Donnerstag, 3. November 2011

Helen Hill und Dinerral Shavers

Ich habe heute einen (eigentlich zwei) Kommentar(e) zu einem Artikel in der Zeit geschrieben: "Polizei hält  das multikulturelle Amerika zusammen" von Eva Schweitzer am 29. September 2011. Mein Kommentar geht ungefähr so: Hier noch eine Ergänzung zur besonderen Situation in New Orleans.
Dass gerade der Mord an Helen Hill im Januar 2007 einen Aufschrei zur Folge hatte, lag daran, dass nur eine knappe Woche vorher der 24-jährige Dinerral Shavers erschossen worden war. Shavers, aus der Ninth Ward in New Orleans, war Trommler der beliebten Hot 8 Brass Band und hatte an der gerade wieder eröffneten L.E. Rabouin High School ein Marschorchester gegründet. Musik, glaubte er, ist lehrreich und wer ein Instrument in der Hand hat, kann keine Waffe in der Hand haben.
Helen Hill, Harvard-Absolventin aus South Carolina, war Dozentin am New Orleans Center for Creative Arts (NOCCA), einer Art Kunstgymnasium, aus dem viele bekannte Musiker hervorgegangen sind. Auf Graswurzelebene engagierte sie sich u.a. für den Wiederaufbau. Wie so viele andere Künstler und Intellektuelle hatte es sie und ihren Ehemann, Paul Gailiunas wegen der einzigartigen Kultur und Geschichte in die Stadt gezogen, auch und bewusst wieder nach Katrina. Gailiunas, ursprünglich aus Kanada, hatte als Arzt eine Klinik für Arme mitbegründet.
Im Fall Dinerall Shavers weiß man, dass die Schüsse eigentlich seinem 15jährigen Stiefsohn galten; doch der Fall Helen Hill ist bis heute ungeklärt. Ihre Familie betreibt eine Webseite; Paul Gailiunas hat gerade einen von ihr begonnenen Film fertig gestellt und auf dem New Orleans Film Festival präsentiert. Was Dinerall Shavers und Helen Hill von den „gewöhnlichen“ Morden abhob, war genau, dass sie der in die Höhe geschnellten Kriminalität kulturelle Betätigung, Volkskultur im besten Sinne, entgegensetzen wollten.
Etwas mehr als ein Jahr zuvor, 2005, hatte New Orleans den Hurrikan Katrina und vor allem seine Folgen erlebt und schon deshalb kann es nicht einfach in einer Reihe mit den anderen Problemstädten genannt werden. Der Hurrikan hatte die Bausubstanz letztendlich weniger beeinträchtigt, als man gemeinhin denkt. Aber die Stadt war wochenlang zwangsevakuiert worden, auch die Bewohner der verschont gebliebenen Viertel mussten ihre Häuser räumen, und es patrouillierte Militär und National-Guard-Truppen anderer Bundesstaaten. Müllabfuhr, Elektrizität und andere grundlegende Dienstleistungen funktionierten monatelang nicht; Schulen blieben geschlossen, Versicherungszuständigkeiten unklar, es wurden beschädigte Häuser weggerissen. Monatelang, jahrelang blieb vor allem die untere Mittelschicht, oft Kreolen, darüber im Unklaren, ob sie zurückkehren könnte oder nicht, ob sie ihrer Häuser wieder bewohnen, sie Arbeit finden und ihre Kinder zur Schule schicken können würden. So sind sie in Houston oder Atlanta geblieben. Die Bevölkerungsstruktur wandelte sich, mexikanische Tagelöhner übernahmen jetzt zum Beispiel die Abrissarbeiten. Nach einigen Monaten der Ruhe kehrten Drogen und das organisierte Verbrechen geballt zurück. Die stabilisierende untere Mittelschicht war nicht mehr da, viele Straßen immer nur noch sporadisch bewohnt und somit unsicher.
Dass die Stadt arm ist und manche ihrer Viertel schon in den 1980er Jahren als „3. Welt“ bezeichnet wurden, das ist auch nationale Politik, die nach Katrina fortgesetzt wurde (der republikanische Nachbarstaat Mississippi erhielt zum Beispiel viel schneller Aufbauhilfen). Korruption und Filz in New Orleans sind hausgemacht, und ein Teil davon liegt auch in den Händen von Afroamerikanern und Kreolen, die letztendlich am meisten von der Gewalt betroffen sind. 
New Orleans braucht ganz sicher mehr als eine effektive Polizei. Aber ein Anfang wäre es.

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