Samstag, 24. März 2012

Von Literatur und historischen Verwerfungen

Sonntag ist der letzte Tag des Tennessee Williams New Orleans Literary Festival, das seit Mittwoch läuft. Seminare, Lesungen, Veranstaltungen mit unzähligen Autoren aus den gesamten USA. Dabei ist auch eine junge afroamerikanische Autorin Gwen Thompkins, ursprünglich aus New Orleans, die sich wie so viele zuerst in der Tageszeitung New Orleans Times-Picayune ausprobierte, bevor sie Redakteurin und Ostafrikakorrespondentin für National Public Radio war. Vor kurzem habe ich von ihr eine Radiokolumne über politische Meinungsverschiedenheiten gehört. Der Eintritt zum Festival ist teuer geworden und es gibt unglaublich viele Vortragende und Vorträge. Morgen endet es mit dem bereits beschriebenen Stanley and Stella Shouting Contest.
Dieser Tage hörte ich auch noch über ein anderes Literaturfestival: Das Internationale Poesie-Festival Meridian Czernowitz, das vom 6. bis 9. September 2012 stattfindet und nach Paul Celans Büchnerpreisrede von 1960 benannt ist. Das ehemals habsburgische, dann rumänische, heute ukrainische Czernowitz war ja die Heimatstadt von Paul Celan, Rose Ausländer, Gregor von Rezzori und vielen anderen, und auch von Joseph Schmidt, dem Sänger von „Ein Lied geht um die Welt“. In den neunziger Jahren rückte die Stadt in dem Film Herr Zwilling und Frau Zuckermann auf den deutschsprachigen Radarschirm und seit 2005 können wir dorthin visafrei reisen. 
Ich fühlte mich dort wie im falschen Film, eine historische Stadt mit den falschen Menschen. Doch seit damals beeindruckt es mich, wie man versucht, an die dort vergessene Vergangenheit anzuknüpfen, eben zum Beispiel mit diesem Festival. Die Teilnehmer kommen vor allem aus der Ukraine, Polen und deutschsprachigen Ländern. Es kommen auch Pierre Joris aus den USA und Hans-Michael Speier aus Berlin.
Was das mit New Orleans zu tun hat? Hier Auszüge aus einem Exposé, das ich 2006 schrieb:
Nach der Aufhebung der Visumpflicht für die Ukraine 2005 beschloss ich, von Krakau aus nach Tscherniwzy zu fahren, auf den Spuren von Paul Celan. In strömendem Regen stapfte ich durch die Straßen und suchte nach dem mythischen Czernowitz, nach Zipfeln seiner farbenreichen und schmerzlichen Geschichte. Doch ich fand, so schien es, nur Gebäude, Gedenktafeln, Grabsteine...
Kurz nach meiner Rückkehr Ende August 2005 kamen schlechte Nachrichten aus New Orleans: Hurrikanwarnung, Evakuation, Erleichterung, als Katrina an der Stadt vorbeizog, dann die gebrochenen Dämme, die Überflutung und Verwüstung, die Verzweiflung und Not der Flüchtlinge, die ausbleibende Hilfe.
Auf den ersten Blick scheinen Czernowitz/Tscherniwzy und New Orleans nichts gemeinsam zu haben. Die eine Stadt liegt auf dem eurasiatischen Kontinent, mit entsprechendem Klima und Vegetation, galt als vielsprachig und multikulturell und wechselte allein in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrmals die nationale Zugehörigkeit, Kultur und Sprache. Die andere ist eine subtropische Hafen- und Touristenstadt am Golf von Mexiko, gilt als rein englischsprachig und gehört seit 1803 zu den USA. Die eine war die Hauptstadt eines Landes, in dem „Bücher und Menschen“ lebten und ist der Ursprungsort der „Todesfuge“; die andere ist bekannt als „the Big Easy“ und die Geburtsstätte des Jazz. Die eine gilt als „verschollene Stadt“; von der anderen meinen einige, daß sie nicht wieder aufgebaut werden sollte. Das Trauma, das die beiden Städte – um 60 Jahre versetzt – erlitten haben, ist nicht vergleichbar: Czernowitz wurde vom Zweiten Weltkrieg und von der Shoah heimgesucht und darin ausgelöscht. New Orleans versank in den menschengemachten Folgen des Hurrikans. Und doch gibt es Parallelen.
Vor der Katastrophe waren sowohl Czernowitz als auch New Orleans stolz auf ihre einzigartige „Persönlichkeit“ und Identität. Beide verstanden sich als Vorposten einer Kultur und als Hort der kulturellen Differenz: Czernowitz als mitteleuropäisch innerhalb von Osteuropa und New Orleans als karibisch/kreolisch in Nordamerika. Beide Städte waren multikulturell, fortschrittlich und emanzipiert in einem unterentwickelten traditionellen Umland. Und tatsächlich waren es Kulturstädte, in denen die Beschäftigung mit und die Ausübung von Kultur zum Alltag gehörten, in Form von Hochkultur, die genossen und geschätzt wurde, die aber auch Bestandteil der eigenen, gelebten, „ethnischen“ Kultur war. Widmete man sich in Czernowitz vor allem der Literatur, so lebte und atmete man in New Orleans Musik. Ihre jeweilige Katastrophe hatte eine dramatische Veränderung der Bevölkerungsstruktur zu Folge, die im Ergebnis ähnlich ist: Die jüdischen Bewohner von Czernowitz, die während des Zweiten Weltkriegs und der Shoah vertrieben bzw. vernichtet wurden, sind durch Ukrainer und Russen ersetzt worden, während in New Orleans mexikanische Tagelöhner die Arbeitsstellen der zuvor meist afroamerikanischen Arbeiter (oft Kreolen) übernommen haben, die wegen des Mangels an erschwinglichem Wohnraum und funktionierenden Schulen nicht aus der Evakuierung zurückkehren konnten. Dies sind aber genau die Bevölkerungsgruppen, deren kulturelle Ausdrucksformen (d.h. Literatur bzw. Musik) die Kultur und die Identität ihrer Städte und die Selbstwahrnehmung ihrer Bewohner besonders geprägt haben. Nach der Katastrophe haben beide Gruppen ihre Städte aus der Ferne besungen, beschrieben und beklagt. Jetzt scheinen sie beide nur noch als Legende, in der Erinnerung und in der Literatur oder Musik zu existieren: Das historische Czernowitz verschwand mit dem Zweiten Weltkrieg, so heißt es, und möglicherweise erleben wir gerade den Untergang von New Orleans."
So schrieb ich 2006. Vieles davon ist immer noch wahr, doch New Orleans lebt weiter, das weiß ich jetzt. Viele seiner Bewohner fehlen immer noch, aber es überlebt auch dank seiner Feste und Traditionen (Mardi Gras und auch das Tennessee Williams Festival wurden gleich 2006 wieder gefeiert) und dank seiner Kunst und Kultur. Czernowitz wünsche ich, dass es - auch durch dieses Festival - seine Seele, seine Vergangenheit wieder findet. Es ist auf einem guten Weg, glaube ich. 

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