Sonntag, 16. Dezember 2012

John Jeremiah Sullivan: Pulphead


Im deutschen Feuilleton wird John Jeremiah Sullivan als neuer amerikanischer Starautor gefeiert. Dabei ist Pulphead erst sein zweites Buch und sein erstes, Blood Horses. Notes of a Sportswriter’s Son, war zwar auch in den USA ein Erfolg, ist aber auf Deutsch noch nicht erschienen. Sullivans Texte entstammen Magazinen wie dem Gentlemen Quarterly, Harper’s und dem Oxford American und sind für den Band noch einmal intensiv überarbeitet worden. Besonders in ihrem Zusammenwirken eröffnen die Essays dem deutschen Leser ein interessantes, unbekanntes, komplexes Panorama amerikanischer Kultur. 
Der Autor schreibt gewissermaßen vom Rande her, nicht von den geografischen Rändern, der Ost- und der Westküste, die das eigentliche Zentrum der USA darstellen, sondern vom Inland, aus der Provinz, tief aus dem Herzen Amerikas, aus dem alten Süden. Sullivan ist in dem Dreieck von Indiana (na gut, Mittelwesten), Kentucky und Tennessee aufgewachsen, wo er an der University of the South in Sewanee studierte. Jetzt lebt er in Wilmington, North Carolina, und somit doch an der Küste. Wenn man von New Orleans aus guckt, ist das mit dem Süden natürlich so eine Sache, denn zwar gehört Kentucky, woher die alteingesessene, verzweigte, tief verwurzelte Familie Sullivans seit langer Zeit stammt, historisch und politisch auch zum Süden, aber es ist sozusagen geografisch gesehen der Norden des Südens, mit einer Ehrwürdigkeit und Traditionalität, die in Südlouisiana immer mit Fluidität und Hybridität, dem Kreolischen also, einhergeht.
Sullivans Texte sind eine Mischung aus Reportage, Essay und Artikel, versetzt mit autobiografischem Erleben. Das „Ich“-Sagen trauten sich Autoren hierzulande nicht, habe ich in einer Kritik gelesen. Aber vielmehr verarbeitet er doch das Persönliche kunstvoll und mit einem gewissen Lehrmodus zu einer größeren Aussage (statt beispielsweise fiktional) und das ist das Besondere, denn „Ich“ sagen auch unzählige deutsche Zeitgeist-Kolumnen. Die Themenwahl ist ungewöhnlich: Popmusik, Naturgeschichte, Fernsehen, Literatur... und alle werden mit demselben geschliffenen Stil beschrieben, der Beitrag über den letzten der Wailers ebenso wie der über den Naturforscher Rafinesque aus dem 19. Jahrhundert.
Als Übersetzerin habe ich das Deutsche natürlich besonders aufmerksam gelesen und meine seitenlangen Notizen in eine knappe Übersetzungskritik (meine Kolumne Botschaft aus Babel) für die Ausgabe 2/2012 der Zeitschrift Bücher kondensiert, aber einiges will ich hier noch ergänzen. Sullivans Essays basieren auf persönlichem Erleben und auf Recherche, und somit einer sinnlichen Anschaulichkeit, die dem Übersetzer natürlich fehlt, der üblicherweise auch nicht mit dem spezifischen Erfahrungsgemenge aus Christlichem Rock, Botanik, Fernsehserien usw. ausgestattet ist. Deshalb waren am Deutschen vielleicht so viele beteiligt: Übersetzt haben Thomas Pletzinger und Kirsten Riesselmann unter teilweiser Mitarbeit von Tobias Schnettler; lektoriert haben Heinrich Geiselberger und Karsten Kredel. Die Übersetzung ist gut, hat tolle Lösungen gefunden (von denen ich einige in dem Bücher-Artikel nenne), und ich habe so einiges gelernt.
Und doch scheint sich die deutsche Ausgabe eher an Leser einer bestimmten Altersgruppe zu richten, vermutlich die der Lektoren und Übersetzer selbst: Mittdreißiger, gebildet, mit den USA durchaus vertraut. Das ist schade und im Englischen nicht so eindeutig. Gut, für den Titel Pulphead* wäre mir auch nichts eingefallen. Doch das Deutsche klingt immer wieder flapsiger, umgangssprachlicher, auch vulgärer als das Original, das höchstens durch die Themenwahl eine gewisse Vorauswahl trifft. Auch die Reihenfolge der Essays ist verändert worden. Während die britische Version der amerikanischen Abfolge folgt (die mir am schlüssigsten erscheint) und am Ende noch "Hey Mickey!" (den Disney-World-Text) als Epilog mit hineinbringt, nimmt das Deutsche diesen in die Mitte mit hinein, bringt Axl Rose weiter vorn und ordnet anderweitig um, auch womöglich in dem Bestreben, ein jüngeres Publikum zu erreichen. Dabei hat gerade der Axl-Rose-Artikel mir zum Beispiel den weiteren Einstieg in den Band schwergemacht.
Interessant ist auch die Gestaltung des Buches. Im Amerikanischen in gediegenen Tarnuniformfarben, mit vagen, lichtdurchfluteten Bäumen im Hintergrund und einem hängenden Schildchen mit einer Wolfszeichnung drauf. Die britische Aufgabe ist knallorange, mit rot-weißer, geometrischer Schrift, das Deutsche von der Form her ganz ähnlich, aber in Blau-Rot-Weiß, also poppiger.
Der Untertitel Dispatches (Depeschen) from the other side of America bzw. Notes from..., also von der anderen Seite Amerikas, wird im Deutschen Vom Ende Amerikas, eine Wertung, die erstens das Original nicht vornimmt, wie übrigens auch der „heruntergekommene Süden“  im Klappentext, zweitens wie der Spiegel schreibt, nach typisch „old Europe“ klingt, drittens nach dem latenten Antiamerikanismus, der in deutschen Medien so präsent ist.
Über Rafinesque heißt es an einer Stelle, er habe sich die leichte Ungenauigkeit seines ausländischen Tonfalls zunutze gemacht „und fand wirkungsvolle Bilder, auf die Muttersprachler nicht gekommen wären“. Ähnlich schafft ja auch die Übersetzung manchmal fast ungewollt schöne, literarische Effekte. Mir hat zum Beispiel diese Passage gefallen, unter anderem wegen der schönen Umlauthäufung im Deutschen, die auch fürs Auge ein kleines Fest ist. Es geht um Audubon und Rafinesque:

Er führte ihn zur Schnepfenjagd in ein kilometertiefes Schilfdickicht, wo es dunkel und stürmisch wurde, wo sie von einem Jungbären gestreift wurden, das Schilf in der drückenden Schwüle wie Gewehrschüsse knallte und wo „sich verwelkte, am Röhricht hängende Blatt- und Rindenpartikel an unsere Kleidung hefteten“ (S. 395).

Aufmerksam gemacht hat man mich auf das Buch wegen des „NOLA content“ (New Orleans, Louisiana, -Inhalt), wie es in der Adresszeile hieß. Das stimmt in dem Sinne nicht. Natürlich taucht der Name New Orleans immer wieder auf, denn Künstler des Südens, und Musiker erst recht, kommen um die Stadt nicht herum. Es gibt auch einen kurzen, impressionistischen Essay über die Situation kurz nach Katrina, aber der spielt an der Golfküste in Mississippi, die den Hurrikan direkt mit der Breitseite abbekommen hat und zum Teil einfach unauffindbar weggeschwemmt wurde (ich jedenfalls habe einige vertraute Häuser nicht wieder finden können, nicht einmal die Stelle, an der sie standen). Das war furchtbar und Sullivan schreibt einfühlsam über den Überlebungswillen, den Erfindergeist und auch die Demut der Katrinaopfer in einer Notunterkunft. (Mit diesen Worten versuche ich hier das schöne Wort „resilience“ zu erklären, das in einem Trailer für den lang erwarteten Film Beasts of the Southern Wild mit „Sturheit“ übersetzt wird.) 
Der Essay endet mit der ausführlichen Schilderung eines Zwischenfalls auf der Rückfahrt, beim Anstehen nach Benzin, als man Sullivan beschuldigte, sich vorgedrängelt zu haben. Im Kontrast zu der Solidarität der wirklichen Opfer untereinander, die alles verloren haben, zeigt sich hier, wo die Amerikaner, die vielleicht gar nicht direkt von der Katastrophe betroffen waren, wirklich fuchtig werden: wenn das Benzin knapp ist.
Kurzum: Sullivan analysiert, beschreibt, schildert schonungslos, auch mit Witz, sein Land und dessen Realität, ohne es jedoch zu denunzieren. Und deshalb kann man dieses Buch gern jemandem unterm Baum bescheren.

* Zur Bedeutung: „Pulpheads sind fanatische Anhänger von „pulp fiction“, d.h. nicht dem Quentin-Tarantino-Film der 1990er Jahre, sondern des Genres. Eigentlich bedeutet „pulp“ auch Fruchtfleisch oder eben die Pulpe, der Brei bei der Papierherstellung. Diese Art reißerischen Groschenromane wurden auf unfertigem, stark holzhaltigem Papier gedruckt, Raymond Chandlers Romane zum Beispiel. Bei „pulphead“ schwingt für mich auch eine gewisse Selbstironie mit, als ob der Konsum solcher Literatur, oder wie bei Sullivan solcher Kultur, das Gehirn ein wenig aufgeweicht hätte. 

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