Sonntag, 29. Juli 2012

Stephen King: Der Anschlag

Eigentlich passt Stephen King nicht in mein literarisches Beuteschema, aber sein letztes Buch, Der Anschlag (auf Englisch 11/22/63) hat mich doch interessiert. Erstens geht es darin um das Attentat auf John F. Kennedy, und der mutmaßliche Mörder, Lee Harvey Oswald, stammte nun mal aus New Orleans. Zweitens war dieser Roman wohl Kings Lebensprojekt, an dem er schon in den 70er Jahren angefangen hatte zu arbeiten, und Lebensprojekte beeindrucken mich. Drittens heißt es, dass Stephen King generell unterschätzt wird, und das wollte ich überprüfen. Und das habe ich mit Vergnügen getan, obwohl das Buch 1056 Seiten (mit Kings Nachwort) hat.
Hier ist die Geschichte: Jake Epping ist Englischlehrer in einer Kleinstadt in Maine. Er ist Anfang/Mitte 30, geschieden, ohne Kinder und lebt so seinen Alltag. Dazu gehören die häufigen Besuche in Al’s Diner, wo die Hamburger unglaublich billig sind, und ein Englischkurs für Erwachsene, die an ihrem Highschool-Abschluss arbeiten. Darunter befindet sich der Hausmeister der Schule, Harry, der wegen einer leichten Behinderung Spottopfer der Schüler ist. In einem Aufsatz zum Thema Der Tag, der mein Leben verändert hat beschreibt Harry, wie sein Vater die Mutter und die meisten seiner Geschwister mit einem Hammer erschlug und der neunjährige Harry nur knapp mit dem Leben davon kam. Harry erhält eine gute Note und später seinen Abschluss.
Eines Tages bittet Al, der Besitzer des Diners, Jake zu sich und erzählt ihm, dass man in seinem Keller in das Jahr 1958 zurückgehen kann und dass jedes Mal, wenn man zurückkommt, nur zwei Minuten vergangen sind, egal wie lange man dort war. Al hat das jahrelang so gemacht und billig das Fleisch für sein Restaurant eingekauft. Unter anderem hat er auch verhindert, dass ein junges Mädchen bei einem Jagdunfall getroffen wurde. Aber sein großes Ziel, auf das er sich jahrelang vorbereitet hat, wird er nicht mehr erreichen, weil er in den Jahren dort „drüben“ sterbenskrank geworden ist: den Anschlag auf John F. Kennedy zu verhindern. Dazu muss man nämlich in das Jahr 1958 zurückkehren und dann all die Jahre bis 1963 auch dort leben. Al hat alles genau erforscht, recherchiert und vorbereitet. Jake geht kurz hinüber und schaut es sich an, kommt zurück und legt sich schlafen. Am nächsten Morgen ist Al tot, und Jake macht sich allein daran, die Geschichte umzuschreiben.
Auf den folgenden 900 Seiten reist er also in der Zeit zurück, eine Reise wie in ein anderes Land. Die 50er Jahre scheinen sehr authentisch beschrieben zu sein, die Dialekte sind noch viel stärker ausgeprägt als heute, und überhaupt sprechen die Leute anders. Jake passt sich äußerlich schnell an, lässt sich die Haare kurz schneiden, trägt Anzug, Hut usw., aber durch seine Sprache verrät er sich doch beinah hin und wieder, und als er irgendwann Honky Tonk Woman von den Rolling Stones trällert, macht ihn der anzügliche Text verdächtig.
Er lebt zunächst in Derry, Maine, um ganz nebenbei auch noch Harry und seine Familie zu retten, und zieht dann weiter nach Jodie, Texas (beides fiktive Orte), das sich unweit von Dallas, dem Schauplatz des Anschlags, befindet. Derry hat ein denkbar schlechtes Karma, während Jodie genau das Gegenteil davon ist, denn dort schließt er Freundschaften, lässt sich nieder und wird der beliebte Lehrer, der im Leben seiner Schüler etwas bewirkt.
Und das ist auch die Prämisse des Romans: der Schmetterlingseffekt, wenn der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien also in Texas einen Tornado auslösen kann. Welche Auswirkungen hat unser Handeln? Was kann Jakes reine Anwesenheit und Existenz und dann erst seine Arbeit als Lehrer, sein Leben und Lieben bewirken, und das im Texas der 50er/60er Jahre? Und was dann erst das Verhindern des Kennedy-Attentats, und damit eines Ereignisses, eines Tags, das/der das Leben aller Amerikaner und wahrscheinlich die ganze Welt verändert hat? Auf dem englischen Titel heißt es: THE DAY THAT CHANGED THE WORLD. WHAT IF YOU COULD CHANGE IT BACK? (Und, ja, es gibt eine Liebesgeschichte, die beginnt, weil Jake begeisterter Swingtänzer ist und damit als eine Art Oldtimer prima in die fünfziger Jahre passt und die Bibliothekarin der Schule, Sadie, für sich einnimmt. Liebe Männer: Wenn ein Mann gut tanzen und führen kann, macht ihn das sehr sehr attraktiv.)
Nach Jakes Rückkehr in die Gegenwart sind die phänomenalen Konsequenzen seines Handelns unmittelbar sichtbar, und es zeigt sich, dass die Welt dadurch nicht besser geworden ist. Interessanterweise sperrt sich die Vergangenheit auch vehement dagegen, verändert zu werden. Am Ende ist Jake mehrmals zurückgekehrt, und letztendlich ist fast alles, wie es vorher war.
Das alles ist so spannend, dass sich das Buch so weg liest, trotz seiner kleinen Schwächen und obwohl es auch ein bisschen kürzer getan hätte. Das sexuelle Können von Sadie und Jake wird fast ein bisschen pubertär übertrieben. Der traurige Ausblick ins Jahr 2011 ist arg konstruiert und scheint, anders als die historischen Teile, schnell dahin geschrieben. Die Gewaltszenen sind für meinen Geschmack zu lustvoll und zu grausam detailliert dargestellt. Aber ich habe viel über die Zeitgeschichte gelernt, die aufmerksam und liebevoll geschildert wird, und noch mehr Einzelheiten über die Umstände des Kennedy-Attentats.
Zur Übersetzung von Wulf Berger: Solch eine Masse an Text will erst einmal bewältigt werden, wenn man anders als der Autor nicht 30-40 Jahre dafür Zeit hat, und ich vermute, dass die Übersetzung unter enormem Zeitdruck angefertigt wurde. Hier habe ich kaum das Original zu Rate gezogen, weil fast durchgängig noch das Englische hindurch schimmert. Ein Rezensent meinte sogar, der Übersetzer übersetze erst gar nicht und lasse es gleich auf Englisch stehen, und ein Satz ist tatsächlich im Original geblieben, den hat wohl das Lektorat übersehen. Das ist schade: Denn auch wenn Stephen King sicher nicht zur ganz großen Literatur gehört, so ist er doch ein fesselnder Erzähler, und die Idee des Buches und Handlung ist nicht nur faszinierend, sondern auch lehrreich und gewissermaßen philosophisch. Ich hoffe sehr, dass die deutsche Fassung noch einmal überarbeitet wird, damit das Buch auch auf Deutsch den ihm gebührenden Platz findet.
Hier die kleine Ironie des Unterfangens. In diesem Blog geht es um New Orleans. Lee Harvey Oswald stammte aus New Orleans und hat nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion, kurz bevor er nach Dallas zog, mit seiner russischen Frau Marina und Töchterchen June in New Orleans gelebt. Stephen King und sein Forschungsassistent haben zwar jahrelang recherchiert und sind durch die USA gereist, um die Schauplätze zu besuchen, aber um New Orleans scheinen sie einen riesengroßen Bogen gemacht zu haben. Über das Hotel Monteleone, das Jake zur Übernachtung empfohlen wird, haben sie sicher mal was gelesen oder gehört, und das Haus, in dem Oswald dort vor Dallas gelebt hat, findet man im Internet. Der Aufenthalt in New Orleans dauert knapp zwei Seiten und beginnt so: „New Orleans lag nicht auf meiner Route nach Dallas, aber seit die Pings meines Ahnungssonars verstummt waren, war ich in Touristenlaune... obwohl ich weder das French Quarter noch die Dampferanlegestelle Bienville noch das Vieux Carré besuchen wollte.“ (S. 366) Das ist kurios, denn Vieux Carré (Altes Viertel) ist einfach nur der französische Name für das French Quarter, aber es meint dasselbe. Immerhin kenne ich jetzt Oswalds Adresse: 4905 Magazine Street, ca. 5 Minuten von meiner letzten Wohnung entfernt. Ich habe dort mal bei einem Yard Sale ein Tischchen für meine Veranda gekauft, und anders als Stephen King fand ich das Haus nicht besonders bedrohlich. Hier ein Foto.
Das Buch hat übrigens fast ein Happy End. Das hat auch mit Swing zu tun und ist tatsächlich irgendwie bewegend.


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen