Freitag, 29. Juni 2012

Wir haben Lösungen?

Am Montag habe ich mit meinen Studenten ein Experiment gewagt: Ein kleines Projekt zur Kriminalität in New Orleans. Angeregt dazu hatte mich der 5-Punkte-Plan zur Reduzierung der Mordrate in der Stadt, den Bürgermeister Mitch Landrieu am 22. Mai 2012 vorgelegt hat (Zeitungsartikel hier und Interview hier)
Zunächst hatten einzelne Studenten bestimmte Fakten recherchiert (Geografisches, Geschichte, Kultur, Politik, Schulen, Polizei, Kriminalitätsrate, Katrina), die wir zusammentrugen. Dann überlegten sie sich in kleinen Gruppen Strategien zur Senkung der Mordrate, und ich wollte sehen, ob sie mit denen des Bürgermeisters übereinstimmen (aber natürlich sollten sie auch einfach Englisch sprechen).
Hier einige seiner Punkte:
-- die Schaffung eines Spezialistenteams auf Bundesebene zur Strafverfolgung von Drogenkönigen
-- Mentorenprogramme ausbauen
-- Arbeits- und Wohnangebote für ehemalige Straffällige verbessern
-- das öffentliche Vertrauen in die Polizei von New Orleans wiederherstellen
-- Programme zur Konfliktlösung und Traumaberatung anbieten
-- Jugendliche über die Konsequenzen krimineller Handlungen aufklären.
Gestern gab es eine Anhörung vor dem City Council, wo der Polizeipräsident Ronald Serpas meinte, dass er eine Senkung der Mordrate nicht versprechen könne (Artikel hier). Auf Anfrage meinte er, dass die Hälfte der Polizisten auf den Stadtautobahnen im Einsatz sind, wo eigentlich Staatspolizei patrouillieren sollte. Aber, das ist nicht nur meine Meinung, Polizei ist eben längst nicht alles.
Meine Studenten, die sich zum ersten Mal mit der Stadt beschäftigten, sollten in 15 Minuten Patentlösungen erarbeiten, und das Ergebnis ist ganz beeindruckend. Einige Forderungen tauchten mehrmals auf: strengere Waffengesetze, was in den USA von heute wohl aussichtslos ist, und bessere Schulen, obwohl ja in New Orleans viele denken, dass die neu eingeführten Charter schools die beste Lösung sind. Und da die meisten der Studenten Sozialarbeit studieren, forderten viele mehr Sozialarbeiter, insbesondere Streetworker. Von der Finanzierung abgesehen, stelle ich mir Streetworker in einer so losen Stadt wie New Orleans, die an wenigen Stellen richtig urban und großstädtisch wirkt, schwierig vor. Aber diese und andere zum Teil ausgefallene, aber sehr inspirierte Ideen werden wir in einem Brief an den Bürgermeister zusammenstellen.
Am Ende sollte ich erzählen, was denn dort so besonders und so schön sei. Und warum ist es so gewalttätig, wenn es so schön ist? Eine wirklich gute Frage. Und können wir nicht mal was Positives über New Orleans hören? Nächste Woche also gibt es Musik, ein bisschen Film, vielleicht auch was zum Lesen aus Nju Orliens.

Sonntag, 24. Juni 2012

Iguanas und Chamäleons

Iguanas (zu Deutsch Leguane) haben auch in dem Film Bad Lieutenant: Port of Call - New Orleans einen kleinen Auftritt, einem Werner-Herzog-Film von 2009, der wiederum ein Remake von Abel Ferraras Thriller Bad Lieutenant von 1992 ist. Nicholas Cage spielt hier den verdorbenen Cop, der durch Hurrikan Katrina gebrochen, drogenabhängig und deshalb korrupt geworden ist. Ein rasanter Film mit New Orleans als Sündenhölle, der in eben dieser Rasanz ein ganz klein wenig an den komischen Klassiker The Big Easy von 1987 erinnert. Darin allerdings kreuzt ein wesentlich charmanterer, aber ebenso korrupter Dennis Quaid durch die Stadt und macht nebenbei der zugeknöpften Staatsanwältin gespielt von Ellen Barkin den Hof. Hier die Leguane aus dem Cage-Film.
Dann gibt es noch Tennessee Williams' Theaterstück Die Nacht des Leguan (The Night of the Iguana), das 1964 von John Huston in Schwarz-Weiß verfilmt wurde. Richard Burton und Ava Gardner spielen dort mit, aber weil es wieder einmal so eine komplizierte, zerreißende Williams-Geschichte ist und es außerdem schon nach Mitternacht war, bin ich hoffnungslos im Kino eingeschlafen und kann nicht viel dazu sagen.
Dafür aber zu der hübschen Erzählung von Truman Capote, die sich zwar nicht um Iguanas aber dafür um Chamäleons dreht: „Music for Chameleons“ aus dem gleichnamigen Erzählband von 1980. Darin spielt eine alte Dame für die Chamäleons vor ihrem Haus Klavier und die habe ich mir immer wie Iguanas vorgestellt. 
Echte Chamäleons, das habe ich jetzt gefunden, leben vor allem in Afrika und nicht in Louisiana, aber dort wird wohl der Anolis wegen seiner Farbwechsel manchmal auch als Chamäleon bezeichnet. So schließt sich wieder ein kleiner Kreis und ich muss schweren Herzens mein inneres Bild von Capotes Erzählung revidieren.

Donnerstag, 21. Juni 2012

Geckos

Der Schriftsteller Rodger Kamenetz hat heute dieses (von ihm selbst fotografierte) Foto auf Facebook gestellt und schrieb dazu: "These are two Louisiana anoles (Polychrotidae), very common here. I happened to catch them in the act on a blue Waste Management recycling bin. I love the expressions on their faces." (Das sind zwei louisianische Anoles (Polychrotidae), hier sehr verbreitet. Auf einer blauen Recyclingtonne habe ich sie in flagranti ertappt. Ich liebe ihren Gesichtausdruck.)
Bei Stress verfärben sie sich bräunlich, fügte er noch hinzu, was verständlich ist - so wie ER SIE hier am Kragen packt. Wenn die Männchen Lust haben, tragen sie am Hals eine für alle sichtbare leuchtendrote Blase (Kehlfahne) herum.
Unwissenderweise kenne ich alle solche Tiere einfach als "lizards" oder Geckos und auch ich liebe ihr verschmitztes Lächeln und das fröhliche Funkeln aus den Augenwinkeln. Wenn sie stundenlang regungslos auf der Gazeveranda sitzen, sind sie fast durchsichtig, von pulsierenden Äderchen durchzogen, im Gras sind sie grasgrün usw. Sie sind blitzschnell, wenn es ums Insektenaufschlecken oder ums Weglaufen geht und sie gehören zu den harmlosen und deshalb liebenswürdigen Exemplaren der wilden Fauna Louisianas.
Laut Wikipedia gehören die Anoles zu den Leguanartigen (Iguania) und wie es der Zufall so will, gibt es eine beliebte Band aus New Orleans mit dem Namen The Iguanas, die eine Mischung aus Latin, Karibik, R & B, Blues und Jazz spielt (zum Anhören).
Männer tragen zum Glück ihre Anziehung selten mit einer roten Blase am Hals zur Schau, sondern finden andere, subtilere Wege. In diesem Sinne: Auf einen liebevollen Sommer!


Mittwoch, 20. Juni 2012

Sommeranfang

Heute ist Sommersonnenwende, aber das rechte Sommeranfangsgefühl will hier in Berlin nicht aufkommen: Temperaturen zwischen 14 und 19 Grad (57-66 Fahrenheit), strömender Regen, Wind, grau. Ein schöner Tag zum gemütlich zu Hause bleiben, der längste Tag des Jahres, den wir heute wohl gar nicht so richtig zu sehen bekommen werden. Sonnenaufgang : 4.43 Uhr Sonnenuntergang: 21.31 Uhr, Tageslänge: 16 Stunden und 50 Minuten.
In New Orleans ist wieder mal strahlender Sonnenschein, 32 Grad (90 Fahrenheit), 77 Prozent Luftfeuchtigkeit, aber eben das alles viel kürzer: nur 14 Stunden und 7 Minuten, von 5.58 Uhr bis 20.05 Uhr. Denn New Orleans (ca. 30 Grad nördlicher Breite) liegt auf der Höhe von Kairo, Berlin (52,5) irgendwo in Saskatchewan in Kanada.
Der Sonnenuntergang in New Orleans wird wieder dramatisch sein: ein riesiger roter Sonnenball, der zusehends hinterm Horizont versinkt oder ins Wasser plumpst. Kein Wunder, dass wir die großen Romantiker sind: Schöne Sonnenuntergänge sind zwar selten, aber wenn, dann können wir sie in aller Ruhe auskosten. So richtig schöne Sonnenuntergangsgemälde konnte deshalb wohl vor allem unser Caspar David Friedrich malen. Dieses hier, Das Kreuz im Gebirge, hängt in der Gemäldegalerie in Dresden (ca. 50 Grad nördlicher Breite) und bei meiner Oma im Schlafzimmer hing es auch. Schöne Fotos von Sonnenuntergängen in New Orleans hier und hier.

Donnerstag, 14. Juni 2012

Verschiedenes

7767 Unterschriften unter der Eingabe, Protestaktionen, Artikel, Kolumnen, Radiobeiträge, Einwände seitens der Anzeigen schaltenden Firmen haben nichts genutzt: Die New Orleans Times-Picayune hat gestern 200 Angestellte entlassen, darunter die Hälfte der Nachrichtenredaktion. Die Zeitung, die schon im 19. Jahrhundert über die Aktivistin Margaret Haughery berichtete und die Einwohner durch Dick und Dünn begleitet hat, wird abgeschafft. Wer will eine Tageszeitung lesen, die nur drei Mal die Woche erscheint? Die Webseite, das bestätigen mir auch andere, ist unlesbar. Ich bin tieftraurig.
Aber einer meiner Lieblingsmaler, Mitchell Long, hat heute ein neues Bild auf Facebook gestellt und ich habe endlich kapiert, wie man Fotos von dort herunterladen kann (siehe unten). Deshalb gibt es jetzt zum Thema Limonade endlich auch das Foto von der kleinen Martha mit ihrem Verkaufsstand und ein paar Touristen.

Dienstag, 12. Juni 2012

Pools

Im Moment, sagt der Wetterbericht, sind in New Orleans gefühlte 31 Grad, morgen sollen es 36 werden, bei 87% Luftfeuchtigkeit. Bei solchen Temperaturen leuchte ich warm und weich, aber den meisten Menschen ist es doch manchmal zu heiß. Abkühlung könnte Wasser bieten, von dem es in New Orleans wahrlich genug gibt. Aber im Mississippi (im Süden) und im Lake Pontchartrain (dem riesigen Salzwassersee im Norden) würde auch ich schon wegen des regen Verkehrs nicht baden. Ruhigere Gewässer wie Lake Maurepas, Lake Borgne, diverse Bayous beherbergen Alligatoren und anderes gefährliche Gefleuch. Vor vielen vielen Jahren habe ich mal in den Schnellen des Pearl Rivers gebadet, aber der fließt vor allem durch den Nachbarstaat Mississippi.
Also Freibecken. Wenn man nicht das Glück hat, Nachbars Swimmingpool nutzen zu dürfen, dann gibt es noch andere Möglichkeiten: Man wird Mitglied im Jewish Community Center an der St. Charles Avenue, auch wenn man vielleicht nicht jüdisch ist, wo der Pool von Mai bis September geöffnet ist. Nicht ganz billig. Oder man fährt in den Country Club, wo übrigens die beeindruckendste Lebenseiche überhaupt steht. Er ist ein wenig außerhalb und ganz schön exklusiv. Oder man schleicht sich in eines der Hotels mit Swimmingpool und gibt sich als Tourist aus.
Das ist aber dieses Jahr gar nicht nötig, denn das W-Hotel im Central Business District öffnet seinen Dachswimmingpool dem gemeinen Volk (im Juni, Juli und August sonntags von 13 bis 20 Uhr) und zwar kostenlos, bis es voll ist.
All dieses gilt natürlich für gewöhnlich nur für Leute, die auf den kurzen Wegen vom klimatisierten Gebäude zum Auto ins Schwitzen kommen. Die, die gezwungenermaßen per Bus, Straßenbahn, Fahrrad oder per pedes unterwegs sind, müssen sich irgendwie anders abkühlen.
Als Studentin im Baton Rouge der Neunziger war ich an der Universität im Pool schwimmen. Strahlend türkises Wasser, ein Gebäude wie aus 1001 Nacht, wie ein türkisches Bad in Budapest, menschenleer. Auch nichts für olympische Schwimmer, aber ein Traum. 

Montag, 11. Juni 2012

Lesen

Am Sonnabend war ich für einen Tag in Leipzig. Es war ein wunderbarer Tag (trotz heftiger Regenschauer) und ich war überrascht, wie schön und lebenswert die Stadt ist: viel Grün, Kanäle, auf denen eifrig gepaddelt wird, es gibt noch einzelne, in Ruinen stehende Gebäude, aber ich hatte auch den Eindruck, dass die Stadt noch „offen“, dass Wohnraum reichlich vorhanden und erschwinglich ist und dass man noch etwas auf die Beine stellen und bewegen kann, wenn man es möchte – so wie in Berlin vielleicht noch vor zehn Jahren, bevor private, ausländische Heuschrecken alles in Eigentumswohnungen oder exklusive Klubs verwandelt haben. Aber: die Straßen waren menschenleer, Straßenbahnen fuhren auch tagsüber nur alle 15-20 Minuten und bei einem Blick in das Veranstaltungsprogramm gab es nur wenige Lesungen. Und das bei über 500.000 Einwohnern.
Auch in New Orleans (seit Katrina nur ca. 343.000 Einwohner) fahren die Straßenbahnen nicht sehr oft, aber in den äußerst aktiven kleinen Buchhandlungen finden wöchentlich Lesungen statt. In meiner Lieblingsbuchhandlung in Uptown, Octavia Books in der Octavia Street, sind es diese Woche gleich zwei: Am Donnerstag 14.6. liest der Journalist Ron Thibodeaux aus einem neuen Buch über die Auswirkungen der Hurrikane Rita (September 2005) und Ike (2008) auf das Cajun Country. Am Sonnabend 16.6. liest Tara Hudson aus ihrem paranormalen Liebesroman Arise. Die New Orleanser Autorin Patty Friedman hat gerade ihren neuen Jugendroman No Takebacks veröffentlicht, den sie am 30.6. im Maple Street Book Shop vorstellen wird. Der Garden District Book Shop ist eine geräumige Buchhandlung im Garden District, wo diese Woche auch gelesen wird. Nur bei Faulkner House Books in der Pirate Alley im French Quarter ist für Lesungen kein Platz, für gute Bücher immer. Weitere Buchhandlungen findet man hier.

Freitag, 8. Juni 2012

Welten

Harry Shearer, Schauspieler, Satiriker, Multitalent, hat New Orleans zu seiner Wahlheimat gemacht und ist Lokalpatriot, ein heftiger Verteidiger, Fürsprecher und Aktivist, so 2011 in dem Dokumentarfilm The Big Uneasy und auch in der Radiosendung Le Show, die auf NPR Berlin immer Sonntag Abend ausgestrahlt wird. Am Mittwoch erläutert er in dem Artikel „The Sometimes Picayune“ im Columbia Journalism Review die besondere Funktion der Tageszeitung für die Stadt, Gegebenheiten, die  der Zeitungseigentümer Advance Publication offenbar nicht versteht, und so der Stadt dasselbe Modell überstülpen will wie Ann Arbor, Michigan, und drei Städten in Alabama. Shearer benennt auch einige Aspekte, die ich mir noch nicht bewusst gemacht hatte und deshalb besonders aufregend finde:
Dass New Orleans eine Großstadt mit menschlichem Maß ist, eine eher zweistöckige Gartenstadt, mit ein paar Hochhäusern im Central Business District und Hotelblöcken an der Canal Street und somit auch ein paar Straßenschluchten, das habe ich hier schon beschrieben. Harry Shearer beschreibt aber eine echte Gemeinschaft, wo die Menschen eine tiefe Verbindung zu ihrer Stadt, zu einander und zur Vergangenheit haben. Vor Hurrikan Katrina war New Orleans die amerikanische Stadt mit der höchsten „Nativitätsrate“, d.h. dem höchsten Anteil von dort geborenen Einwohnern. Die Feiertage (Karneval) und andere besondere Tage strukturieren den Kalender und man schätzt Institutionen wie die Times-Picayune. Diese hätte beispielsweise nach Ende des Amtsenthebungsverfahrens gegen Bill Clinton als einzige Tageszeitung nicht mit diesem sondern mit dem König der Rex-Parade getitelt, schließlich war Mardi Gras! Dazu gehört auch, dass es in der Stadt selbst nur wenige der großen nationalen Handelsketten gibt, dafür aber lokale Läden, Bars, Clubs.
Vor zwei Wochen legte Bürgermeister Mitch Landrieu einen Fünf-Punkte-Plan zur Bekämpfung der Kriminalität vor, die im Jahr 2010 sieben Mal so hoch wie der nationale Durchschnitt war. Dass davon vor allem junge Afroamerikaner betroffen sind, ist ein alter Hut. In der investigativen Serie der Times-Picayune zu Gefängnissen in Louisiana wurde ein Viertel in Central City gezeigt (hier), in dem die Mehrzahl der jungen Männer im Gefängnis sitzt und der Pastor über den Mangel an Chancen und Infrastruktur sprach. 
Da wurde mir schlagartig klar: Die Stadt, über die ich hier im Blog schreibe, ihre Kultur, Tradition, Filme, Essen, Literatur, auch Musik, ist für diese Menschen nicht die Stadt, in der sie leben. Es ist eine völlig andere Welt, die von diesen schönen Dingen abgeschnitten ist, sicher eigene schöne Dinge hat, aber vor allem auch Armut, Überlebenskampf, Gewalt, zerstörte Familien und Beziehungen, Verbrechen, Tod. Es ist eine Welt, mit der ich (und viele andere New Orleanser) fast nie in Kontakt gekommen bin, zum Glück. Eine Welt, die eine alternative Zeitung aus den USA von 1989 als „Dritte Welt“ bezeichnete. Ich wünsche es New Orleans sehr, dass Mitch Landrieus Plan auch in jener Welt etwas bewegen kann. 

Dienstag, 5. Juni 2012

New Orleanser Institutionen

Gestern fand auf dem Parkplatz vor dem Rock ‚n’ Bowl in Mid City eine Kundgebung zur Rettung der Times-Picayune statt. Der Autor Michael Tisserand und die Gründerin der Louisiana Bucket Brigade (einer Umweltorganisation) Anne Rolfe hatten geladen und es kamen ungefähr 300 Menschen. Es spielten der Liedermacher Alex McMurray, der große Komponist und Pianist Allen Toussaint, der Trompeter Kermit Ruffins und einige andere. Einige ehemalige und aktuelle Mitarbeiter der Times-Picayune kamen auch, von denen einige durch einen Blogeintrag in der New York Times von ihrer bevorstehenden Entlassung erfahren hatten. Der Schriftsteller Rodger Kamenetz hatte letzte Woche auf Facebook die Gründung einer neuen Zeitung vorgeschlagen, denn er befürchtet, dass die Times-Picayune, selbst wenn sie erhalten bliebe, möglicherweise kommerzieller und konservativer werden würden. Die Aktivisten sagen den Besitzern einen langen und heißen Sommer voraus. Es werden bereits T-Shirts gedruckt, eines trägt die Aufschrift: The Some-Times Picayune (Wortspiel: die Manchmal-Picayune).
Auch der Besitzer des Rock ‚n’ Bowl John Blancher war da und tanzte mit der Menge. Das Rock ‚n’ Bowl ist seit 1988 eine Institution in New Orleans, geht aber schon auf Anfänge von 1941 zurück. Es ist nicht besonders günstig gelegen (nur mit dem Auto erreichbar), aber dort gibt es neben den Bowling-Bahnen Musikkonzerte von richtig guten Bands. Das ist natürlich nichts für die ganz verbissenen Bowler, aber es macht Spaß! John Blancher meinte, dass die Times-Picayune gerade auch für Geschäftsleute in der Stadt eine wichtige Funktion habe. Nach einem Artikel über das Rock n’ Bowl 1989 war die Auslastung des Ladens von 60 auf 600 Spiele an einem Wochenende hochgeschnellt. Gestern gab es, soweit ich ersehen konnte, kein Programm im Rock ‚n’ Bowl, sonst wären viele der Demonstranten sicher gleich dageblieben.
Die Times-Picayune hat jetzt in kurzer Folge das Layout ihrer Webseite verändert und ist für mich fast unlesbar geworden. Auch über die aktuellen Aktivitäten und Proteste wird nicht berichtet. Dafür gibt es ein anderes heiß geliebtes Blatt, der Gambit Weekly, eine wöchentliche, früher kostenlose (jetzt vielleicht auch noch?) Programmzeitung, die schon immer lokaler, unkonventioneller und witziger war und auf der Webseite regelmäßig über die Querelen um die Times-Picayune berichtet. Noch ist zu dem Thema nämlich nicht alles gesagt.

Samstag, 2. Juni 2012

Vom Fressen und von der Moral

Eine kürzlich veröffentlichte Studie befasst sich mit dem Zusammenhang zwischen Essen und moralischem Handeln. Assistant Professor Kendall Eskine von der Loyola University in New Orleans hat sie kürzlich zur Veröffentlichung in der Fachzeitschrift Social Psychological and Personality Science eingereicht (hier). 
Für die Studie wurden den Probanden Fotos von Bio-Lebensmitteln oder von so genanntem „comfort food“ (Futter für die Seele, traditionelle Speisen) oder von „neutralen“ Lebensmitteln wie Reis und so weiter gezeigt. Dabei stellte sich heraus, dass diejenigen die vorher Bio-Lebensmittel betrachtet hatten, moralische Verfehlungen wesentlich stärker verurteilten  und auch weniger bereit waren, anderen zu helfen. Daraus schließt man, dass sich diese Menschen durch Bio-Lebensmittel in ihrer moralischen Identität bestätigt fühlen und ihr Wunsch nach altruistischem Handeln reduziert wird.  
Interessant finde ich, dass die Studie ausgerechnet in New Orleans und an der Loyola-Universität durchgeführt wurde, einer jesuitischen Hochschule in einer katholisch geprägten Stadt (die Süddeutsche nannte das Ergebnis der Studie treffend „moralischer Ablasshandel“). Loyola ist gleich neben der Tulane Universität an der St. Charles Avenue, direkt gegenüber dem Audubon Park. Sie (1912 gegründet) untersteht dem katholischen Jesuitenorden und hat heute fast 5000 Studenten aller Glaubensrichtungen. Trotz (oder wegen?) seiner katholischen Prägung hat New Orleans ja eine für die USA einmalige Esskultur, was die Menge, die Vielfalt, den Feingeschmack und die Zutaten betrifft. 
Unweit der Loyola University befindet sich der riesige Whole Foods Arabella Station an der Magazine Street, in dem Professor Eskine möglicherweise auch einkauft und sein Gewissen und seine Lust auf gutes Essen befriedigt? Whole Foods  (wörtlich in etwa „ganzheitliche Lebensmittel“) ist eine sehr teure, sehr verführerische Supermarktkette für Bio-Lebensmittel, die seit 1988 auch in New Orleans präsent ist; dort in der Arabella Station seit ca. 10 Jahren. Neben Biogemüse, Obst, Müsli usw. gibt es dort auch europäische Weine und Schokoladen, Kosmetik und fast alles, was das Herz begehrt. Meine Freundin Lil nennt den Laden „whole wallet“ (das ganze Portemonnaie), andere sagen „whole paycheck“ (der ganze Lohn), denn man geht dort schnell mit weniger Geld hinaus als geplant. Aber sollten all diese betuchten Kunden unmoralisch und egoistisch sein? 
Der Crescent City Farmer’s Market wird weniger besucht als Whole Foods, so habe ich es in Erinnerung, und das vielleicht nicht nur wegen der kurzen Öffnungszeiten. Er findet drei Mal wöchentlich an drei verschiedenen Orten in New Orleans statt, u.a. in Uptown, auf einem parkplatzähnlichen Gelände unweit von The Fly und Audubon Park und von Whole Foods. Farmer aus der Umgebung verkaufen dort direkt aus ihren LKWs und Lieferwagen, oft Afroamerikaner, und man sieht, dass sie nicht wohlhabend sind. Es gibt keinen Kaffee und keine Imbissstände, keine Musik, keine Schnörkel, nichts Verschönendes. Auf dem glühendheißen Platz verkaufen sie ihre Tomaten und Collard Greens, die eben oft nicht so knackig und perfekt aussehen wie in Whole Foods, denn – ich habe es selbst erlebt – die erbarmungslose Sonne und die noch erbarmungsloseren Schnecken, Insekten und was sonst noch so mitfrisst machen es fast unmöglich, in Südlouisiana Gartenbau zu betreiben. Auf dem Markt kommt man ins Gespräch, bekommt bodenständige Tipps zur Zubereitung und unterstützt nebenbei die lokale Landwirtschaft. Das ist nicht nur moralisch vergnüglich.
Übrigens wurde der Farmer's Market 1995 durch das Twomey Center For Peace Through Justice (Zentrum für Frieden durch Gerechtigkeit) der Loyola University ins Leben gerufen und das passt doch dann wieder.
* Crescent City ist einer der Spitznamen für New Orleans: Halbmondstadt, da das historische New Orleans, das French Quarter, in einer halbmondförmigen Krümmung des Mississippi angelegt wurde.