sich merken) ein starkes Stück und gelingt irgendwie auch. Der Film ist experimentell und independent, ohne zynisch oder sarkastisch zu sein, sondern leidenschaftlich und ja, vielleicht auch pathetisch. Das Bild von Louisiana ist nicht authentisch: nein, auch dort wohnen die Menschen nicht in Verschlägen, die nach einem Tobsuchtanfall genauso aussehen wie vorher usw. Aber er baut auch nicht auf Klischees, sondern vielmehr auf kulturelle Praktiken, die man für den hiesigen Zuschauer vielleicht erklären müsste. 
Mein Begleiter, der mich sogar vor langen Jahren in Louisiana besucht hat, empfand den Film zunächst wie eine Glorifizierung der Unterschicht, auch weil in den Untertiteln ein Übersetzungsfehler war (es ging nicht darum, dass man dort mehr frei hat und ergo weniger arbeitet als irgendwo auf der Welt, sondern darum, dass es mehr Feste gibt -- im Hintergrund war ein glanzloser Mardi-Gras-Umzug zu sehen). Die Krebse und Krabben werden natürlich vor dem Verzehr gekocht, in großen Töpfen mit Kartoffeln und Gemüsen und scharfen Gewürzen, und dann auf mit Zeitungen bedeckten Tischen aufgehäuft, man isst mit der Hand und das ist nicht fein. Die ganz Harten saugen auch den Kopf aus. Nach meinem ersten Crawfish boil träumte ich, dass mir Krebse innerhalb meiner Jeans an den Beinen entlangliefen.
Der Schauplatz The Bathtub (Die Badewanne) ist ein erfundener Ort, doch nach Katrina wurde auch New Orleans als „Metropole in Form einer Badewanne, ohne Stöpsel“ bezeichnet. Inspiriert wurde die Geschichte aber auch von der kleinen Insel Isle de Jean Charles in Terrebonne Parish, einem Indianerreservat, das mit jedem Jahr mehr im Wasser versinkt und wo die Einwohner sich trotzdem nicht vertreiben lassen. Hier ein Ausschnitt aus einem aktuellen Dokumentarfilm darüber, Last Stand on the Island
Biester oder Bestien, wie im Titel genannt, gibt es verschiedene. Zunächst wären da die Kreaturen, die immer laut schnaufend durch die Träume der kleinen Hauptfigur Hushpuppy ziehen; ich hielt sie den ganzen Film lang für überdimensionierte Wildschweineber, aber es sollten wohl doch Auerochsen sein. Dann wären da die Tiere, mit und von denen die Menschen dort leben und dann sind sie aber auch selbst irgendwie Tiere, zumindest in den Augen der Behörden, die sie retten wollen. Ein Hinweis darauf ist auch die eine Szene, in der die kleine Hushpuppy versucht, beim Essen eine Krabbe zu zerteilen, und ihr Vater und schließlich auch die anderen Dorfbewohner sie anfeuern, indem sie ihr "Beast it" zubrüllen, (also in etwa: Mach's mit roher Gewalt).
Freunde meinten zu mir, es sei ein Film über den Freiheitsdrang und dem Wunsch nach Autarkie. Für mich ist es aber auch gewissermaßen ein Heimatfilm, der die eigene bedrohte Heimat in einen größeren Kontext stellt und der die Kraft von gewachsenen Beziehungen und Gemeinschaften besingt. Wegen der Bilder sollte man den Film auf einer großen Leinwand sehen und sehr lange läuft er wohl nicht mehr. Für die beiden Hauptdarsteller, die auch in Sundance und in Cannes dabei waren, ist jetzt wieder Normalität eingekehrt. Die winzige Quvenzhané Wallis ist eine kleine Glamourdame geworden und ihr Filmvater Dwight Henry betreibt eine gut gehende Bäckerei in New Orleans. Hier und hier Interviews mit ihnen. 
Im Gambit Weekly wurde der Film zu einem der besten von 2012 gekürt (und für mich ist er das auch). Dort heißt es: New Orleans filmmaker Benh Zeitlin and his ragtag crew made history with a magical and utterly original work of Louisiana art.

Happy New Year allerseits!

Montag, 24. Dezember 2012

Weihnachtsfeuer


Wenn man in diesen Tagen westlich von New Orleans auf der River Road entlangfährt, wird man vor allem in St. James Parish, der früher so genannten German Coast, am Ufer des Mississippi steil aufgeschichtete, tipiförmige Holzkegel sehen. Diese dürfen nicht höher als 18 Fuß oder 6 Meter sein und müssen offiziell angemeldet werden. Am Heiligabend um 19 Uhr werden sie alle gleichzeitig angezündet, mehr als 100 sollen es sein. Der Effekt ist dramatisch und bewegend, eine beinah existentielle Erfahrung. Ein Brauch der Cajuns mit ungeklärten Wurzeln, der sich inzwischen auch als Touristenattraktion herumgesprochen hat.
In diesem Jahr allerdings ist so schlechtes Wetter angesagt (zwar um die 20 Grad, aber Regen, Tornados), dass die Feuer möglicherweise ausfallen oder auf Silvester verschoben werden müssen.
Wo Ihr auch seid: Joyeux Noël und Frohe Weihnachten! (Fotos auch unter "Cajun Bonfire")

Sonntag, 23. Dezember 2012

Das Eine-Million-Dollar-Block-Projekt


Ein Grund, warum ich meinen Beruf so liebe, ist, dass ich unfreiwillig die interessantesten Sachen lerne. Das Museum of Modern Art in New York zum Beispiel, für das ich gerade (ja, leider auch am Sonntag vor Weihnachten) Auszüge aus dem Katalog übersetze, hat die ungewöhnlichsten und aufregendsten Ausstellungsstücke. Dazu gehört auch ein Ausdruck des Eine-Million-Dollar-Block-Projekts des Instituts für Architektur, Planung und Erhaltung (Graduate School of Architecture, Planning and Preservation) der New Yorker Columbia University.
Das Million Dollar Block-Projekt visualisiert Daten des Strafjustizsystems pro „Block“, d.h. pro von Straßen an allen Seiten eingegrenzter Straßenzug. Wenn man nämlich auf diese Weise visualisiert, woher die ca. 2 Millionen Gefängnisinsassen in den USA stammen, dann leuchten einige Viertel knallrot auf. Zugleich sind das die Blocks, in denen der Staat statistisch gesehen mehr als eine Million Dollar ausgibt, um dessen Bürger hinter Gitter zu sperren. Und das ist ausnahmslos immer mehr Geld, als in diesem Viertel in Infrastrukturmaßnahmen und öffentliche Einrichtungen investiert wird. Somit, so die leitende Professorin Laura Kurgan, überlässt man die öffentliche Sicherheit in jenen Vierteln der Justiz, und das funktioniert natürlich nicht.
Der Projektausdruck im MoMA stammt schon von 2006. Seitdem hat das Projekt auch schon etwas bewirkt, zum Beispiel in New Haven, Connecticut, wo ehemalige Häftlinge durch Wiedereingliederungsmaßnahmen eine temporäre Wohnung und eine Berufsausbildung erhalten und damit eine Chance für einen Neuanfang erhalten. 
Im Stadtteil Central City in New Orleans werden sogar 5 Millionen Dollar für das Einsperren der jungen Männer investiert. Mit 316 Morden auf 100.000 Einwohner im Jahr 2007 sind ganze Straßenzüge dort die tödlichsten Gebiete der USA. Im selben Jahr kamen 55 Einwohner ins Gefängnis und 211 brachen die Schule ab. Noch 2009 hatte Central City gehofft, einer der 20 „Promise Neighborhoods“ (Vielversprechenden Kieze) zu werden, die für Bildungs- und andere Programme Geld aus Washington bekommen. Das hat nicht geklappt. Zwar gibt es inzwischen einige andere Projekte, aber noch lange nicht genügend. Dafür gibt es Kirchen, in denen man für einen Job beten kann, und es gibt die Bauunternehmerin Candice McMillian, die sich aus der Armut hochgearbeitet hat und immer noch in Central City lebt, um Jobs gleich den Bedürftigen geben zu können. Und das funktioniert, wie sie erzählt. Hier
Veröffentlicht hat das Million Dollar Block-Projekt seine Ergebnisse übrigens in einer Broschüre mit dem Titel Architecture and Justice. Ich überlege noch, was hier die richtige Übersetzung ist: Architektur und Justiz oder Architektur und Gerechtigkeit... ? 

Samstag, 22. Dezember 2012

Chanukka-Bounce

Als ich vor Jahren in Israel war, fiel Chanukka genau um Weihnachten, so dass ich den Heiligabend auf einer Chanukka-Party verbringen konnte. Dieses Jahr war Chanukka schon vom 8. bis 16. Dezember. Es ist das Fest, bei dem an acht aufeinander folgenden Tagen jeweils eine Kerze angezündet wird, bis alle acht brennen. Dieses Lichterfest erinnert daran, dass bei der Wiedereinweihung des zweiten Tempels in Jerusalem das Öl nur für einen Tag ausreichte und dann wunderbarerweise doch acht Tage brannte. Man isst Latkes (Kartoffelpuffer) und die Kinder spielen mit dem kleinen Dreidel (Kreisel), der auf seinen vier Seiten je ein hebräisches Schriftzeichen hat.
Vor dem Brandenburger Tor leuchtet um diese Zeit immer eine Menorah, von der chassidischen jüdischen Vereinigung Chabad Lubawitsch aufgestellt. Das erste Mal über die Chabad Lubawitsch gehört habe ich vor langer Zeit auf dem Campus der Tulane University, wo sie zum Laubhüttenfest (Sukkot) im September eine kleine Laubhütte aufgestellt hatten. Dort erzählten sie mir, dass sie sich gerade auch in Berlin niedergelassen hätten.
Im Bevölkerungsmix von New Orleans sind die Juden eine bedeutende Gruppe. Die Stadt beherbergt die älteste Gemeinde des Südens der USA; das Touro-Hospital, das JCC (Jüdische Gemeindezentrum) sind wichtige Institutionen: ein kleiner Friedhof steht mitten in Uptown und daneben seit 1922 Langenstein's Supermarket. Durch Katrina sind viele Juden weggezogen, so auch die jüdischen Mitglieder der New Orleans Klezmer All-Stars, die Klezmer sozusagen mit Jazz versetzten und sich dazu schwarze Musiker aus Jazz- und Funkkapellen an Bord holten. 
Die transgender Bounce-Musikerin Katey Red hat den Spieß jetzt sozusagen umgedreht und zu Chanukka einen "Dreidel-Song" aufgenommen. Bounce ist die schnelle, aggressive, sexuell aufgeladene Form des Hiphop, die für New Orleans seit Jahrzehnten typisch ist und sich aber darüber hinaus wohl kaum verbreitet hat. Laut Internet sollen die Ruf-und-Antwort-Tradition und auch Gesänge der Mardi Gras Indians darin eingeflossen sein. Neben Katey Red sind auch Big Freedia und andere Künstlerinnen transgender (was für den Hiphop mit seinem Machismus doch selten ist); die tatsächlich weibliche Künstlerin Magnolia Shorty wurde 2010 erschossen. Bewundernswert ist beim Bounce das typische schnelle Hinternschütteln der Frauen. Dabei, habe ich gelesen, kommt es gar nicht so sehr auf den Hintern selbst an, sondern viel mehr auf die Knie und die Beine. Hier also Katey Red mit dem Dreidel-Song (gerade noch so jugendfrei). Hier das Original.
Only in New Orleans... 

Donnerstag, 20. Dezember 2012

Geschenktipps


Kurz vor Weihnachten auch vor mir ein paar Geschenktipps, zum Verschenken, aber vielleicht auch zum Beschenkenlassen. Bücher, Filme, CDs.

Essays für jung gebliebene, an amerikanischer Kultur Interessierte und solche, die wissen wollen, was genau amerikanische Kultur ist:
John Jeremiah Sullivan: Pulphead. Übersetzt von Thomas Pletzinger und Kirsten Riesselmann. Suhrkamp. Meine Rezension --> hier.

Klassiker für jeden Haushalt (wer Madame Bovary oder Effi Briest im Regal hat, sollte dieses Buch unbedingt dazu stellen, wo es mit seinem roten Einband toll zur Geltung kommen wird):
Kate Chopin: Das Erwachen. Übersetzt von Barbara Becker et. al. Überarbeitet von Karen Nölle und Christine Gräbe. Edition Fünf. Meine Rezension --> hier.

Urkomische Vignetten des Alltags aus dem New Orleans der 90er und 2000er Jahre (auf Englisch):
Andrei Codrescu: New Orleans, Mon Amour. Algonquin Press.

Romantischer, rasanter Krimi aus den Achtzigern:
The Big Easy. New Orleans in den Achtzigern und eine Liebesbeziehung, wo die Frau (Ellen Barkin) eher unkonventionell und rätselhaft schön ist und der Körper des jungen Dennis Quaid von der Kamera gefeiert wird.

Biografie und Zeitgeschichte in einem (auf Englisch):
Alice Kessler-Harris: A Difficult Woman. Bloombury Press. Meine Rezension --> hier.

Musik für Kinder, zum Tanzen, Rumalbern, auf dem Teppich herumliegen und genießen:
New Orleans Playground (Putumayo). Zusammenstellung von New-Orleans-Klassikern, die auch Kinder gern hören.

Sprachwitziger Krimi:
Sara Gran: Die Stadt der Toten. Übersetzt von Eva Bonné. Droemer. Meine Rezension --> hier.

Spannung für Seitenfresser:
Stephen King: Der Anschlag. Übersetzt von Wulf Bergner. Heyne. Meine Rezension --> hier.

Katrina-Dokumentarroman:
Dave Eggers: Zeitoun. Übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch. Meine Rezension --> hier.

Spröder, witziger New-Orleans-Klassiker:
John Kennedy Toole: Die Verschwörung der Idioten. Übersetzt von Alex Capus. Klett-Cotta. Meine Rezension --> hier.

Kleine Geschichte der freien Schwarzen und damit einer Besonderheit der Stadt (auf Englisch):
Mary Gehman: The Free People of Color of New Orleans. Margaret Media.

Großer amerikanischer Weihnachtsfilmklassiker, den ich diese Woche mit meinen Studenten vier Mal gesehen habe und immer noch mag:
It's a Wonderful Life. (Ist das Leben nicht wundervoll?) mit James Stewart.

Und hier noch ein Buch, das ich mir wünsche:
Richard Sexton, Randy Harelson, Brian Costello: New Roads and Old Rivers. LSU Press.
Prachtvoller Bildband über den historischen und malerischen Landkreis Point Coupee westlich des Mississippi, 1-2 Stunden nördlich von New Orleans. Bei der Lesung im September kam ich mit den Autoren ins Gespräch, während andere Besucher meist fünf oder mehr signierte Bücher mit nach Hause nahmen. Kostet 45 Dollar.

Sonntag, 16. Dezember 2012

John Jeremiah Sullivan: Pulphead


Im deutschen Feuilleton wird John Jeremiah Sullivan als neuer amerikanischer Starautor gefeiert. Dabei ist Pulphead erst sein zweites Buch und sein erstes, Blood Horses. Notes of a Sportswriter’s Son, war zwar auch in den USA ein Erfolg, ist aber auf Deutsch noch nicht erschienen. Sullivans Texte entstammen Magazinen wie dem Gentlemen Quarterly, Harper’s und dem Oxford American und sind für den Band noch einmal intensiv überarbeitet worden. Besonders in ihrem Zusammenwirken eröffnen die Essays dem deutschen Leser ein interessantes, unbekanntes, komplexes Panorama amerikanischer Kultur. 
Der Autor schreibt gewissermaßen vom Rande her, nicht von den geografischen Rändern, der Ost- und der Westküste, die das eigentliche Zentrum der USA darstellen, sondern vom Inland, aus der Provinz, tief aus dem Herzen Amerikas, aus dem alten Süden. Sullivan ist in dem Dreieck von Indiana (na gut, Mittelwesten), Kentucky und Tennessee aufgewachsen, wo er an der University of the South in Sewanee studierte. Jetzt lebt er in Wilmington, North Carolina, und somit doch an der Küste. Wenn man von New Orleans aus guckt, ist das mit dem Süden natürlich so eine Sache, denn zwar gehört Kentucky, woher die alteingesessene, verzweigte, tief verwurzelte Familie Sullivans seit langer Zeit stammt, historisch und politisch auch zum Süden, aber es ist sozusagen geografisch gesehen der Norden des Südens, mit einer Ehrwürdigkeit und Traditionalität, die in Südlouisiana immer mit Fluidität und Hybridität, dem Kreolischen also, einhergeht.
Sullivans Texte sind eine Mischung aus Reportage, Essay und Artikel, versetzt mit autobiografischem Erleben. Das „Ich“-Sagen trauten sich Autoren hierzulande nicht, habe ich in einer Kritik gelesen. Aber vielmehr verarbeitet er doch das Persönliche kunstvoll und mit einem gewissen Lehrmodus zu einer größeren Aussage (statt beispielsweise fiktional) und das ist das Besondere, denn „Ich“ sagen auch unzählige deutsche Zeitgeist-Kolumnen. Die Themenwahl ist ungewöhnlich: Popmusik, Naturgeschichte, Fernsehen, Literatur... und alle werden mit demselben geschliffenen Stil beschrieben, der Beitrag über den letzten der Wailers ebenso wie der über den Naturforscher Rafinesque aus dem 19. Jahrhundert.
Als Übersetzerin habe ich das Deutsche natürlich besonders aufmerksam gelesen und meine seitenlangen Notizen in eine knappe Übersetzungskritik (meine Kolumne Botschaft aus Babel) für die Ausgabe 2/2012 der Zeitschrift Bücher kondensiert, aber einiges will ich hier noch ergänzen. Sullivans Essays basieren auf persönlichem Erleben und auf Recherche, und somit einer sinnlichen Anschaulichkeit, die dem Übersetzer natürlich fehlt, der üblicherweise auch nicht mit dem spezifischen Erfahrungsgemenge aus Christlichem Rock, Botanik, Fernsehserien usw. ausgestattet ist. Deshalb waren am Deutschen vielleicht so viele beteiligt: Übersetzt haben Thomas Pletzinger und Kirsten Riesselmann unter teilweiser Mitarbeit von Tobias Schnettler; lektoriert haben Heinrich Geiselberger und Karsten Kredel. Die Übersetzung ist gut, hat tolle Lösungen gefunden (von denen ich einige in dem Bücher-Artikel nenne), und ich habe so einiges gelernt.
Und doch scheint sich die deutsche Ausgabe eher an Leser einer bestimmten Altersgruppe zu richten, vermutlich die der Lektoren und Übersetzer selbst: Mittdreißiger, gebildet, mit den USA durchaus vertraut. Das ist schade und im Englischen nicht so eindeutig. Gut, für den Titel Pulphead* wäre mir auch nichts eingefallen. Doch das Deutsche klingt immer wieder flapsiger, umgangssprachlicher, auch vulgärer als das Original, das höchstens durch die Themenwahl eine gewisse Vorauswahl trifft. Auch die Reihenfolge der Essays ist verändert worden. Während die britische Version der amerikanischen Abfolge folgt (die mir am schlüssigsten erscheint) und am Ende noch "Hey Mickey!" (den Disney-World-Text) als Epilog mit hineinbringt, nimmt das Deutsche diesen in die Mitte mit hinein, bringt Axl Rose weiter vorn und ordnet anderweitig um, auch womöglich in dem Bestreben, ein jüngeres Publikum zu erreichen. Dabei hat gerade der Axl-Rose-Artikel mir zum Beispiel den weiteren Einstieg in den Band schwergemacht.
Interessant ist auch die Gestaltung des Buches. Im Amerikanischen in gediegenen Tarnuniformfarben, mit vagen, lichtdurchfluteten Bäumen im Hintergrund und einem hängenden Schildchen mit einer Wolfszeichnung drauf. Die britische Aufgabe ist knallorange, mit rot-weißer, geometrischer Schrift, das Deutsche von der Form her ganz ähnlich, aber in Blau-Rot-Weiß, also poppiger.
Der Untertitel Dispatches (Depeschen) from the other side of America bzw. Notes from..., also von der anderen Seite Amerikas, wird im Deutschen Vom Ende Amerikas, eine Wertung, die erstens das Original nicht vornimmt, wie übrigens auch der „heruntergekommene Süden“  im Klappentext, zweitens wie der Spiegel schreibt, nach typisch „old Europe“ klingt, drittens nach dem latenten Antiamerikanismus, der in deutschen Medien so präsent ist.
Über Rafinesque heißt es an einer Stelle, er habe sich die leichte Ungenauigkeit seines ausländischen Tonfalls zunutze gemacht „und fand wirkungsvolle Bilder, auf die Muttersprachler nicht gekommen wären“. Ähnlich schafft ja auch die Übersetzung manchmal fast ungewollt schöne, literarische Effekte. Mir hat zum Beispiel diese Passage gefallen, unter anderem wegen der schönen Umlauthäufung im Deutschen, die auch fürs Auge ein kleines Fest ist. Es geht um Audubon und Rafinesque:

Er führte ihn zur Schnepfenjagd in ein kilometertiefes Schilfdickicht, wo es dunkel und stürmisch wurde, wo sie von einem Jungbären gestreift wurden, das Schilf in der drückenden Schwüle wie Gewehrschüsse knallte und wo „sich verwelkte, am Röhricht hängende Blatt- und Rindenpartikel an unsere Kleidung hefteten“ (S. 395).

Aufmerksam gemacht hat man mich auf das Buch wegen des „NOLA content“ (New Orleans, Louisiana, -Inhalt), wie es in der Adresszeile hieß. Das stimmt in dem Sinne nicht. Natürlich taucht der Name New Orleans immer wieder auf, denn Künstler des Südens, und Musiker erst recht, kommen um die Stadt nicht herum. Es gibt auch einen kurzen, impressionistischen Essay über die Situation kurz nach Katrina, aber der spielt an der Golfküste in Mississippi, die den Hurrikan direkt mit der Breitseite abbekommen hat und zum Teil einfach unauffindbar weggeschwemmt wurde (ich jedenfalls habe einige vertraute Häuser nicht wieder finden können, nicht einmal die Stelle, an der sie standen). Das war furchtbar und Sullivan schreibt einfühlsam über den Überlebungswillen, den Erfindergeist und auch die Demut der Katrinaopfer in einer Notunterkunft. (Mit diesen Worten versuche ich hier das schöne Wort „resilience“ zu erklären, das in einem Trailer für den lang erwarteten Film Beasts of the Southern Wild mit „Sturheit“ übersetzt wird.) 
Der Essay endet mit der ausführlichen Schilderung eines Zwischenfalls auf der Rückfahrt, beim Anstehen nach Benzin, als man Sullivan beschuldigte, sich vorgedrängelt zu haben. Im Kontrast zu der Solidarität der wirklichen Opfer untereinander, die alles verloren haben, zeigt sich hier, wo die Amerikaner, die vielleicht gar nicht direkt von der Katastrophe betroffen waren, wirklich fuchtig werden: wenn das Benzin knapp ist.
Kurzum: Sullivan analysiert, beschreibt, schildert schonungslos, auch mit Witz, sein Land und dessen Realität, ohne es jedoch zu denunzieren. Und deshalb kann man dieses Buch gern jemandem unterm Baum bescheren.

* Zur Bedeutung: „Pulpheads sind fanatische Anhänger von „pulp fiction“, d.h. nicht dem Quentin-Tarantino-Film der 1990er Jahre, sondern des Genres. Eigentlich bedeutet „pulp“ auch Fruchtfleisch oder eben die Pulpe, der Brei bei der Papierherstellung. Diese Art reißerischen Groschenromane wurden auf unfertigem, stark holzhaltigem Papier gedruckt, Raymond Chandlers Romane zum Beispiel. Bei „pulphead“ schwingt für mich auch eine gewisse Selbstironie mit, als ob der Konsum solcher Literatur, oder wie bei Sullivan solcher Kultur, das Gehirn ein wenig aufgeweicht hätte. 

Dienstag, 11. Dezember 2012

Ich und Janis Joplin

1977 bekamen wir unseren STERN-Rekorder, ein schweres, aber tragbares Gerät mit hölzernem Holzfurniergehäuse. Er hat uns viele Jahre lang gute Dienste getan und eröffnete uns die Welt der Pop- und Rockmusik. Man konnte Hits aus dem Westradio (SFBeat) aufnehmen, meist ohne Anfang, oder manchmal auch bei den Armeesendern AFN und BFBS. Bei Duett - Musik für den Rekorder im Berliner Rundfunk konnte man ganze (West-)Schallplatten aufnehmen, sorgsam vorher angesagt, oder man hatte Freunde, die einem Platten überspielten, die sie von ihren Westverwandten bekommen hatten. Am Anfang bin ich beim Aufnehmen auf Zehenspitzen herumgetappt, und bis heute sind moderne Tonträger ein großes Wunder für mich. 
Dann gab es noch das Problem der Texte. Selten konnte man sie von den Originalplatten abschreiben, oder jemand, der auch Gitarre spielte, hatte sie von irgendwo mit Griffen. Meistens war es die klassische Methode, vor- und zurückspulen, aufschreiben, im winzigen Wörterbuch meiner Eltern nachschlagen, und nicht immer passte es. Trotzdem eine gute Art, Englisch zu lernen.
Auf diese Weise wurde ich also ein zaghafter Ost-Hippie mit schlapprigen Klamotten und Gedanken für die Sorgen und Probleme dieser Welt. Ich wurde Janis-Joplin-Fan, lange nachdem sie tot war, und die Beatles entdeckte ich erst so richtig nach John Lennons Tod 1980.
Gestern Abend habe ich mir im Internet zwei kurze Sendungen des ZDF angesehen. Die eine, History, befasste sich mit jung gestorbenen Kultkünstlern, darunter auch Janis Joplin (1943-1970). Auf Wikipedia las ich dann, dass sie aus Texas stammte und in Louisiana gearbeitet hat, bevor sie ihre Karriere startete. Und so sang ich "Me and Bobby McGee" vor mich hin... und verstand einige Worte zum ersten Mal . Bei "I took my harpoon out of my dirty red bandanna" habe ich mich zum Beispiel immer gefragt, wie sie ihre Mundharmonika aus ihrem Stirnband nehmen konnte. Aber natürlich kann ein Bandanna fast alles, das Haar zurückhalten, Halstuch sein, Taschentuch oder man kann eben seine Mundharmonika darin einwickeln. "Busted flat in Baton Rouge" hatte man mir damals gesagt, hieße "abgebrannt", und irgendwo stimmt das sicher auch, aber vor allem höre ich darin auch den "busted flat" (tire), also einen geplatzten Reifen, einen Platten. Und offenbar gab es in Baton Rouge  Ende der 60er/Anfang der 70er noch einen Bahnhof. Die hohen Gleise durchziehen zwar immer noch die ganze Stadt, aber der historische Bahnhof ist jetzt ein Kunst- und Wissenschaftsmuseum. Hier die erste Strophe:
Busted flat in Baton Rouge,
Waiting for the train, 
Feeling nearly as faded as my jeans.
Bobby thumbed a Diesel down,
Just before it rained,
Took us all the way to New Orleans.
Die Sendung über die Beatles zeigte sie vor allem als Tourband: die schreckliche Kreischkulisse, die überall ihre Musik übertönte, die Nachstellungen der Fans, die dilettantisch-gefährliche Durchführung der Tourneen, drei Mal auch in den USA. Spielort Nr. 16 der zweiten Tour war New Orleans, wo sie am 16. September 1964 im City Park Stadium vor 12000 Fans spielten, 200 davon brachen vor Aufregung und Erschöpfung zusammen. 
In New Orleans waren sie keine 24 Stunden und haben wahrscheinlich keinen guten Eindruck bekommen. Der Hubschrauber, der sie vom Flughafen abholen sollte, hatte einen Platten. Während des Konzerts brachen Fans durch die Absperrungen und rannten auf das Spielfeld. Ein Fan gelangte sogar hinter die Bühne ganz nah an Ringo Starr heran. Untergebracht waren sie in einem Motel am Chef Menteur Highway, auch belagert von den Fans. Nach ihrer Abreise wurde, wie in den anderen Städten auch, ihre Bettwäsche in Stücke geschnitten und als Souvenir verscherbelt, und nicht nur das, sondern auch die Mikrofonkabel und Mikrofone. Es gab das Gerücht, das Konzert in New Orleans wäre finanziell ein Reinfall gewesen. Der Veranstalter hat das aber dementiert, noch dazu hatte er sich  die Regenversicherung gespart, und tatsächlich sammelten sich zwar die Wolken, aber erst nach dem Konzert fing es an, heftig zu gewittern. 
Ein paar nette Begegnungen hatten sie aber doch: Der damalige Bürgermeister Victor Schiro hatte den Tag zum Beatles Day erklärt und überreichte ihnen einen Schlüssel für die Stadt. Ihr Idol Fats Domino besuchte sie vor dem Konzert kurz in der Garderobe. Paul McCartney meinte: "Er trug eine sehr große sternförmige Diamantuhr, die uns sehr beeindruckt hat." Artikel hier und hier und ein Foto mit Fats Domino, auf dem sogar die Sternenuhr zu erkennen ist.

Mittwoch, 5. Dezember 2012

Rafinesque in Louisiana?


John Jeremiah Sullivans Essayband Pulphead (Rezension demnächst an dieser Stelle) enthält einen Essay über den Naturforscher Constantine Rafinesque, der Anfang des 19. Jahrhunderts vor allem auch in Kentucky unterwegs war. Er war Franzose, brillant, schillernd, schrullig, aber waren sie das nicht alle (Humboldt zum Beispiel?)? Er reiste umher und bestimmte Pflanzen, beschrieb Indianersprachen und rituelle Hügel und traf mit dem berühmten Vogelzeichner John James Audubon zusammen, mit dem er auf Französisch parlieren konnte.
Audubon war in Louisiana, aber Rafinesque? Das hat mich interessiert, und so habe ich wieder einmal meine heiß geliebte Staatsbibliothek Unter den Linden bemüht, die allerdings ab dieser Woche für drei Monate geschlossen wird. Gefunden habe ich Florula Ludoviciana or A Flora of the State of Louisiana translated, revised and improved from the French of C. C. Robin by C. S. Rafinesque (übersetzt, bearbeitet und verbessert aus dem Französischen), New York, Published by C. Wiley + Co., No.3 Wall Street, 1817, Price One Dollar. Rätselhafterweise steht auf dem Titelblatt auch dieser Satz: Quand les matériaux sont imparfaits, l’édifice ne peut pas être complet (Wenn das Material unvollkommen ist, kann das Gebäude nicht vollständig sein).
C. C. Robin, den die Staatsbibliothek als Charles Robin bezeichnet, der laut Internet um jene Zeit in Kanada verbürgt ist, war also 1802-06 in Louisiana, Westflorida und den Westindischen Inseln unterwegs und beschrieb wohl etwas laienhaft Pflanzen, die Rafinesque umklassifiziert und systematisiert hat. Dabei war er begeistert von den 196 Arten, die Robin neu entdeckt hat, und vermutet, dass Louisiana, wenn es schon in Georgia so viele gibt, eine Fülle von unbekannten Pflanzen bergen muss, die es sicherlich zum Teil mit Mexiko gemeinsam hat.
Am Ende des Buches bietet Rafinesque andere seiner Schriften zum Tausch an und spricht diese Einladung aus: "Sollte jemand ihm ein Präparat aus Louisiana oder von anderswo schicken, wird er sich im Gegenzug mit dessen Namen oder Pflanzen aus dem Norden erkenntlich zeigen. Er lädt in Louisiana und den westlichen Staaten residierende Herren dazu ein, alles zu sammeln, dem sie begegnen, es zwischen Blättern rauen Papiers zu trocken: Sollten sie nur oberflächlich mit der Botanik vertraut sein, können sie Duplikate ihrer Präparate senden und auf diese Weise unmittelbar bestimmen, was in ihrer Umgebung wächst und viele Entdeckungen machen. Solche Präparate, oder Päckchen und Briefe jeglicher Art, müssen mit Privattransport befördert werden und können in New York, im Büro des American Monthly Magazine in der Wall-street, abgegeben werden."
Ob's geklappt hat? 

(Should any one send him specimens of plants from Louisiana or elsewhere, he will furnish in return their proper names or northern plants in exchange. He invites gentlemen residing in Louisiana and the western states, to collect every thing they meet, drying the specimens between sheets of coarse paper: should they only be superficially acquainted with Botany, by sending duplicates of their specimens, they may ascertain at once what grows in their neighborhood and make many discoveries. Such specimens, or any package and letters, must be send by private conveyances, and may be left in New York, at the office of the American Monthly Magazine, Wall-street.)