Freitag, 8. Juni 2012

Welten

Harry Shearer, Schauspieler, Satiriker, Multitalent, hat New Orleans zu seiner Wahlheimat gemacht und ist Lokalpatriot, ein heftiger Verteidiger, Fürsprecher und Aktivist, so 2011 in dem Dokumentarfilm The Big Uneasy und auch in der Radiosendung Le Show, die auf NPR Berlin immer Sonntag Abend ausgestrahlt wird. Am Mittwoch erläutert er in dem Artikel „The Sometimes Picayune“ im Columbia Journalism Review die besondere Funktion der Tageszeitung für die Stadt, Gegebenheiten, die  der Zeitungseigentümer Advance Publication offenbar nicht versteht, und so der Stadt dasselbe Modell überstülpen will wie Ann Arbor, Michigan, und drei Städten in Alabama. Shearer benennt auch einige Aspekte, die ich mir noch nicht bewusst gemacht hatte und deshalb besonders aufregend finde:
Dass New Orleans eine Großstadt mit menschlichem Maß ist, eine eher zweistöckige Gartenstadt, mit ein paar Hochhäusern im Central Business District und Hotelblöcken an der Canal Street und somit auch ein paar Straßenschluchten, das habe ich hier schon beschrieben. Harry Shearer beschreibt aber eine echte Gemeinschaft, wo die Menschen eine tiefe Verbindung zu ihrer Stadt, zu einander und zur Vergangenheit haben. Vor Hurrikan Katrina war New Orleans die amerikanische Stadt mit der höchsten „Nativitätsrate“, d.h. dem höchsten Anteil von dort geborenen Einwohnern. Die Feiertage (Karneval) und andere besondere Tage strukturieren den Kalender und man schätzt Institutionen wie die Times-Picayune. Diese hätte beispielsweise nach Ende des Amtsenthebungsverfahrens gegen Bill Clinton als einzige Tageszeitung nicht mit diesem sondern mit dem König der Rex-Parade getitelt, schließlich war Mardi Gras! Dazu gehört auch, dass es in der Stadt selbst nur wenige der großen nationalen Handelsketten gibt, dafür aber lokale Läden, Bars, Clubs.
Vor zwei Wochen legte Bürgermeister Mitch Landrieu einen Fünf-Punkte-Plan zur Bekämpfung der Kriminalität vor, die im Jahr 2010 sieben Mal so hoch wie der nationale Durchschnitt war. Dass davon vor allem junge Afroamerikaner betroffen sind, ist ein alter Hut. In der investigativen Serie der Times-Picayune zu Gefängnissen in Louisiana wurde ein Viertel in Central City gezeigt (hier), in dem die Mehrzahl der jungen Männer im Gefängnis sitzt und der Pastor über den Mangel an Chancen und Infrastruktur sprach. 
Da wurde mir schlagartig klar: Die Stadt, über die ich hier im Blog schreibe, ihre Kultur, Tradition, Filme, Essen, Literatur, auch Musik, ist für diese Menschen nicht die Stadt, in der sie leben. Es ist eine völlig andere Welt, die von diesen schönen Dingen abgeschnitten ist, sicher eigene schöne Dinge hat, aber vor allem auch Armut, Überlebenskampf, Gewalt, zerstörte Familien und Beziehungen, Verbrechen, Tod. Es ist eine Welt, mit der ich (und viele andere New Orleanser) fast nie in Kontakt gekommen bin, zum Glück. Eine Welt, die eine alternative Zeitung aus den USA von 1989 als „Dritte Welt“ bezeichnete. Ich wünsche es New Orleans sehr, dass Mitch Landrieus Plan auch in jener Welt etwas bewegen kann. 

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