Mittwoch, 12. September 2012

In Missouri

Wenn man wissen möchte, was mit „middle America“ gemeint ist, sollte man unbedingt nach Missouri reisen. Nach St. Louis oder wie ich nach Branson, wo vor allem das „middle America“ im Rentenalter hinfährt, in den Ozarks, einem Mittelgebirge im Südwesten von Missouri, gelegen. Man fährt nach Branson, um sich für unerhört hohe Eintrittspreise irgendwelche „Shows“ anzusehen, Schnulzensänger, Komiker, chinesische Akrobaten, die alle ihre eigenen Theater haben. Ich habe auch Werbung gesehen für „Southern Gospel“, fünf weiße Männer in Anzügen, für zwölf Tenöre aus Kentucky, auch für Cajun-Bands. Entlang der hügeligen Straßen reiht sich Kettenrestaurant an Kettenhotel und Theater an Rummelattraktion. Einen Damm mit einem künstlichen See gibt es auch, den Table Rock Lake, den das US Army Corps of Engineers betreibt und wo es sich in einem Besucherzentrum erklärt. Branson ist ein Urlaubsort, wo das Künstliche gefeiert wird.
Wir haben uns wieder einmal das klassische Freilufttheaterstück „Shepherd of the Hills“ (Schäfer der Berge) angesehen, das vor 100 Jahren in den Ozarks spielt. Am Anfang wird die Nationalhymne gespielt und die Reiter laufen mit Pferden und Fahnen eine Choreographie ab, während alle aufstehen und die Hand aufs Herz legen. Dann werden die Veteranen gebeten aufzustehen. Es wird noch ein wenig herumgescherzt, mit uns wenigen Besuchern an einem Montag im September, und dann fängt es ganz einfach und nahtlos irgendwie an. Es geht um böse Banditen, die alle terrorisieren, ein schönes Mädchen, das mehrere Männer begehren, um Liebe, Tod, Vergebung und Rache. Es geht einigermaßen glimpflich aus, aber vorher wird herumgeballert und geschrieen, getanzt und darüber philosophiert, was eine Lady ausmacht. Eine wichtige Rolle spielen die Pferde, mit denen man auf die Bühne gefegt kommt, als Reiter oder in einer Kutsche, oder die Maultiere, die mit den Pferden am Rand herumstehen, und vor allem auch die kleine Schafherde, die an einer Stelle mit Karacho von links nach rechts über die Spielfläche jagt. Eine Hütte wird auch in Brand gesetzt. Das alles ist so spannend, dass man kaum bemerkt, wie es dunkel geworden ist und die Sterne am klaren Himmel funkeln.

Nur um dieses Stück ein zweites Mal zu sehen, bin ich natürlich nicht nach Branson gefahren. Ungefähr zehn Meilen nördlich der Stadt befindet sich das Bonniebrook-Museumshaus für die Künstlerin Rose O’Neill, die dort mit ihren Eltern und Geschwistern, zeitweise auch mit Ehemännern und Künstlerfreunden bis 1944 lebte. Etwas versteckt in den dichten Laubwäldern der Ozarks liegt das Haus an einem Bach, den sie Bonniebrook nannte. Rose O’Neill ist die Erfinderin und Schöpferin der „Kewpie Dolls“, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts ein Renner waren, als Puppen, als Illustrationen, als Comic, auf Tellern usw. Nur wegen der „hässlichen Puppen“, wie sie mein Onkel etwas nonchalant bezeichnete, muss man natürlich nicht dorthin fahren. Doch mit ihren Kewpies traf Rose O’Neill den Geschmack der Zeit, konnte ihre eigene finanzielle Unabhängigkeit sichern und über Jahrzehnte hinweg für ihre gesamte Familie sorgen. Ursprünglich aus Omaha, Nebraska, zog sie nach New York, studierte in Paris und unterhielt neben anderen ein Haus auf Capri. Sie war eine gefragte Illustratorin für den Cosmopolitan und viele andere Zeitschriften, schuf auch Bilder mit weiblichen Sagengestalten, im Jugendstil, ebenso wie Skulpturen. Sie war nicht nur eine unabhängige Frau, die sich in ihrer Kleidung nicht dem Modediktat unterwerfen wollte und frei schaffen wollte, sie setzte sich auch mit ihrer Arbeit massiv für das Frauenwahlrecht ein. Salons unterhielt sie auch. Und dann ist das Haus einfach wunderschön (wenn auch, nachdem es 1947 abgebrannt war, erst in den 1990er Jahren wieder aufgebaut), mit vielen Fenstern und tiefen Erkerfenstern an eingebauten Sitzbänken zum Lesen, einer großen, lichten Küche, und vielen vielen (Schlaf-)zimmern für Familie und Gäste, insgesamt 14. Beeindruckend ist ihr Studio ganz unter dem Dach, große Fenster unter großen Bäumen, mehrere Balkone, eine einladende Liege für kreative Nickerchen. Die Bonniebrook Historical Society wurde von einem älteren Herrn aus Arkansas vertreten, der uns herumführte und schnell außer Atem geriet, und von einer distinguierten Dame aus Connecticut, die die Kasse und den Empfang bediente. Nicht zu vergessen die kleine getigerte Katze „Bonnie“, die uns auf dem Rundgang begleitete.
Am Wochenende des 21. und 22. September gibt es in Bonniebrook das Third Annual Faerie Gathering and Sweet Monsters Ball (am Freitag Kostümball mit Preis für das beste Kostüm; am Sonnabend kommen verschiedene Künstler und es werden wohl wieder winzige Feenhäuschen gebaut werden). Nur für den Fall, dass es jemanden in die Gegend verschlagen sollte...

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