Sonntag, 15. Juni 2014

Lillian Hellman: Pentimento und The Little Foxes

Vor einiger Zeit habe ich Lillian Hellmans zweites biographisches Buch gelesen oder vielmehr verschlungen: Pentimento. A Book of Portraits. Das Buch heißt auf Deutsch Pentimento: Erinnerungen, Frauenbuchverlag 1989, übersetzt von Eva Buchmann, oder in einer älteren Ausgabe Julia und andere Erzählungen, Goldmann 1984, übersetzt von Cordula Bickel. Der ungewöhnliche Titel ist im Englischen ein nicht sehr gebräuchliches Wort für das Phänomen, wenn durch eine Schicht Farbe auf einer Leinwand eine zuvor aufgetragene Malerei durchscheint. Im Deutschen wird der Begriff in der Kunstgeschichte verwendet, wohl oft im Plural als Pentimenti oder eingedeutscht Pentiment, für die nachträgliche Übermalung oder Verbesserung eines Bildes durch den Künstler. Im Italienischen heißt Pentimento interessanterweise Reue.
Anders als die vorhergehende Biographie An Unfinished Woman ist Pentimento nur bedingt chronologisch aufgebaut, denn es besteht aus 7 Kapiteln, von denen die meisten mit einem Namen oder einem Wort überschrieben sind. Die ersten drei davon, Bethe, Willy, Julia, sind die eindrücklichsten. Darin werden wichtige Personen aus dem Leben von Lillian Hellman aus der Perspektive als Mädchen oder als junge Frau eher erzählt als porträtiert. Das ist ziemlich meisterhaft gemacht, denn man erfährt mit diesen dreien etwas aus dem Leben der Autorin aber auch über sie als Mensch, so dass es letztendlich gar nicht klar ist, wer hier eigentlich porträtiert wird.
Das dritte Kapitel, Julia, hat etwas Atemloses und hält in Atem, denn darin geht es um eine New Yorker Freundin der Autorin aus begüterten Verhältnissen, die während der Nazizeit in Europa im Untergrund aktiv ist, dort ein Bein verliert, ein Kind zur Welt bringt und schließlich getötet wird. Das ist alles sehr geheimnisvoll, so zum Beispiel wenn Lillian Hellman auf ihrer Reise von Berlin nach Moskau auf sehr komplizierte und undurchsichtige Weise über viele Mittelsmänner und –frauen Geld über die Grenzen schmuggelt. Das Problem an der Julia-Geschichte ist, dass sie möglicherweise nicht stimmt. Vielmehr scheint sie in leicht abgewandelter Form das Schicksal von Muriel Gardiner Buttinger zu beschreiben (Codename: Mary), mit der L. Hellman einen gemeinsamen Bekannten hatte, was die Lügenbezichtigung von Mary McCarthy, über die ich hier schon geschrieben habe, wohl noch untermauert.
Auch in Nora Ephrons Theaterstück Imaginary Friends von 2002 geht es um diese berühmte Kontroverse. Dafür gab es gemischte Kritiken, jedoch hielt ein Kritiker die Gegenüberstellung der beiden Frauen als diametral entgegengesetzte Göttinnen Fakt und Fiktion für gelungen. Im Frühjahr 2014 lief Off-Broadway ein weiteres Theaterstück von Jan Buttram zu dem Thema (Hellman v. McCarthy). Darüber heißt es in einer Kritik: „The play itself isn’t all that good...“ Und: „McCarthy (Marcia Rodd) gilt meistens als die Heldin, aber hier wirkt sie selbstgerecht und falsch, während Hellman als misslauniges, bitterböses Lästermaul höchst unterhaltsam ist.“
Mich hat Pentimento begeistert, weil die Geschichten so fesselnd und raffiniert erzählt sind. Ich finde es befreiend, dass Lillian Hellman sich nicht in die Rollenklischees für eine Frau und Schriftstellerin einfügt, sondern z.B. auch schwierig, starrsinnig und laut ist und Dashiel Hammett damit eine komplizierte, aber ebenbürtige Partnerin. Julia fragt sie an einer Stelle (S.114): „Are you as angry a woman as you were a child?“ Die Antwort: „I think so. I try not to be, but there it is.“ (Bist du als Frau immer noch so wütend, wie du es als Kind warst?“ „Ich glaube ja. Ich versuche, mich zu ändern, aber so ist es nun mal.“)
Die Berliner Schaubühne, ein wunderschöner Zwanziger-Jahre-Bau am Ku’damm, hat jetzt ein Stück von Lillian Hellman auf dem Spielplan, Die kleinen Füchse (The Little Foxes) von 1939, eine große Seltenheit. Ein Kritiker meint: „Hier nun die entscheidenden Erfolgsgründe. Zunächst das Stück, Die kleinen Füchse von der Kommunistin, Säuferin, Schriftstellerin und zu Lebzeiten erstaunlich verhassten US-Amerikanerin Lillian Hellman. Es wird kaum gespielt, in Berlin zuletzt in den 50er-Jahren am Deutschen Theater, mit Inge Keller in der Hauptrolle (Hauptstadt der DDR).“ Außerdem spielt Nina Hoss die Hauptrolle der Regina Giddens, ein weiterer Grund, warum es immer ausverkauft ist, wie ich meiner nicht repräsentativen Umfrage unter den neben mir Sitzenden entnehmen konnte, während die Autorin Lillian Hellman ziemlich unbekannt ist. 
Der Inhalt lässt sich vielleicht mit einem passenden Zitat aus Pentimento zusammenfassen: „... not too many years later... I understood that I lived under an economic system of increasing impunity and injustice for which I, and all those like me, pay with ridiculous wounds to the spirit.“ (Nicht allzu viele Jahre später wurde mir klar, dass ich in einem wirtschaftlichen System der zunehmenden Straffreiheit und Ungerechtigkeit lebte, für das ich, und alle die sind wie ich, mit unglaublichen Wunden an unserem Geist bezahlten.)
Das Personal: Regina Giddens und ihre beiden Brüder, die Ehefrau und der Sohn des einen Bruders, ihre Tochter, ihr Ehemann, eine Bedienstete, ein Investor aus dem Norden. Das Stück spielt in Alabama und ist von der Familie von Lillian Hellmans Mutter inspiriert. Die Familie will Geschäfte mit dem Investor machen, doch dazu brauchen sie Geld von Reginas Ehemann, der seit Monaten irgendwo in der Ferne im Krankenhaus ist und auf ihre Briefe nicht reagiert. Regina, die davon träumt nach New York zu ziehen, schickt ihre Tochter, um den Mann aus dem Krankenhaus nach Hause zu holen. Die Ehe der beiden ist völlig zerrüttet, vor allem Regina verachtet ihren Mann und versucht verzweifelt, für sich finanzielle Vorteile herauszuholen. Am Ende lässt sie ihren Mann sterben, indem sie ihm Tabletten und Hilfe verweigert. Sie verliert ihre Tochter und Brüder, aber sie hat jetzt Geld. 
Neben Regina ist da noch ihre Schwägerin Birdie (gespielt von Ursina Lardi), eine verwirrte, melancholische, tragische und doch sehr liebenswerte Frauenfigur aus den Südstaaten, wie man sie später in Tennessee Williams’ Stücken findet, zum Beispiel Blanche in Endstation Sehensucht (1947). Birdie wurde von einem der Brüder geehelicht, damit er an ihr Gut kam, das daraufhin verscherbelt wurde. Sie ist jetzt Alkoholikerin, wird von ihrem Mann schikaniert und misshandelt und hat einen Sohn, den sie selbst nicht mag und vor dem sie ihre Nichte warnt. Die kleinen Füchse thematisiert somit nicht nur den Gegensatz von old money (Birdie) und Neureichen (Familie Giddens), sondern auch die finanzielle Recht- und Mittellosigkeit der Frauen. Für Lillian Hellman war das ein zentrales Problem der Gleichberechtigung, das sie für sich mit geschickten Geldanlagen löste, was man wie so viele Dinge an ihr für skandalös hielt.
Nina Hoss ist wie immer intensiv, auch wenn es in der hitzigen, zähen und verzweifelten Stimmung des Stücks so angelegt ist. Der Text wurde offenbar radikal überarbeitet, und es liefen englische Übertitel, die seltsam aus dem Deutschen übersetzt klangen. Die Bühne ist schwarz und simpel, mit einer sehr hohen, über Eck gehende Treppe, die ins obere Geschoss (aber eigentlich ins Nichts) führt. Nur hinten rechts steht hinter einer Schiebetür ein großer Esstisch parallel zur Bühne, und wenn am Anfang dort  mit dem Investor aus dem Norden hinter verschlossenen Türen getafelt wird und diese Türen immer wieder aufgehen, wenn jemand nach vorn kommt und etwas sucht oder telefoniert oder die Bedienstete hineingeht, dann erinnert die Szenerie dahinter optisch an Das Abendmahl von Leonardo da Vinci und anderen. Pausen gibt es keine, die Akte werden mit lauten Musikpassagen vom Band markiert. 
Vor Kurzem habe ich in einem alten New Yorker einen Artikel über die Schauspielerin Tallulah Bankhead gelesen, eine Diva, wie sie im Buche steht, die bei der Erstaufführung ein Jahr lang mit großem Erfolg die Hauptrolle am Broadway gespielt hat (410 Aufführungen). Für die Filmversion wurde allerdings Bette Davis ausgewählt. In dem Artikel wird eine Episode erwähnt, die sich auch in Pentimento findet. Bei Partys hat die extravagante Tallulah Bankhead die Gäste manchmal ins Schlafzimmer geführt, ihrem schlafenden Ehemann John Emery die Bettdecke weggezogen und gesagt: „Haben Sie schon mal so einen großen Schwanz gesehen?“ Der Ehemann hat sich dann irgendwann scheiden lassen, und Tallulah Bankhead ist heute fast nur in Legenden und Büchern überliefert, weil sie vor allem Theaterschauspielerin und eben sehr exzentrisch war.
Wie es scheint, wird die Aufführung immer mehrmals hintereinander gezeigt, aber nicht in jedem Monat. Zu empfehlen, auch wenn draußen keine louisianischen Regenstürme wüten sollten...