Sonntag, 4. Januar 2015

Paul Morphy

Wenn ich Leuten erzähle, dass ich in Louisiana gelebt habe, dann fragt manchmal jemand, ob ich Paul Morphy kenne. Das klingt wie ein Geheimtipp, und es schwingt eine tiefe Verehrung mit. Die das fragen, sind die leidenschaftlichen Schachspieler.
Paul Morphy war nämlich so etwas wie der Mozart des Schachs, ein Genie, das alle anderen mit Leichtigkeit und in Windeseile an die Wand spielte, ewigen Ruhm einheimste und viel zu früh aufhörte und starb. Man nannte ihn „The Pride and Sorrow of Chess“ (Stolz und Kummer des Schachs). Er war aus New Orleans, dieser Stadt der Alten in der Neuen Welt oder wo sich die Alte mit der Neuen Welt mischt, und vermutlich hat das etwas damit zu tun.
Morphys Urgroßvater, der Ire Michael Murphy, änderte seinen Namen zu Morphy, als er nach Spanien zog. Sein Vater Alonzo Morphy, aus Charleston, South Carolina, war Anwalt und Richter am Obersten Gerichtshof von Louisiana und verheiratet mit Louise Le Carpentier, der Tochter einer französisch-kreolischen Familie aus New Orleans. Obwohl New Orleans fest in amerikanischer Hand war, als Paul Charles Morphy am 22. Juni 1837 geboren wurde, würde es mich nicht wundern, wenn man in dieser ehrwürdigen, kreolischen Familie auch Französisch gesprochen hätte. Der Louisiana Purchase, als die Amerikaner von den Franzosen das riesige, als Louisiana bezeichnete Territorium kauften, das sich bis nach Montana zog und den westlichen Teil des Mittelwestens einschloss, hatte schon 1803 stattgefunden. Ich glaube, ein Satz aus dem Wikipedia-Eintrag dazu beschreibt das, was folgte, sehr treffend: „Governing the Louisiana Territory was more difficult than acquiring it.“ (Das Territorium Louisiana zu regieren war schwieriger, als es zu erwerben.)
Anders als bei Mozart und der Musik scheint dem kleinen Paul niemand Schach beigebracht zu haben. Er war eben immer dabei, wenn sein Vater und  Onkel Ernest spielten, und sein älterer Bruder und seine Schwester Helena spielten auch. Schon mit 9 galt er als einer der besten Spieler in New Orleans, und 1850, mit 12, besiegte er den ungarischstämmigen Schachmeister Johann Löwenthal, der auf Gastspielreise in der Stadt war. 
Danach widmete sich Morphy in Mobile, Alabama, und an der Universität in New Orleans (jetzt Tulane) vor allem seinem Studium, das er 1857 mit einem Juradiplom abschloss. Da er aber noch minderjährig war, durfte er nicht praktizieren, und so ließ er sich erst einmal nach New York zu einem Amerikanischen Schachkongress einladen, wo er als Schachmeister der USA gefeiert wurde. Dann reiste er nach Europa, zunächst, um gegen den europäischen Meister, den Engländer Howard Staunton, zu spielen. Dazu kam es nicht, und es ist nicht klar, warum. Hatte Staunton Angst sich zu blamieren oder war er wirklich mit seinen Arbeiten zu Shakespeare beschäftigt oder hatte Morphy nicht die Startgebühr für das Spiel bezahlt?
Es war zwar für Morphy ein Dämpfer, aber dafür spielte er gegen alle anderen, darunter Daniel Harrwitz und Adolf Anderssen, und gewann, trotz zwischenzeitlicher Darmgrippe, fast durchgehend. In seinem Buch Paul Morphy - Sein Leben und Schaffen schreibt sein deutscher Biograf Max Lange im Jahr 1894: „Hervorgegangen aus einer spanischen und mütterlicherseits aus einer französischen Familie, aber geworden und entwickelt auf amerikanischem Boden, hat PAUL MORPHY die spanische Anmut und die französische Lebendigkeit in seiner Person mit dem kühlen und praktischen Sinn des amerikanischen Charakters wohl vereinigt. Eine ebenso kräftige wie rasche und feine Spielführung zeichnete alle seine Partien aus, und die Augenzeugen seines Spielens waren ohne Ausnahme des Lobes voll von seiner eleganten persönlichen Haltung wie graziösen Steinführung, von seiner steten Selbstbeherrschung in schwierigsten Lagen und von seiner unerschütterlichen Ruhe bei ihn überraschenden Wendungen.“ Das Buch ist übrigens 2009 neu verlegt worden und enthält viele Notationen der Spiele von Paul Morphy, die für Kenner vermutlich eine Offenbarung sind. Hier, mit Leseproben.
Nachdem er praktisch alle besiegt hatte, die es zu besiegen gab, zog er sich vom Schach zurück. Wieder in New Orleans versuchte Morphy, seine Anwaltspraxis in Gang zu bringen, aber erst kam der Amerikanische Bürgerkrieg dazwischen, und dann wollten seine Klienten mit ihm eigentlich immer nur über Schach reden. Zum Glück war er finanziell abgesichert und konnte in den Tag hinein leben.
Am 10. Juli 1884 starb Paul Morphy in der Badewanne, als er nach einem Spaziergang in der Mittagssonne bei einem eiskalten Bad einen Schlaganfall erlitt. Dem Mythos zufolge soll er schon nicht mehr zurechnungsfähig gewesen sein, aber vielleicht war er auch nur exzentrisch.
Einem Gerücht zufolge soll Morphy vor dem Schlafengehen einen Kreis aus Frauenschuhen um sein Bett gebildet haben (über seine private Seite ist sonst nichts weiter bekannt), aber in einem Text seiner Nichte heißt es, dass er seine eigenen vielen Schuhe in seinem Zimmer in einem Halbkreis angeordnet hätte.
Über sein Spiel wird viel spekuliert. Würde er heute mithalten können? Er hatte relativ wenig Übung, aber vermutlich war es auch gerade seine jugendliche Unbekümmertheit, mit der er seine Gegner verunsicherte und dann besiegte. Eine Kennerin schreibt: „Unlike masters of today, who after the centuries of analysis devoted to chess, look for 'truth' in each game, Morphy, as well as many of his contemporaries, looked for beauty, sometimes foregoing the simplest approach for a more pleasing one, and considered the combination the pinnacle of such beauty.“ (Anders als die heutigen Meister, die nach jahrhundertelangen Analysen der Schachspiele in jedem Spiel nach der „Wahrheit“ suchen, suchte Morphy wie viele seiner Zeitgenossen nach Schönheit, und entschied sich manchmal gegen den einfachsten Zug zugunsten eines gefälligeren, und die Kombination betrachtete er als das Allerschönste überhaupt.) Morphy spielte auch gern Blindschach und Vorgabepartien, bei denen dem schwächeren Gegner ein Vorteil eingeräumt wird, entweder mit Figuren oder Zügen, und wie es scheint, lief er dann zu seiner eigentlichen Form auf.
Morphy spielte Schach, wie es heute nicht mehr gespielt wird. Und doch schreibt der Schachweltmeister Bobby Fischer: "A popularly held theory about Paul Morphy is that if he returned to the chess world today and played our best contemporary players, he would come out the loser. Nothing is further from the truth. In a set match, Morphy would beat anybody alive today ..."
Die Morphys lebten übrigens in mehreren Häusern in New Orleans, die auch heute noch existieren. Eins davon war in der 417 Royal Street, wo sich heute das berühmte Restaurant Brennan’s befindet, ein weiteres an der Ecke der Esplanade und Chartres Street, das 1834 für Henry Raphael Denis gebaut wurde. Nach den Morphys lebte dort ein japanischer Chemiker Jokichi Takamine, der sich nach 1884 in New Orleans mit einem seiner Nachbarn anfreundete, dem Journalisten Lafcadio Hearn, der später in Japan ganz groß rauskam. Gleich um die Ecke, Esplanade und Royal Street, wuchs übrigens der nur 8 Jahre ältere kreolische Komponist Louis Moreau Gottschalk auf.
Morphys Grabmal befindet sich auf dem St. Louis Cemetery Nr. 1.  Weil es so schön die Welten illustriert, die da aufeinandertrafen, habe ich noch ein Foto der Partie zwischen Morphy und Löwenthal aus der Public Domain heruntergeladen.

Die Geschichte von Paul Morphy ist übrigens in dem Roman The Chess Players (1960) von Frances Parkinson Keyes auch literarisch verarbeitet worden. Keyes lebte in New Orleans im French Quarter, 1113 Chartres Street, das heute unter dem Namen Beauregard-Keyes House ein Museum ist und für Paul Morphys Großvater mütterlicherseits gebaut wurde. Aber alles was man wirklich über Morphy wissen muss, findet man in diesem, ja leidenschaftlichen Blog-Eintrag: hier.