Montag, 16. Juli 2012

Moira Crone über New Orleans

MOIRA CRONE, die Autorin von THE NOT YET hat meinen Fragebogen zu New Orleans beantwortet. Hier ihre nachdenklichen und zum Nachdenken anregenden Antworten. Ich habe sie übersetzt und am Ende ein Glossar für Begriffserklärungen hinzugefügt.

New Orleans ist--- hell und dunkel, sowohl als auch.

Lieblingsort in New Orleans: Der Musikklub Spotted Cat. Mein eigenes Haus und Grundstück. Die Frenchman Street und das Faubourg Marigny am Fastnachtsdienstag.

Lieblingsgebäude: Zu viele.

Lieblingsessen: Austern, in jeglicher Zubereitungsform. Auch Butterkrabben, paniert und frittiert oder gedünstet.

Lieblingsmusiker: Panorama Brass Band, Rebirth Brass Band, Ingrid Lucia hat eine sehr schöne Stimme, die New Orleans Jazz Vipers, usw.

Lieblingstext:  Das Buch Degas in New Orleans; Das Erwachen mag ich auch sehr. Rising Tide ist auch hervorragend.

Lieblingsfilm:  Die HBO-Serie, Treme, und Benjamin Buttons.

Lieblingswort oder -ausdruck: Second line.

Passendster Spitzname für New Orleans: Ich kenne keinen.  “THE BIG EASY” und “THE CITY THAT CARE FORGOT” treffen es irgendwie nicht.  Dazu gehört viel mehr. 
Es sind Sätze, die von Leuten geprägt werden, die nicht in der Stadt leben, die es von außen betrachten (als eine Stadt, wo sie sich betrinken können, spielen, sich nicht an das Ungleichgewicht von Arbeit/Freizeit halten müssen, wie in den restlichen USA.)  Für Amerikaner von anderswo ist New Orleans eine Stadt, wo sie sich gehen lassen können.

Lieblingspersönlichkeit/figur aus New Orleans:  Ich hätte Uncle Lionel Batiste gesagt, aber der ist gerade gestorben.
Ich mag Kermit Ruffins sehr.  Er ist immer gut gelaunt und locker und hat eine fantastische Band. 
Dave Brinks ist ein ganz erstaunlicher Mensch:  Dichter, Urheber der Dichterszene (Die Serie 17 Poets im Goldmine Saloon), Impresario, Verleger, Historiker und Unterstützer der Künste und Künstler von überall her. Ihm gehört eine Bar im French Quarter, die das Herz des Dichterlebens in der Stadt ist.  Er ist das, was man einen großzügigen Mann nennt, einzigartig, ein New-Orleans-Original. 

Lieblings, hier nicht erwähnte -sache in New Orleans:  Die wenigen Male, die es geschneit hat (zwei Mal, im Dezember) ---der Schnee auf den Ingwerpflanzen und Palmen war völlig surreal. Sazerac-Cocktails in der Carousel Bar an einem kalten Dezembertag.

Wer sollte der Bürgermeister von New Orleans sein?  Landrieu ist gut, aber er hat die Polizeikultur nicht im Griff.  Sonst weiß ich niemanden.

Wie kann die Stadt ihre Mordrate senken?  Ein Anfang: Gut bezahlte Polizisten, die gezwungen sind auf der Straße und sichtbar zu sein, wie in den Neunzigern, als die Kriminalitätsrate stark gesunken war. Den Polizisten war es zu beschwerlich, die ganze Zeit auf der Straße zu sein, wie das in der Zeit von Bürgermeister Morial in den Neunzigern war. Sein Polizeipräsident war Pennington.  Er war aus Washington D.C., und hatte eine “Null-Toleranz”-Linie wie damals in New York. Die Kriminalität ist gesunken.  Jetzt haben wir wieder die Politik der Ära vor Morial. 
So wie es jetzt ist, verdienen die Polizisten in einer Ära mit hoher Kriminalität sogar mehr, weil sie mehr “details” haben, also private Verdienstmöglichkeiten als Sicherheitsbeamte nebenbei. Das ist für Polizeibeamte eine Haupteinnahmequelle.  Dieses System ist so eingefahren, dass Landrieu es scheinbar nicht durchbrechen kann – oder, da er seitens der Polizei viel Unterstützung erfährt, keine Motivation hat zu durchbrechen. Wegen der Korruption hat das Justizministerium die Polizeibehörde übernommen und besteht darauf, dass diese “details” aufhören – die Polizisten vergeben diese zusätzlichen Aufträge innerhalb ihrer Abteilungen und erweisen einander Gefallen usw. mit solchen „Boni“. Korruption, Bestechung und Nachlässigkeit sind das Ergebnis. 
Außerdem brauchen wir mehr Mentoren und Hilfe für junge Männer, damit sie nicht zu Drogendealern werden. Immer mehr Schulen und Ausbildungsprogramme, um jungen Männern andere Möglichkeiten zu eröffnen. Drogen sollten auch legalisiert werden, so dass das Dealen nicht mehr lukrativ ist.
In den letzten zwei Jahren war ich drei Mal Geschworene. In zwei Fällen waren es Verbrechen im Zusammenhang mit Drogen, und einmal ein Mord unter sehr jungen Männern. Der Mörder hatte den Drogendealer hauptsächlich aus Übermut und Angst angegriffen. Keiner der Geschworenen, egal von welcher sozialen Klasse oder Rasse, war der Meinung, dass die Drogengesetze so bleiben sollten, wie sie sind. Zu viele Gefängnisstrafen, zu viele Verhaftungen für Bagatellverbrechen, zu viele Anreize, Drogen zu verkaufen und Teil dieser Subkultur zu werden. 

Warum ich in New Orleans lebe: Vor allem lebe ich in New Orleans, weil die Leute hier von Natur aus kreativ sind.  Egal, wen man trifft, alle betreiben irgendeine Kunst. Der Baufirmenbesitzer hat eine Band, der Augenarzt ist ein guter Fotograf, die reiche Dame ist Freiluftmalerin, der Bezirksstaatsanwalt ist Jazzmusiker, der Barkeeper schreibt Krimis, der Kneipenbesitzer ist Dichter, der junge Mann, der im Supermarkt arbeitet, ist Rapper. Kreativ zu sein ist hier nicht mit Stigma behaftet, eine „Kunst“ zu betreiben oder eine „re“kreative Beschäftigung, wie Mitglied in einer Karnevalskrewe zu sein, sich zu maskieren, in Karnevalsumzügen mitzulaufen. Man wird hier dazu animiert, bei Festlichkeiten völlig seine Persönlichkeit abzulegen. Allgemein sind ja die Südstaaten sehr protestantisch geprägt, ich meine hier den Bible Belt (Bibelgürtel): sehr sittsam. Ich bin im Mittleren Süden aufgewachsen und dort assoziierte man das Künstlerdasein mit emotionaler Instabilität, usw., als verrückt, unnormal. Vielleicht ändert sich das gerade, aber in New Orleans gab es diese Ansicht noch nie. Man kann auch Amateur sein, das ist kein Problem.  Mehr als eine Kunst zu betreiben, ist auch gut.
In New Orleans gibt es auch ein sehr tiefes afrikanisches Akzeptieren des Todes und man besteht darauf, dass Leben zu feiern, was ja das Thema des Second-Line-Tanzens nach den Beerdigungen ist. Dieses Verständnis, dass jeder Moment einen neuen Tanz braucht und das Annehmen und Bestehen auf Freude und etwas Neuem – Improvisation – im Angesicht des Verfalls und des Todes, das ist die Grundidee in New Orleans. 

Was ich an New Orleans am wenigsten mag: Dieses Gefühl der Ausweglosigkeit von manchen, die in Armut leben, die tief verankerte Verzweiflung, die manche Menschen empfinden. Die Gewalt, die das mit sich bringt. Die Afroamerikaner sind zutiefst traumatisierte Menschen, die manchmal keine Hoffnung haben. Sie können in einen absoluten Nihilismus verfallen, wegen der Vergangenheit: das kann natürlich jeden betreffen, aus jeder Bevölkerungsgruppe, aber unter den Schwarzen in New Orleans ist das sehr latent. Die Sklaverei war ein furchtbarer Anschlag gegen das Menschsein und überall finden sich noch die Narben. Die Auswirkungen der starken Traumatisierung einer ganzen Bevölkerung, die über Generationen vererbt wird, bringt viele soziale Probleme mit sich – denn das Familiengedächtnis, die Narben der eigenen Eltern und Großeltern, die extrem entwürdigende und absolut grausame Behandlung in der Vergangenheit, darüber wurde noch nie gesprochen, das wurde nicht aufgedeckt und nicht verarbeitet. Wut und Paranoia überkommen Schwarze manchmal in Situationen, die Weiße gar nicht wahrnehmen, weil sie nicht auf diese Weise verletzt sind. Das führt zu vielen Missverständnissen.
Die Weißen müssen das sehen, nicht einfach nur behaupten, dass Schwarze grundlos labil oder ängstlich oder gewalttätig sind, und die Schwarzen müssen die Wurzeln für den Zorn, den Selbsthass und die Angst besser verstehen, die manchmal ihre Sicht auf die Welt prägen. Durch die Gewalt bleiben diese anderen Traumata immer weiter bestehen—auch das muss aufhören.
Was mir an New Orleans auch nicht gefällt, ist die Einstellung der Touristen und wie sie sie zeigen – dass die Stadt nur zu ihrem Vergnügen da ist, dass sie ein Witz ist, ein alberne Stadt, nicht ernsthaft, eine Stadt zum Trinken und Pissen.

Was die meisten nicht über New Orleans wissen: Gegenüber den restlichen USA ist es oft nicht rückschrittlich – wie alle immer sagen – sondern einen Schritt voraus. Damit meine ich, dass Dinge, die im Rest des Landes kulturell und politisch geschehen, in New Orleans und Louisiana zuerst geschehen, nicht zuletzt. Das betrifft natürlich die Musik – Jazz – aber auch in der Politik und beim Essen. Es gibt in New Orleans eine progressive Strömung, die ganz und gar nicht typisch für die Südstaaten ist.
Zum Beispiel, die Bemühungen, die Rassentrennung (die Jim-Crow-Gesetze) aufzuheben, der erste zivile Ungehorsam in diesem langen Kampf, fand in New Orleans statt und führte zu dem Urteil Plessy vs. Ferguson, „separate but equal“ (getrennt aber gleichwertig), das natürlich die Bürgerrechte um Generationen zurückgeworfen hat. Aber es war der erste Versuch, das erste Mal, dass die Rassentrennung in einem vorsätzlichen, geplanten Akt des Widerstands in Frage gestellt wurde – um ein Urteil zu einem Gesetz herauszufordern. Das passierte in New Orleans.
Vieles, was später uramerikanisch wurde, Dinge, die die Sicht der USA auf sich selbst geändert haben, gab es zuerst in New Orleans.

Meine New Orleans-Expertise: Ich bin 1995 nach New Orleans gezogen und lebe seit 17 Jahren dort. In Louisiana lebe sich seit 1981 und von 1983 bis 2009 habe ich an der Louisiana State University Kreatives Schreiben unterrichtet.

Glossar:
Faubourg Marigny: Französisch für Marigny-Vorstadt, ein Stadtteil gleich neben dem French Quarter. Spotted Cat und Frenchmen Street sind im Faubourg Marigny (the Marigny).

Degas in New Orleans: von Rosary Hartel O’Neill

Das Erwachen: The Awakening von Kate Chopin, siehe meine Rezension.

Rising Tide: The Great Mississippi Flood of 1927 and How it changed America von John Barry

Treme: Serie von David Simon und Eric Overmyer, deren dritte Saison ab 23. September ausgestrahlt wird. Ab August soll die Serie auf Deutsch bei Sky Atlantic HD gezeigt werden.

Benjamin Buttons: Film nach einer Kurzgeschichte von Francis Scott Fitzgerald mit Brad Pitt und Cate Blanchett (2008).

Second line: eigentlich „zweite Reihe“ ist das Marschieren und Tanzen hinter einer Marching Band, die zum Beispiel bei einer Jazzbeerdigung aufspielt. Typisch und nur in New Orleans.

Carousel Bar: im historischen Hotel Monteleone im French Quarter

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen