Es ist nicht mehr zu übersehen: winzige Kälbchen und Fohlen auf den Weiden, Schneeglöckchen und Krokusse hinterm Haus. Und ein flirrendes zartes Netz aus Vogelgezwitscher liegt in der Luft. Aber als noch nichts darauf hinzudeuten schien und es morgens noch grau und gefroren war, da gab es erst einmal nur eine Farbe: das Gelbgrün an den Stämmen der Eschenahorne. Bei näherer Betrachtung ist es ein trockener Bewuchs, kein Moos, eher wie eine Rinde aus tausenden grünen Blütchen.
Der Eschenahorn, dieser Eindringling aus den USA, war mal wieder der erste!
Auch in Louisiana sind die fremdländischen Invasoren, die sich wegen fehlender Feinde ungehindert ausbreiten können, immer die ersten. Der eine ist Chinese Privet, Chinesischer Liguster, der Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde und die Strauchlandschaft dominiert, einheimische Pflanzen erstickt und die gesamte Pflanzengemeinschaft verändert. Ähnlich sieht es mit dem Chinese Tallow aus, Chinesischer Talgbaum, der u.a. zur Herstellung von Biodiesel dient. Es hält sich immer noch das Gerücht, dass Benjamin Franklin die Pflanze in den Süden der USA eingeführt hat.
Tja, und dann wäre da noch Kudzu aus Japan, dem der National Geographic letztens ein kleines Artikelchen gewidmet hat. Kudzu ist auch als Nahrungsergänzungsmittel erhältlich, es soll beim Raucherentzug helfen und bei Wechseljahrbeschwerden. Das Bundesinstitut für Risikobewertung schreibt: „Es liegen keine Berichte über schädliche Wirkungen des Wurzelpulvers usw. vor.“ Na, wenigstens das.
Kudzu wächst sehr dekorativ, denn es legt sich wie ein romantischer grüner Schleier über alles und verbreitet sich rasant über den gesamten amerikanischen Süden, wie ich selbst im Laufe der Jahre beobachtet habe. Kudzu ist ein bisschen wie der leidenschaftliche Beau: Man könnte es für unendliche Liebe halten, aber eigentlich geht es um Kontrolle; er drückt einem die Luft zum Atmen ab und duldet niemand anderes im Leben der Geliebten. Kudzu hat Wurzeln, die sich bis zu dreieinhalb Meter in den Boden graben und ursprünglich gegen Bodenerosion helfen sollten. Unter dem dichten, schweren Vorhang stirbt alles andere ab und selbst Telefonleitungen zerreißen. Da nützt es auch nichts, dass die Pflanze schön duftet und hübsche Blüten hat. Man experimentiert mit Pilzen, auch Schafe und Ziegen sollen gut sein. Aber eine wirkliche Lösung ist noch nicht in Sicht.
Hier ein Foto aus dem Internet von Galen Parks Smith:
Vielleicht noch zwei Frühlingszeichen:
Der Frühling zwischen Kuba und den USA begann im Dezember mit raschen, aber vorsichtigen Annäherungen. Am Sonnabend, 14. März 2015, fand jetzt seit 1958 der erste Direktflug von New Orleans nach Havanna statt, die beide historisch nicht nur ihre quasi-karibischer Charakter verbindet, sondern auch die gemeinsame koloniale Geschichte unter den Spaniern. Es war vorerst nur ein Charterflug für 80 Geschäftsreisende und zivile Aktivisten, die an einer Cuba Hoy-Konferenz (Kuba heute) teilnehmen wollten. Hier. Ich nehme an, dass es auch einen Rückflug geben wird.
Und: Letzte Woche war die sehr komische Radio-Quizsendung Wait Wait Don’t Tell Me zu Gast im Saenger Theatre in New Orleans, und das war etwas ganz Besonderes. Der Moderator Peter Sagal begann zwar mit einem etwas abgegriffenen Witz, aber eigentlich war alles sehr warmherzig und fröhlich, richtig New Orleans eben, und als dann noch der junge, wirklich begnadete Posaunist Trombone Shorty (*Troy Andrews) bei Not My Job lauter abwegige Instrumente raten sollte (Der Mann ist Musiker! Kein Wortmensch, aber er erzählte von seinen Anfängen als 5-Jähriger mit Band im French Quarter...), da wurde er nach der ersten falschen Antwort von einer riesigen Welle aus Vorsagen und Applaus und Liebe durch den Rest der schwierigen Übung getragen. Der Moderator meinte: „They really love you here.“ They do! Und ich wäre so gern dabei gewesen.

Mittwoch, 18. März 2015
Dienstag, 17. Februar 2015
Verschiedenes
Was wir dieses Jahr schon alles verpasst haben:
1. Den 200. Jahrestag der Schlacht von New Orleans am 8. Januar 1815, die im ein paar Kilometer entfernten Chalmette am Mississippi gefochten wurde. Es war eine der letzten Schlachten des Britisch-Amerikanischen Krieges, des vielleicht ersten Krieges, den die junge USA 1812 angefangen hatte. Auf britischer Seite waren sehr hohe Verluste (2700, gegenüber 71 Amerikanern) zu beklagen, weil die Soldaten in klassischer Gefechtsformation antraten und reihenweise niedergemäht wurden. Nach Ende der Schlacht erfuhren die Kriegsparteien, dass bereits am 24. Dezember 1814 der Friedensvertrag von Gent geschlossen worden war, der erst im Februar 1815 durch die USA ratifiziert wurde. Andrew Jackson war der erfolgreiche Befehlshaber, der schließlich 1829 siebenter Präsident der USA wurde. An ihn erinnert auch die Reiterstatue auf dem Jackson Square, dem früheren Place d’Armes, im French Quarter. Die Originalstatue befindet sich im Lafayette Park in Washington, D.C., unweit des Weißen Hauses, ein weiterer Abguss in Nashville, Tennessee, und schließlich wurde 1987 noch einer für Jacksonville, Florida angefertigt. Jackson ist besonders auch für sein grausames Vorgehen gegen die Indianer bekannt. Eine wichtige Rolle in diesem Krieg spielte auch der Pirat Jean Lafitte, nach dem zum Beispiel ein State Park benannt ist.
2. Heute ist schon wieder der letzte Tag der Mardi Gras-Saison (der Fat Tuesday), an dem besonders viele Paraden stattfinden, u.a. Rex und Zulu. Vor einigen Wochen hatte jemand auf Facebook ein Heimvideo aus den 1950er Jahren eingestellt, das beim Mardi Gras gefilmt worden war. Ohne Ton sah man Bilder aus dem French Quarter, wo sogar das Publikum aufwändig und phantasievoll verkleidet war. Auch das hat sich sehr geändert, denn heute wird Karneval eher konsumiert. Es gibt die Krewes, die die Gefährte (meist riesige LKW) schmücken und sich selbst maskieren. Die Maskierten werfen von den Wagen Plasteperlenketten, bedruckte Becher, Doubloons (eine Art Münzen) und anderen Tinnef in die Menge, die darum heftig kämpft, und selbst fast nie verkleidet ist. Ein aktuelles Video zeigt die 610 Stompers, die am Sonntag in der ganz und gar männlichen Krewe of Toth-Parade in hellblauen Shorts getanzt haben und nach eigener Erklärung als Männer Freude in die Welt bringen wollen. Gerade in New Orleans ein guter und wichtiger Vorsatz. Während der ganz und gar weiblichen Muses-Parade am Donnerstag kam es am Rande zu einer Auseinandersetzung, bei der zwei junge Männer erschossen wurden. Ein 19-Jähriger war der Täter. Manchmal tanzt beim Mardi Gras sogar die Polizei mit, hier.
3. In Louisiana gibt es weitgehend noch eine sehr lebendige Volkskultur, die natürlich vor allem auf dem Lande betrieben wird: Cajun Mardi Gras, Festivals mit Musik, Tanz, Essen und wöchentliche Tanzveranstaltungen, bei denen alles von 8 bis 80 Cajun-Tänze tanzt, immer im Kreis durch den Raum und mit wechselnden Partnern. Man nennt das Fais Do Do, eigentlich ein beschwichtigender Spruch in der Babysprache zum Einschlafen, weil die Frauen ihre kleinen Kinder oft zu den Bällen mitbrachten, die dann dort in einem extra Raum (parc aux petits) schlafen sollten. Das ist die traditionelle Erklärung. Eine andere führt den Begriff auf Dos à Dos, einen Ruf für einen Tanzschritt im Contra Dance zurück. (Hier.) Jetzt gibt es eine Webseite, die an viele, auch heute nicht mehr existierende Dancehalls erinnert, eingerichtet vom Center for Louisiana Studies. Aufgelistet sind dort auch die noch heute geöffneten Dancehalls, davon, und das ist keine Überraschung, die meisten in Lafayette, Eunice, Breaux Bridge, Mamou, wo die Cajun-Tradition noch gepflegt wird. Sehr schön und interessant.
Sonntag, 4. Januar 2015
Paul Morphy
Wenn ich Leuten erzähle, dass ich in Louisiana gelebt habe, dann fragt manchmal jemand, ob ich Paul Morphy kenne. Das klingt wie ein Geheimtipp, und es schwingt eine tiefe Verehrung mit. Die das fragen, sind die leidenschaftlichen Schachspieler.
Paul Morphy war nämlich so etwas wie der Mozart des Schachs, ein Genie, das alle anderen mit Leichtigkeit und in Windeseile an die Wand spielte, ewigen Ruhm einheimste und viel zu früh aufhörte und starb. Man nannte ihn „The Pride and Sorrow of Chess“ (Stolz und Kummer des Schachs). Er war aus New Orleans, dieser Stadt der Alten in der Neuen Welt oder wo sich die Alte mit der Neuen Welt mischt, und vermutlich hat das etwas damit zu tun.
Morphys Urgroßvater, der Ire Michael Murphy, änderte seinen Namen zu Morphy, als er nach Spanien zog. Sein Vater Alonzo Morphy, aus Charleston, South Carolina, war Anwalt und Richter am Obersten Gerichtshof von Louisiana und verheiratet mit Louise Le Carpentier, der Tochter einer französisch-kreolischen Familie aus New Orleans. Obwohl New Orleans fest in amerikanischer Hand war, als Paul Charles Morphy am 22. Juni 1837 geboren wurde, würde es mich nicht wundern, wenn man in dieser ehrwürdigen, kreolischen Familie auch Französisch gesprochen hätte. Der Louisiana Purchase, als die Amerikaner von den Franzosen das riesige, als Louisiana bezeichnete Territorium kauften, das sich bis nach Montana zog und den westlichen Teil des Mittelwestens einschloss, hatte schon 1803 stattgefunden. Ich glaube, ein Satz aus dem Wikipedia-Eintrag dazu beschreibt das, was folgte, sehr treffend: „Governing the Louisiana Territory was more difficult than acquiring it.“ (Das Territorium Louisiana zu regieren war schwieriger, als es zu erwerben.)
Anders als bei Mozart und der Musik scheint dem kleinen Paul niemand Schach beigebracht zu haben. Er war eben immer dabei, wenn sein Vater und Onkel Ernest spielten, und sein älterer Bruder und seine Schwester Helena spielten auch. Schon mit 9 galt er als einer der besten Spieler in New Orleans, und 1850, mit 12, besiegte er den ungarischstämmigen Schachmeister Johann Löwenthal, der auf Gastspielreise in der Stadt war.
Danach widmete sich Morphy in Mobile, Alabama, und an der Universität in New Orleans (jetzt Tulane) vor allem seinem Studium, das er 1857 mit einem Juradiplom abschloss. Da er aber noch minderjährig war, durfte er nicht praktizieren, und so ließ er sich erst einmal nach New York zu einem Amerikanischen Schachkongress einladen, wo er als Schachmeister der USA gefeiert wurde. Dann reiste er nach Europa, zunächst, um gegen den europäischen Meister, den Engländer Howard Staunton, zu spielen. Dazu kam es nicht, und es ist nicht klar, warum. Hatte Staunton Angst sich zu blamieren oder war er wirklich mit seinen Arbeiten zu Shakespeare beschäftigt oder hatte Morphy nicht die Startgebühr für das Spiel bezahlt?
Es war zwar für Morphy ein Dämpfer, aber dafür spielte er gegen alle anderen, darunter Daniel Harrwitz und Adolf Anderssen, und gewann, trotz zwischenzeitlicher Darmgrippe, fast durchgehend. In seinem Buch Paul Morphy - Sein Leben und Schaffen schreibt sein deutscher Biograf Max Lange im Jahr 1894: „Hervorgegangen aus einer spanischen und mütterlicherseits aus einer französischen Familie, aber geworden und entwickelt auf amerikanischem Boden, hat PAUL MORPHY die spanische Anmut und die französische Lebendigkeit in seiner Person mit dem kühlen und praktischen Sinn des amerikanischen Charakters wohl vereinigt. Eine ebenso kräftige wie rasche und feine Spielführung zeichnete alle seine Partien aus, und die Augenzeugen seines Spielens waren ohne Ausnahme des Lobes voll von seiner eleganten persönlichen Haltung wie graziösen Steinführung, von seiner steten Selbstbeherrschung in schwierigsten Lagen und von seiner unerschütterlichen Ruhe bei ihn überraschenden Wendungen.“ Das Buch ist übrigens 2009 neu verlegt worden und enthält viele Notationen der Spiele von Paul Morphy, die für Kenner vermutlich eine Offenbarung sind. Hier, mit Leseproben.
Nachdem er praktisch alle besiegt hatte, die es zu besiegen gab, zog er sich vom Schach zurück. Wieder in New Orleans versuchte Morphy, seine Anwaltspraxis in Gang zu bringen, aber erst kam der Amerikanische Bürgerkrieg dazwischen, und dann wollten seine Klienten mit ihm eigentlich immer nur über Schach reden. Zum Glück war er finanziell abgesichert und konnte in den Tag hinein leben.
Am 10. Juli 1884 starb Paul Morphy in der Badewanne, als er nach einem Spaziergang in der Mittagssonne bei einem eiskalten Bad einen Schlaganfall erlitt. Dem Mythos zufolge soll er schon nicht mehr zurechnungsfähig gewesen sein, aber vielleicht war er auch nur exzentrisch.
Einem Gerücht zufolge soll Morphy vor dem Schlafengehen einen Kreis aus Frauenschuhen um sein Bett gebildet haben (über seine private Seite ist sonst nichts weiter bekannt), aber in einem Text seiner Nichte heißt es, dass er seine eigenen vielen Schuhe in seinem Zimmer in einem Halbkreis angeordnet hätte.
Über sein Spiel wird viel spekuliert. Würde er heute mithalten können? Er hatte relativ wenig Übung, aber vermutlich war es auch gerade seine jugendliche Unbekümmertheit, mit der er seine Gegner verunsicherte und dann besiegte. Eine Kennerin schreibt: „Unlike masters of today, who after the centuries of analysis devoted to chess, look for 'truth' in each game, Morphy, as well as many of his contemporaries, looked for beauty, sometimes foregoing the simplest approach for a more pleasing one, and considered the combination the pinnacle of such beauty.“ (Anders als die heutigen Meister, die nach jahrhundertelangen Analysen der Schachspiele in jedem Spiel nach der „Wahrheit“ suchen, suchte Morphy wie viele seiner Zeitgenossen nach Schönheit, und entschied sich manchmal gegen den einfachsten Zug zugunsten eines gefälligeren, und die Kombination betrachtete er als das Allerschönste überhaupt.) Morphy spielte auch gern Blindschach und Vorgabepartien, bei denen dem schwächeren Gegner ein Vorteil eingeräumt wird, entweder mit Figuren oder Zügen, und wie es scheint, lief er dann zu seiner eigentlichen Form auf.
Morphy spielte Schach, wie es heute nicht mehr gespielt wird. Und doch schreibt der Schachweltmeister Bobby Fischer: "A popularly held theory about Paul Morphy is that if he returned to the chess world today and played our best contemporary players, he would come out the loser. Nothing is further from the truth. In a set match, Morphy would beat anybody alive today ..."
Die Morphys lebten übrigens in mehreren Häusern in New Orleans, die auch heute noch existieren. Eins davon war in der 417 Royal Street, wo sich heute das berühmte Restaurant Brennan’s befindet, ein weiteres an der Ecke der Esplanade und Chartres Street, das 1834 für Henry Raphael Denis gebaut wurde. Nach den Morphys lebte dort ein japanischer Chemiker Jokichi Takamine, der sich nach 1884 in New Orleans mit einem seiner Nachbarn anfreundete, dem Journalisten Lafcadio Hearn, der später in Japan ganz groß rauskam. Gleich um die Ecke, Esplanade und Royal Street, wuchs übrigens der nur 8 Jahre ältere kreolische Komponist Louis Moreau Gottschalk auf.
Morphys Grabmal befindet sich auf dem St. Louis Cemetery Nr. 1. Weil es so schön die Welten illustriert, die da aufeinandertrafen, habe ich noch ein Foto der Partie zwischen Morphy und Löwenthal aus der Public Domain heruntergeladen.
Paul Morphy war nämlich so etwas wie der Mozart des Schachs, ein Genie, das alle anderen mit Leichtigkeit und in Windeseile an die Wand spielte, ewigen Ruhm einheimste und viel zu früh aufhörte und starb. Man nannte ihn „The Pride and Sorrow of Chess“ (Stolz und Kummer des Schachs). Er war aus New Orleans, dieser Stadt der Alten in der Neuen Welt oder wo sich die Alte mit der Neuen Welt mischt, und vermutlich hat das etwas damit zu tun.
Morphys Urgroßvater, der Ire Michael Murphy, änderte seinen Namen zu Morphy, als er nach Spanien zog. Sein Vater Alonzo Morphy, aus Charleston, South Carolina, war Anwalt und Richter am Obersten Gerichtshof von Louisiana und verheiratet mit Louise Le Carpentier, der Tochter einer französisch-kreolischen Familie aus New Orleans. Obwohl New Orleans fest in amerikanischer Hand war, als Paul Charles Morphy am 22. Juni 1837 geboren wurde, würde es mich nicht wundern, wenn man in dieser ehrwürdigen, kreolischen Familie auch Französisch gesprochen hätte. Der Louisiana Purchase, als die Amerikaner von den Franzosen das riesige, als Louisiana bezeichnete Territorium kauften, das sich bis nach Montana zog und den westlichen Teil des Mittelwestens einschloss, hatte schon 1803 stattgefunden. Ich glaube, ein Satz aus dem Wikipedia-Eintrag dazu beschreibt das, was folgte, sehr treffend: „Governing the Louisiana Territory was more difficult than acquiring it.“ (Das Territorium Louisiana zu regieren war schwieriger, als es zu erwerben.)
Anders als bei Mozart und der Musik scheint dem kleinen Paul niemand Schach beigebracht zu haben. Er war eben immer dabei, wenn sein Vater und Onkel Ernest spielten, und sein älterer Bruder und seine Schwester Helena spielten auch. Schon mit 9 galt er als einer der besten Spieler in New Orleans, und 1850, mit 12, besiegte er den ungarischstämmigen Schachmeister Johann Löwenthal, der auf Gastspielreise in der Stadt war.
Danach widmete sich Morphy in Mobile, Alabama, und an der Universität in New Orleans (jetzt Tulane) vor allem seinem Studium, das er 1857 mit einem Juradiplom abschloss. Da er aber noch minderjährig war, durfte er nicht praktizieren, und so ließ er sich erst einmal nach New York zu einem Amerikanischen Schachkongress einladen, wo er als Schachmeister der USA gefeiert wurde. Dann reiste er nach Europa, zunächst, um gegen den europäischen Meister, den Engländer Howard Staunton, zu spielen. Dazu kam es nicht, und es ist nicht klar, warum. Hatte Staunton Angst sich zu blamieren oder war er wirklich mit seinen Arbeiten zu Shakespeare beschäftigt oder hatte Morphy nicht die Startgebühr für das Spiel bezahlt?
Es war zwar für Morphy ein Dämpfer, aber dafür spielte er gegen alle anderen, darunter Daniel Harrwitz und Adolf Anderssen, und gewann, trotz zwischenzeitlicher Darmgrippe, fast durchgehend. In seinem Buch Paul Morphy - Sein Leben und Schaffen schreibt sein deutscher Biograf Max Lange im Jahr 1894: „Hervorgegangen aus einer spanischen und mütterlicherseits aus einer französischen Familie, aber geworden und entwickelt auf amerikanischem Boden, hat PAUL MORPHY die spanische Anmut und die französische Lebendigkeit in seiner Person mit dem kühlen und praktischen Sinn des amerikanischen Charakters wohl vereinigt. Eine ebenso kräftige wie rasche und feine Spielführung zeichnete alle seine Partien aus, und die Augenzeugen seines Spielens waren ohne Ausnahme des Lobes voll von seiner eleganten persönlichen Haltung wie graziösen Steinführung, von seiner steten Selbstbeherrschung in schwierigsten Lagen und von seiner unerschütterlichen Ruhe bei ihn überraschenden Wendungen.“ Das Buch ist übrigens 2009 neu verlegt worden und enthält viele Notationen der Spiele von Paul Morphy, die für Kenner vermutlich eine Offenbarung sind. Hier, mit Leseproben.
Nachdem er praktisch alle besiegt hatte, die es zu besiegen gab, zog er sich vom Schach zurück. Wieder in New Orleans versuchte Morphy, seine Anwaltspraxis in Gang zu bringen, aber erst kam der Amerikanische Bürgerkrieg dazwischen, und dann wollten seine Klienten mit ihm eigentlich immer nur über Schach reden. Zum Glück war er finanziell abgesichert und konnte in den Tag hinein leben.
Am 10. Juli 1884 starb Paul Morphy in der Badewanne, als er nach einem Spaziergang in der Mittagssonne bei einem eiskalten Bad einen Schlaganfall erlitt. Dem Mythos zufolge soll er schon nicht mehr zurechnungsfähig gewesen sein, aber vielleicht war er auch nur exzentrisch.
Einem Gerücht zufolge soll Morphy vor dem Schlafengehen einen Kreis aus Frauenschuhen um sein Bett gebildet haben (über seine private Seite ist sonst nichts weiter bekannt), aber in einem Text seiner Nichte heißt es, dass er seine eigenen vielen Schuhe in seinem Zimmer in einem Halbkreis angeordnet hätte.
Über sein Spiel wird viel spekuliert. Würde er heute mithalten können? Er hatte relativ wenig Übung, aber vermutlich war es auch gerade seine jugendliche Unbekümmertheit, mit der er seine Gegner verunsicherte und dann besiegte. Eine Kennerin schreibt: „Unlike masters of today, who after the centuries of analysis devoted to chess, look for 'truth' in each game, Morphy, as well as many of his contemporaries, looked for beauty, sometimes foregoing the simplest approach for a more pleasing one, and considered the combination the pinnacle of such beauty.“ (Anders als die heutigen Meister, die nach jahrhundertelangen Analysen der Schachspiele in jedem Spiel nach der „Wahrheit“ suchen, suchte Morphy wie viele seiner Zeitgenossen nach Schönheit, und entschied sich manchmal gegen den einfachsten Zug zugunsten eines gefälligeren, und die Kombination betrachtete er als das Allerschönste überhaupt.) Morphy spielte auch gern Blindschach und Vorgabepartien, bei denen dem schwächeren Gegner ein Vorteil eingeräumt wird, entweder mit Figuren oder Zügen, und wie es scheint, lief er dann zu seiner eigentlichen Form auf.
Morphy spielte Schach, wie es heute nicht mehr gespielt wird. Und doch schreibt der Schachweltmeister Bobby Fischer: "A popularly held theory about Paul Morphy is that if he returned to the chess world today and played our best contemporary players, he would come out the loser. Nothing is further from the truth. In a set match, Morphy would beat anybody alive today ..."
Die Morphys lebten übrigens in mehreren Häusern in New Orleans, die auch heute noch existieren. Eins davon war in der 417 Royal Street, wo sich heute das berühmte Restaurant Brennan’s befindet, ein weiteres an der Ecke der Esplanade und Chartres Street, das 1834 für Henry Raphael Denis gebaut wurde. Nach den Morphys lebte dort ein japanischer Chemiker Jokichi Takamine, der sich nach 1884 in New Orleans mit einem seiner Nachbarn anfreundete, dem Journalisten Lafcadio Hearn, der später in Japan ganz groß rauskam. Gleich um die Ecke, Esplanade und Royal Street, wuchs übrigens der nur 8 Jahre ältere kreolische Komponist Louis Moreau Gottschalk auf.
Morphys Grabmal befindet sich auf dem St. Louis Cemetery Nr. 1. Weil es so schön die Welten illustriert, die da aufeinandertrafen, habe ich noch ein Foto der Partie zwischen Morphy und Löwenthal aus der Public Domain heruntergeladen.
Die Geschichte von Paul Morphy ist übrigens in dem Roman The Chess Players (1960) von Frances Parkinson Keyes auch literarisch verarbeitet worden. Keyes lebte in New Orleans im French Quarter, 1113 Chartres Street, das heute unter dem Namen Beauregard-Keyes House ein Museum ist und für Paul Morphys Großvater mütterlicherseits gebaut wurde. Aber alles was man wirklich über Morphy wissen muss, findet man in diesem, ja leidenschaftlichen Blog-Eintrag: hier.
Sonntag, 28. Dezember 2014
Louisianas Untergang?
Als Kind habe ich mich immer gewundert, dass Amerika im
Wilden Westen liegen sollte – auf meinem Globus lag es ganz weit im Osten,
noch hinter der Sowjetunion. Auch das mit der Stiefelform Italiens leuchtete
mir lange nicht ein, aber als ich jetzt gelesen habe, dass Louisiana wie ein
Stiefel aussehen soll, war mir das gleich ganz klar – eher ein Eskimostiefel
als einer von Prada.
Allerdings sieht es jetzt gar nicht mehr so aus. Laut einem
Bericht im Business Insider hat der Bundesstaat zwischen 1932 bis 2000 eine
Fläche von knapp 5000 Quadratkilometern verloren, fast die gesamte Fläche des
Staates Delaware. Jede Stunde versinkt eine Fläche in Größe eines
Football-Felds im Wasser, etwa ein halber Hektar, also etwas weniger als ein
Fußballplatz, wie ich hier vielleicht irrtümlicherweise mal angegeben habe.
Damit erodiert die Küste Louisianas schneller als alle anderen Küsten des
Planeten, so der Journalist Bob Marshall.
Die Tat- und Ursachen sind bekannt: die industrielle Nutzung
und Begradigung des Mississippi, die Zerstörung der Süßwassermarschen durch
Ölexplorationsfahrten, die Ölindustrie generell, das Wetter und der
Klimawandel. Getan wird fast nichts.
Das bedeutet: Der Stiefel hat schon lange seine Sohle
verloren und ist unten völlig ausgefranst und dort, wo das Vorderteil mit dem
Schaft verbunden ist, klafft ein immer breiter werdender Riss (u.a. das
Atchafalaya Basin). So würde eine aktuelle, genauere Karte Louisianas aussehen,
auf der die nicht betretbaren Flächen als solche verzeichnet sind, aber
offiziell gibt es diese Karte nicht, denn dann hätte das eine politische
Dimension. Also sinkt Südlouisiana weiter.
Spätestens Hurrikan Katrina und die BP-Ölpest ließen auch
die Künstlerin Dawn DeDeaux aus New Orleans an den Untergang denken. Stephen
Hawkings Ausspruch, dass wir nur noch 100 Jahre hätten, nicht um die Erde zu
retten, sondern um sie verlassen, ist das Motto ihrer Installation MotherShip,
die sie für die aktuell laufende Biennale Prospect New Orleans P3+ schuf. Kurioserweise
musste eine Veranstaltung am 19. Dezember wegen Dauerregens verlegt werden.
Interessant ist auch der Art Shack der Künstlerin, ein Shotgun-Haus, bei dem
die Spuren von Katrina bewusst sichtbar sind (Wände, die nur noch aus
Holzstreben bestehen, verbranntes Holz usw.). Hier.
Auch politische Geschehnisse könnten Untergangsstimmung heraufbeschwören. Nach drei Legislaturperioden wurde Mary Landrieu, die Tochter des
früheren und Schwester des jetzigen Bürgermeisters von New Orleans, als
demokratische Senatorin nicht wiedergewählt. Ihren Platz nimmt jetzt einer von
diesen grauhaarigen, geschniegelten Republikanern mit viereckigem Kopf und
vielen Kindern ein, der natürlich von der National Rifle Association, der
Waffenlobby, unterstützt wird. In diesem Fall heißt er Bill Cassidy und stammt
ursprünglich aus einem Vorort von Chicago. Auch um Mary Landrieu hatte es
übrigens Kontroversen gegeben, aber sie war eben doch einer der demokratischen
Pfeiler aus einem bis in die siebziger Jahre durchgehend von demokratischen
Gouverneuren (danach immer wieder wechselnd) regierten Bundesstaat.
Auch nicht schön: Der republikanische und sehr konservative
derzeitige Gouverneur Bobby (Piyush) Jindal ruft im Januar 2015 zu einem
Gebetsmeeting mit Unterstützung der American Family Foundation auf, das
ausgerechnet auf dem Campus der Louisiana State University, der Flagship
University des Bundesstaates, stattfinden soll (hier). Erwähnt sei auch, dass sich der
Gouverneur bis zuletzt gegen die Gesundheitsreform gesperrt hat und sich für
die Lehre des Kreationismus an den Schulen einsetzt, mit der NRA auf du und du
steht, gegen Abtreibung und gegen die Homo-Ehe ist usw. Er wird als einer der
möglichen republikanischen Präsidentschaftskandidaten gehandelt.
Aber vermutlich wird Louisiana auch das irgendwie überleben.
Mittwoch, 15. Oktober 2014
Kreolisches und anderes Erbe
Oktober ist seit 2005 in Louisiana der Creole Heritage Month (Monat des kreolischen Erbes) und in Kanada und St. Lucia in der Karibik ist es sogar International Creole Month. Als Kreolen, wir erinnern uns, werden typischerweise die in der Neuen Welt geborenen Nachfahren von Spaniern und Franzosen bezeichnet. In New Orleans denkt man dabei meist an Afroamerikaner wie die Musikerdynastien Marsalis und Neville, aber dann gibt es eben auch die, die damit nichts zu tun haben wollen und sich als Weiße verstehen.
Dann gibt es auch noch die in Louisiana als passe-blancs bezeichneten Menschen, d.h. diejenigen mit afroamerikanischer Herkunft, die sich -- oft woanders als in ihrer Heimat -- erfolgreich als Weiße ausgeben und durchschmuggeln konnten, was das Leben natürlich enorm erleichterte. Nella Larsen schrieb darüber in ihrem Roman Passing von 1929 (Deutsch: Seitenwechsel, Dörlemann 2011, Übersetzt von Adelheid Dormagen), einem Klassiker der African American Studies. "Seitenwechsel" finde ich übrigens eine ganz schöne Lösung, denn eine richtige deutsche Entsprechung haben wir aus gegebenen Gründen nicht.
Der Blog Jambalaya Magazine hatte das Thema erst kürzlich. In dem ersten kleinen Video berichtet Bliss Broyard über ihren Vater, den Greenwich-Village-Bohemien Anatole Broyard, der von Kreolen aus New Orleans abstammte und seine Herkunft verleugnete, weil er kein "negro writer" sein wollte. Sie hat diese Geschichte auch in dem Buch One Drop verarbeitet. Im zweiten Video macht sich der Reporter Charlie LeDuff auf Spurensuche und findet versprengte Verwandte verschiedener Couleur.
In einem anderen Artikel zeigt der Blog, wie vermutlich viele kreolische Familien aussehen -- bunt durcheinander.
Das Titelbild dieses interessanten Blogs zeigt die berühmte Oak Alley Plantation, ursprünglich Bon Séjour (Schöner Aufenthalt) genannt, die für einen Kreolen erbaut wurde. Auch die Laura Plantation war kreolisch und erinnert wenigstens auch ein bisschen an die Sklaven. Wenn man nämlich die anderen Herrenhäuser besichtigt, dann wird man oft von jungen Damen in Reifröcken geführt, die über die Möbel und die früheren Sitten erzählen, die Namen der ehemaligen Besitzer herunterleiern usw. Von den Sklaven, die die Plantage aufgebaut und unterhalten haben, ist dabei kaum die Rede, nicht einmal auf der Webseite des National Park Service (hier und hier).
Zumindest auf der Whitney Plantation, auch am Westufer an der River Road gelegen, ändert sich das gerade. Hier richtet nämlich der Anwalt und Immobilienhai John Cummings aus New Orleans das erste Museum der Sklaverei ein, mit einem dem Vietnam Veterans Memorial in Washington, D.C., nachempfundenen Denkmal mit den eingemeißelten Namen der Sklaven, meist nur Vornamen, die dort lebten und schufteten. Die Historikerin Gwendolyn Midlo Hall hat eine Datenbank angelegt, in der die Namen von mehr als 100.000 Sklaven in Louisiana festgehalten sind. Es wird auch Statuen geben und ein beeindruckendes Denkmal mit Keramikköpfen, die an Metallstäben am Wasser im Wind wiegen und an die Niederschlagung des größten Sklavenaufstands in den USA, des German Coast Uprising von 1811, erinnert (hier). Die Whitney Plantation wurde übrigens von deutschen Einwanderern gegründet, den Haydels, die mit die meisten Sklaven in Louisiana hatten, nämlich 101. Sie waren auch bei weitem nicht die einzigen Deutschen in der Gegend, wie sich noch an Namen wie Waguespack (nach Wagenbach) ablesen lässt und am Namen Côte des Allemands.
"Es wird schockierend, bizarr und beeindruckend," so der Initiator Cummings. Und wenn er vielleicht auch ein paar Fehler mache, meint er, so ist es doch ein Anfang.
Dann gibt es auch noch die in Louisiana als passe-blancs bezeichneten Menschen, d.h. diejenigen mit afroamerikanischer Herkunft, die sich -- oft woanders als in ihrer Heimat -- erfolgreich als Weiße ausgeben und durchschmuggeln konnten, was das Leben natürlich enorm erleichterte. Nella Larsen schrieb darüber in ihrem Roman Passing von 1929 (Deutsch: Seitenwechsel, Dörlemann 2011, Übersetzt von Adelheid Dormagen), einem Klassiker der African American Studies. "Seitenwechsel" finde ich übrigens eine ganz schöne Lösung, denn eine richtige deutsche Entsprechung haben wir aus gegebenen Gründen nicht.
Der Blog Jambalaya Magazine hatte das Thema erst kürzlich. In dem ersten kleinen Video berichtet Bliss Broyard über ihren Vater, den Greenwich-Village-Bohemien Anatole Broyard, der von Kreolen aus New Orleans abstammte und seine Herkunft verleugnete, weil er kein "negro writer" sein wollte. Sie hat diese Geschichte auch in dem Buch One Drop verarbeitet. Im zweiten Video macht sich der Reporter Charlie LeDuff auf Spurensuche und findet versprengte Verwandte verschiedener Couleur.
In einem anderen Artikel zeigt der Blog, wie vermutlich viele kreolische Familien aussehen -- bunt durcheinander.
Das Titelbild dieses interessanten Blogs zeigt die berühmte Oak Alley Plantation, ursprünglich Bon Séjour (Schöner Aufenthalt) genannt, die für einen Kreolen erbaut wurde. Auch die Laura Plantation war kreolisch und erinnert wenigstens auch ein bisschen an die Sklaven. Wenn man nämlich die anderen Herrenhäuser besichtigt, dann wird man oft von jungen Damen in Reifröcken geführt, die über die Möbel und die früheren Sitten erzählen, die Namen der ehemaligen Besitzer herunterleiern usw. Von den Sklaven, die die Plantage aufgebaut und unterhalten haben, ist dabei kaum die Rede, nicht einmal auf der Webseite des National Park Service (hier und hier).
Zumindest auf der Whitney Plantation, auch am Westufer an der River Road gelegen, ändert sich das gerade. Hier richtet nämlich der Anwalt und Immobilienhai John Cummings aus New Orleans das erste Museum der Sklaverei ein, mit einem dem Vietnam Veterans Memorial in Washington, D.C., nachempfundenen Denkmal mit den eingemeißelten Namen der Sklaven, meist nur Vornamen, die dort lebten und schufteten. Die Historikerin Gwendolyn Midlo Hall hat eine Datenbank angelegt, in der die Namen von mehr als 100.000 Sklaven in Louisiana festgehalten sind. Es wird auch Statuen geben und ein beeindruckendes Denkmal mit Keramikköpfen, die an Metallstäben am Wasser im Wind wiegen und an die Niederschlagung des größten Sklavenaufstands in den USA, des German Coast Uprising von 1811, erinnert (hier). Die Whitney Plantation wurde übrigens von deutschen Einwanderern gegründet, den Haydels, die mit die meisten Sklaven in Louisiana hatten, nämlich 101. Sie waren auch bei weitem nicht die einzigen Deutschen in der Gegend, wie sich noch an Namen wie Waguespack (nach Wagenbach) ablesen lässt und am Namen Côte des Allemands.
"Es wird schockierend, bizarr und beeindruckend," so der Initiator Cummings. Und wenn er vielleicht auch ein paar Fehler mache, meint er, so ist es doch ein Anfang.
Montag, 29. September 2014
Geopolitisches
Als ich vor ein paar Wochen in Hamburg war, zu einer tollen Übersetzersause auf einer Barkasse im Hamburger Hafen, war ich ziemlich überrascht, wie breit die Elbe dort ist. "Wenigstens ein richtiger Fluss," meinte meine beherbergende Kollegin. Das Schiff zog Runde um Runde durch den abendlichen, dann nächtlichen Hafen, und eigentlich war es einfach nur unglaublich und unvergleichlich schön. Aber als eine Urberliner Kollegin zu mir sagte: "So was hat Berlin nicht," rutschte mir spontan heraus: "Aber New Orleans," und das vielleicht auch, aber nicht nur, weil es so ein lauer, feuchter, atmosphärischer Abend war.
Tatsächlich erinnerte mich der Hamburger Hafen ein kleines bisschen an New Orleans, obwohl Hamburg als alte Handels- und Kaufmannsstadt majestätischer und reicher und größer ist. Hier ein paar Fakten, in Annäherungswerten:
Breite der Elbe in Hamburg: 500-600 Meter
Breite des Mississippi in New Orleans: 800 Meter
Entfernung von Hamburg bis zur Mündung der Elbe: 115 Kilometer bzw. 70 Seemeilen
Entfernung von New Orleans bis zur Mündung des Mississippi: 160 Kilometer
Hafen Hamburg: größter deutscher Seehafen mit 132,2 Millionen Tonnen Güterumschlag jährlich
Hafen New Orleans: 5. größter US-Hafen mit 84 Millionen Tonnen Güterumschlag jährlich
Einwohnerzahl Hamburg: 1,75 Millionen
Kürzlich habe ich diese "Judgmental Map" von New Orleans gefunden, eine satirische "urteilende" Karte, in der die Stadt nach verschiedenen Gesichtspunkten unterteilt ist: Geld, Kriminalität, Ethnien usw. New Orleans ist ja streng genommen, nur das, was sich in Orleans Parish befindet, aber hier ist die New Orleans Metropolitan Area abgebildet, mit Metairie, das sich im Westen nahtlos anschließt und in Jefferson Parish liegt, und New Orleans East und Teilen von St. Bernard Parish sowie auch der Westbank (ja so heißt es). Dort, wo steht: "Brad Pitt Houses" befindet sich die Lower Ninth Ward, die durch Hurrikan Katrina besonders schlimm getroffen wurde. Die Karte findet sich hier (interessant sind allerdings auch die Kommentare).
Auch treffend, aber böse ist eine satirische Parodie auf ein Promotionsvideo der New Orleans Tourism Marketing Corporation für den Stadtteil Bywater, der sich gleich östlich an das Faubourg Marigny anschließt, das wiederum gleich neben dem French Quarter am Mississippi und am Industrial Canal liegt. Zu Bywater gehört das Bywater Historic District. Historisch gesehen war Bywater eines der "Creole Faubourgs" (kreolischen Vorstädte), wo Free People of Color, kreolische Arbeiterfamilien, Einwanderer aus Santo Domingo (Haiti) und Europa, vor allem Irland und Deutschland, lebten. Mehr Fakten und Fotos hier. Seit mehreren Jahren wird hier kräftig gentrifiziert, und genau das nimmt das Satirevideo auf die Schippe (hier; oben die Parodie, unten das Original).
In Bywater lebt auch die feministische und offen bisexuelle Singer/Songwriterin Ani DiFranco mit Familie, die ursprünglich aus Buffalo, New York, stammt. Dass einem auch nach mehreren Jahren vor Ort noch gewisse lokale Sensibilitäten abgehen können, musste sie feststellen, als sie Ende letzten Jahres ein "Righteous Retreat" auf der Nottoway Plantation in White Castle am Mississippi veranstalten wollte (wo ich fast täglich auf dem Weg von Donaldsonville nach Baton Rouge vorbeigefahren bin), also eine Art "rechtschaffenen" Workshop mit ihr, 1000 Dollar pro Person für vier Tage. (Ein Wort wie "righteous" haben wir nicht, aber es bedeutet in etwa Gerechtigkeit fordernd oder suchend).
Dabei war nicht der Preis das Problem, sondern der Veranstaltungsort. Es ist tatsächlich ein besonders beeindruckendes Herrenhaus (daher der Name White Castle) direkt am Ufer des Mississippi. Auf der Nottoway-Plantage lebten und schufteten aber natürlich früher auch hunderte Sklaven, auch wenn das heute eher am Rande erwähnt oder romantisiert wird. Das Plantagenhaus ist jetzt zu besichtigen, und man kann auf dem Gelände auch luxuriös nächtigen, heiraten und Konferenzen abhalten (hier). "Typisch weiße Feministin"und "offenkundigen Rassismus" warf man Ani DiFranco vor, die sich zunächst noch damit verteidigte, dass der besondere Ort sicher auch thematisiert und in die Arbeit eingeflossen wäre. Zum Glück hat sie es dann doch abgesagt. Hier. Auf ihrem neuesten (am 14. Oktober erscheinenden) Album Allergic to Water haben übrigens Ivan Neville und andere New Orleanser Größen mitgespielt (hier).
Tatsächlich erinnerte mich der Hamburger Hafen ein kleines bisschen an New Orleans, obwohl Hamburg als alte Handels- und Kaufmannsstadt majestätischer und reicher und größer ist. Hier ein paar Fakten, in Annäherungswerten:
Breite der Elbe in Hamburg: 500-600 Meter
Breite des Mississippi in New Orleans: 800 Meter
Entfernung von Hamburg bis zur Mündung der Elbe: 115 Kilometer bzw. 70 Seemeilen
Entfernung von New Orleans bis zur Mündung des Mississippi: 160 Kilometer
Hafen Hamburg: größter deutscher Seehafen mit 132,2 Millionen Tonnen Güterumschlag jährlich
Hafen New Orleans: 5. größter US-Hafen mit 84 Millionen Tonnen Güterumschlag jährlich
Einwohnerzahl Hamburg: 1,75 Millionen
Einwohnerzahl New Orleans: 360.000
Eine U-Bahn hat New Orleans auch nicht (lohnt nicht und es ist zu sumpfig).
Eine U-Bahn hat New Orleans auch nicht (lohnt nicht und es ist zu sumpfig).
Kürzlich habe ich diese "Judgmental Map" von New Orleans gefunden, eine satirische "urteilende" Karte, in der die Stadt nach verschiedenen Gesichtspunkten unterteilt ist: Geld, Kriminalität, Ethnien usw. New Orleans ist ja streng genommen, nur das, was sich in Orleans Parish befindet, aber hier ist die New Orleans Metropolitan Area abgebildet, mit Metairie, das sich im Westen nahtlos anschließt und in Jefferson Parish liegt, und New Orleans East und Teilen von St. Bernard Parish sowie auch der Westbank (ja so heißt es). Dort, wo steht: "Brad Pitt Houses" befindet sich die Lower Ninth Ward, die durch Hurrikan Katrina besonders schlimm getroffen wurde. Die Karte findet sich hier (interessant sind allerdings auch die Kommentare).
Auch treffend, aber böse ist eine satirische Parodie auf ein Promotionsvideo der New Orleans Tourism Marketing Corporation für den Stadtteil Bywater, der sich gleich östlich an das Faubourg Marigny anschließt, das wiederum gleich neben dem French Quarter am Mississippi und am Industrial Canal liegt. Zu Bywater gehört das Bywater Historic District. Historisch gesehen war Bywater eines der "Creole Faubourgs" (kreolischen Vorstädte), wo Free People of Color, kreolische Arbeiterfamilien, Einwanderer aus Santo Domingo (Haiti) und Europa, vor allem Irland und Deutschland, lebten. Mehr Fakten und Fotos hier. Seit mehreren Jahren wird hier kräftig gentrifiziert, und genau das nimmt das Satirevideo auf die Schippe (hier; oben die Parodie, unten das Original).
In Bywater lebt auch die feministische und offen bisexuelle Singer/Songwriterin Ani DiFranco mit Familie, die ursprünglich aus Buffalo, New York, stammt. Dass einem auch nach mehreren Jahren vor Ort noch gewisse lokale Sensibilitäten abgehen können, musste sie feststellen, als sie Ende letzten Jahres ein "Righteous Retreat" auf der Nottoway Plantation in White Castle am Mississippi veranstalten wollte (wo ich fast täglich auf dem Weg von Donaldsonville nach Baton Rouge vorbeigefahren bin), also eine Art "rechtschaffenen" Workshop mit ihr, 1000 Dollar pro Person für vier Tage. (Ein Wort wie "righteous" haben wir nicht, aber es bedeutet in etwa Gerechtigkeit fordernd oder suchend).
Dabei war nicht der Preis das Problem, sondern der Veranstaltungsort. Es ist tatsächlich ein besonders beeindruckendes Herrenhaus (daher der Name White Castle) direkt am Ufer des Mississippi. Auf der Nottoway-Plantage lebten und schufteten aber natürlich früher auch hunderte Sklaven, auch wenn das heute eher am Rande erwähnt oder romantisiert wird. Das Plantagenhaus ist jetzt zu besichtigen, und man kann auf dem Gelände auch luxuriös nächtigen, heiraten und Konferenzen abhalten (hier). "Typisch weiße Feministin"und "offenkundigen Rassismus" warf man Ani DiFranco vor, die sich zunächst noch damit verteidigte, dass der besondere Ort sicher auch thematisiert und in die Arbeit eingeflossen wäre. Zum Glück hat sie es dann doch abgesagt. Hier. Auf ihrem neuesten (am 14. Oktober erscheinenden) Album Allergic to Water haben übrigens Ivan Neville und andere New Orleanser Größen mitgespielt (hier).
Mittwoch, 24. September 2014
NCIS New Orleans
NCIS ist kurz für Navy CIS oder besser gesagt Naval Criminal Investigative Service, eine Bundesbehörde, die Verbrechen im Zusammenhang mit Angehörigen der US Navy oder des Marine Corps untersucht. Die Fernsehserie gleichen Namens läuft seit 2003 auf CBS; 2009 kam ein Ableger in Los Angeles hinzu. Beide laufen auch auf Sat 1.
Auf meinem Radar ist es erst kürzlich angekommen, denn ein neuer Ableger spielt in New Orleans. Die letzten beiden Folgen des regulären NCIS waren sozusagen der Pilot, den Sat 1 am 14. September 2014 zeigte.
Manches daran erinnerte mich ein bisschen an Treme: Es beginnt in einer Bar mit Live-Band, und gleich in der ersten Folge ist eine Jazz-Beerdigung mit Second Line zu sehen. Aber dann spielte es zum Teil in Washington, DC, zum Teil in New Orleans. Es gab das typische Kompetenzgerangel mit dem FBI und für meinen Geschmack zu viele Tote, aber so ist das eben bei den meisten Krimiserien. Vor allem aber ging es darum, das neue New Orleans-Team vorzustellen, allen voran den Chef gespielt von Scott Bakula.
In den USA ist die neue Serie am 23. September angelaufen; Sat 1 verspricht, sie ab Frühjahr 2015 zu zeigen. Letzte Woche (am 17. September) fand im National World War II-Museum in New Orleans die Premierenparty statt. Auf nola.com sind ganz unten rechts unter "Video of the Day" ein paar Kurzinterviews dazu zu sehen, bei denen von einer "multi million dollar franchise" die Rede ist, aber auch von einem "international love letter to New Orleans", der mehr Touristen in die Stadt locken soll. Diese sollten sich allerdings vor echten Verbrechern in Acht nehmen, sage ich angesichts der Meldungen links neben diesem Video.
Hier hat offenbar schon jemand die erste neue Folge im Original gesehen.
Auf meinem Radar ist es erst kürzlich angekommen, denn ein neuer Ableger spielt in New Orleans. Die letzten beiden Folgen des regulären NCIS waren sozusagen der Pilot, den Sat 1 am 14. September 2014 zeigte.
Manches daran erinnerte mich ein bisschen an Treme: Es beginnt in einer Bar mit Live-Band, und gleich in der ersten Folge ist eine Jazz-Beerdigung mit Second Line zu sehen. Aber dann spielte es zum Teil in Washington, DC, zum Teil in New Orleans. Es gab das typische Kompetenzgerangel mit dem FBI und für meinen Geschmack zu viele Tote, aber so ist das eben bei den meisten Krimiserien. Vor allem aber ging es darum, das neue New Orleans-Team vorzustellen, allen voran den Chef gespielt von Scott Bakula.
In den USA ist die neue Serie am 23. September angelaufen; Sat 1 verspricht, sie ab Frühjahr 2015 zu zeigen. Letzte Woche (am 17. September) fand im National World War II-Museum in New Orleans die Premierenparty statt. Auf nola.com sind ganz unten rechts unter "Video of the Day" ein paar Kurzinterviews dazu zu sehen, bei denen von einer "multi million dollar franchise" die Rede ist, aber auch von einem "international love letter to New Orleans", der mehr Touristen in die Stadt locken soll. Diese sollten sich allerdings vor echten Verbrechern in Acht nehmen, sage ich angesichts der Meldungen links neben diesem Video.
Hier hat offenbar schon jemand die erste neue Folge im Original gesehen.
Dienstag, 16. September 2014
The New Orleans Sound
Musik aus New Orleans ist nicht nur Dixielandjazz. Jazz, Hiphop (Bounce), R & B und Funk in New Orleans ist meistens schwarz und immer lauter, heftiger, dreckiger, ja vielleicht ursprünglicher als anderswo.
Dr. John beschreibt den typischen Cosimo-Sound, der zum New Orleans Sound des R&B und Rock ‚n’ Roll wurde, so: „strong drums, heavy bass, light piano, heavy guitar and light horn sound with a strong vocal lead.“
Cosimo Matassa wurde in New Orleans geboren und war sizilianischer Abstammung (und gehört damit zur wichtigen Gruppe der Italians in New Orleans, denen auch das Muffuletta-Sandwich zu verdanken ist). Seiner Familie gehört der kleine Lebensmittelladen im French Quarter Ecke Dauphine und St. Philip Street, Matassa’s Market, in dem es irgendwie alles gibt, was man gerade so braucht, auch Wein, wenn man zum Beispiel ins Mona Lisa in der Royal Street essen gehen will, wo man sich zu der tollen Pasta und Pizza seinen Wein selbst mitbringt, weil es jedenfalls früher BYOB (Bring Your Own Beverage) war, d.h. ohne Alkoholausschank.
Die Matassas hatten aber noch ein anderes Geschäft: Musikboxen, und als Cosimo merkte, das sein Chemiestudium an der Tulane University doch nicht das Richtige für ihn war, fing er an, dort zu arbeiten. Bald fiel ihm auf, dass die Leute auch Platten kaufen wollten, und 1945 richtete er im Hinterzimmer ein kleines Aufnahmestudio ein, wo man zunächst vor allem privat Schallplatten aufnehmen konnte. Dann erweiterte er und zog mehrmals um, schließlich in die 748 Camp Street, wo er den Laden Jazz City nannte. Lange war seines das einzige Musikstudio in der Stadt und die besten Musiker gingen bei ihm ein und aus.
Matassa wurde in die Louisana Music Hall of Fame aufgenommen und 2012 in die Rock ‚n’ Roll Hall of Fame für „Musical Excellence“. Cosimo Matassa meinte dazu, er habe einfach Glück gehabt, dass so viele gute Leute zu ihm kamen: „It’s not hard to make a good performer look good.“ (Es ist nicht schwer, einen guten Künstler gut aussehen zu lassen.“
Mehr dazu hier.
Sonntag, 3. August 2014
Coonass
Politisch korrekte oder inklusive Sprache ist etwas in Misskredit geraten, vor allem bei sich für
besonders unangepasst haltenden Kritikern, die sich an bestimmten Ausartungen
festbeißen. Ich persönlich bin ein großer Fan davon, mit oder über Leute(n) so zu sprechen, wie sie es gern möchten und dass sie sich respektiert
fühlen. Deshalb gibt es für meine Studentinnen auch immer eine Seminarsitzung
zu dem Thema, und die Geschichte vom Vater und seinem Sohn und ihrem Unfall
zeigt, dass sich seit 1992, als ich sie kennengelernt habe, nicht viel geändert
hat.
Auf dem Arbeitsblatt zu meinem Seminar heißt eine Frage: “When is it okay to use the N-Word”
in English or a word like “Tunte” in German?” Die richtige Antwort heißt
natürlich nie, es sei denn, man ist selbst schwarz oder schwul. Ein Wort
könnte ich noch hinzufügen: Coonass als Bezeichnung für Cajun.
Cajuns heißen die Nachfahren französischer Einwanderer, die
im 18. Jahrhundert von den Engländern aus Nova Scotia in Kanada vertrieben
wurden und vorwiegend auf dem Land leben. Aus verschiedenen Gründen sprechen
sie heute im Alltag kaum noch ihr archaisches Französisch, aber sie
haben sich eine reiche und lebendige Kultur bewahrt. Und auch wenn sie sich im
20. Jahrhundert vielleicht manchmal dafür geschämt haben und es für ihr
Französisch, das ja kein “richtiges” Französisch ist, immer noch tun, so sind sie heute auch stolz.
Für “Coonass” gibt es verschiedene Herkunftserklärungen:
eine führt es auf das moderne französische Wort „connasse“ zurück, das im 2.
Weltkrieg von den Franzosen für alliierte Cajuns verwendet worden sei. Ich
halte das schon deshalb für abwegig, weil es eine abwertende Bezeichnung für
eine Frau ist und deshalb ganz sicher nicht für Soldaten verwendet wurde und weil das Französische wie auch das Deutsche niemals eine grammatisch eindeutig weibliche Form für einen Mann verwenden würde.
Andere assoziieren es mit dem coon von raccoon (Waschbär), was eine sehr
abwertende Bezeichnung für einen Afroamerikaner ist, und der „ass“ wäre dann
dessen Hinterteil.
Egal, woher es kommt, man sollte es vielleicht kennen, um
Postkarten oder T-Shirts wie „You know you’re a coonass when...“ zu verstehen,
aber verwenden sollte man es nicht. Das wurde jetzt einem Abgeordneten in Texas ziemlich
unmissverständlich auch von
Mit-Republikanern klar gemacht. Dennis Bonnen hatte den Begriff in einer
Anhörung zum Umgang mit den vielen unbegleiteten Einwandererkindern für Kinder
aus Louisiana verwendet, die nach Hurrikan Katrina nach Texas kamen und dort in
die Schulen integriert werden mussten. Besonders auf Kinder angewendet, stießen
sich viele an dem Wort und warfen ihm u.a. vor, dass er keine Vorstellung von „Inklusion“
habe (hier und hier). Eine Umfrage auf nola.com (der Webseite der New Orleans Times-Picayune) hat wiederum gezeigt, dass einige das Wort mit Stolz für
sich verwenden (hier).
Für Shane Bernard, der Autor von The Cajuns:
Americanization of a People zeichnet sich je nach Klassenzugehörigkeit eine
unterschiedliche Haltung zu dem Wort ab, wo die mittleren und oberen Schichten
es strikt ablehnen, während die Arbeiterklasse damit stolz auf die ethnische
Herkunft verweist. Aber für uns Ausländer, die vermutlich nicht von Cajuns
abstammen, wäre es (politisch) korrekt und auf der sicheren Seite,
das Wort nicht zu verwenden (hier). Warum also nicht einfach Cajun?
Freitag, 1. August 2014
Saurierlandschaft
Wenn ich an Louisiana denke, dann denke ich zuerst an das warme, weiche Licht, das ich auch in Filmen und auf Fotos gleich wieder erkenne. So ein Licht gibt es hier nicht. Und dann ist es dort immer grün oder eben Betonlandschaft, aber Herbstlaub zum Beispiel gibt es nicht.
Jetzt übersetze ich gerade einen kurzen Text über neue Dinosaurierskelettfunde und wie man daraus mit Computerverfahren ein 3-D-Modell des Tiers erzeugen kann. Dazu habe ich mir einen Artikel im Maiheft des National Geographic herangezogen, Kontinent der Dinos, in dem es um amerikanische Dinosaurier geht. Auf einer Seite sind ganz verschiedene Saurier abgebildet, mit abenteuerlichen Alien-Kopfformen: Parasaurolophus, Kosmoceratops usw. Als Titel steht dort: Schwül, sumpfig und Saurier hinter jedem Busch und in der Bildunterschrift heißt es: "Die Landschaft glich vermutlich den heutigen subtropischen Sümpfen Louisianas."
Tatsächlich sind moosbewachsene Bäume und flaches Wasser und sogar ein paar Alligatoren zu sehen, die ja vorsintflutliche Überlebende sein sollen, und es stimmt, die Natur in Louisiana ist trügerisch verwunschen und birgt allerlei Gefahren (Alligatoren, Giftschlangen, Giftefeu (poison ivy), Feuerameisen, West Nile Virus, Mücken usw.). Saurier gibt es nicht mehr. Und das fahle, kühle Licht in der Illustration ist nicht das louisianische Licht.
Jetzt übersetze ich gerade einen kurzen Text über neue Dinosaurierskelettfunde und wie man daraus mit Computerverfahren ein 3-D-Modell des Tiers erzeugen kann. Dazu habe ich mir einen Artikel im Maiheft des National Geographic herangezogen, Kontinent der Dinos, in dem es um amerikanische Dinosaurier geht. Auf einer Seite sind ganz verschiedene Saurier abgebildet, mit abenteuerlichen Alien-Kopfformen: Parasaurolophus, Kosmoceratops usw. Als Titel steht dort: Schwül, sumpfig und Saurier hinter jedem Busch und in der Bildunterschrift heißt es: "Die Landschaft glich vermutlich den heutigen subtropischen Sümpfen Louisianas."
Tatsächlich sind moosbewachsene Bäume und flaches Wasser und sogar ein paar Alligatoren zu sehen, die ja vorsintflutliche Überlebende sein sollen, und es stimmt, die Natur in Louisiana ist trügerisch verwunschen und birgt allerlei Gefahren (Alligatoren, Giftschlangen, Giftefeu (poison ivy), Feuerameisen, West Nile Virus, Mücken usw.). Saurier gibt es nicht mehr. Und das fahle, kühle Licht in der Illustration ist nicht das louisianische Licht.
Sonntag, 15. Juni 2014
Lillian Hellman: Pentimento und The Little Foxes
Vor einiger Zeit habe ich Lillian Hellmans zweites
biographisches Buch gelesen oder vielmehr verschlungen: Pentimento. A Book of
Portraits. Das Buch heißt auf Deutsch Pentimento: Erinnerungen,
Frauenbuchverlag 1989, übersetzt von Eva Buchmann, oder in einer älteren Ausgabe
Julia und andere Erzählungen, Goldmann 1984, übersetzt von Cordula Bickel. Der ungewöhnliche Titel ist im Englischen ein nicht sehr gebräuchliches
Wort für das Phänomen, wenn durch eine Schicht Farbe auf einer Leinwand eine
zuvor aufgetragene Malerei durchscheint. Im Deutschen wird der Begriff in der
Kunstgeschichte verwendet, wohl oft im Plural als Pentimenti oder eingedeutscht
Pentiment, für die nachträgliche Übermalung oder Verbesserung eines Bildes
durch den Künstler. Im Italienischen heißt Pentimento interessanterweise Reue.
Anders als die vorhergehende Biographie An Unfinished
Woman ist Pentimento nur bedingt chronologisch aufgebaut, denn es besteht aus
7 Kapiteln, von denen die meisten mit einem Namen oder einem Wort überschrieben
sind. Die ersten drei davon, Bethe, Willy, Julia, sind die eindrücklichsten.
Darin werden wichtige Personen aus dem Leben von Lillian Hellman aus der
Perspektive als Mädchen oder als junge Frau eher erzählt als porträtiert. Das
ist ziemlich meisterhaft gemacht, denn man erfährt mit diesen dreien etwas aus
dem Leben der Autorin aber auch über sie als Mensch, so dass es letztendlich gar nicht klar ist, wer
hier eigentlich porträtiert wird.
Das dritte Kapitel, Julia, hat etwas Atemloses und hält in Atem, denn darin geht es um eine New Yorker Freundin der
Autorin aus begüterten Verhältnissen, die während der Nazizeit in
Europa im Untergrund aktiv ist, dort ein Bein verliert, ein Kind zur Welt
bringt und schließlich getötet wird. Das ist alles sehr geheimnisvoll, so zum
Beispiel wenn Lillian Hellman auf ihrer Reise von Berlin nach Moskau auf sehr
komplizierte und undurchsichtige Weise über viele Mittelsmänner und –frauen
Geld über die Grenzen schmuggelt. Das Problem an der Julia-Geschichte
ist, dass sie möglicherweise nicht stimmt. Vielmehr scheint sie in leicht
abgewandelter Form das Schicksal von Muriel Gardiner Buttinger zu beschreiben
(Codename: Mary), mit der L. Hellman einen gemeinsamen Bekannten hatte, was die
Lügenbezichtigung von Mary McCarthy, über die ich hier schon geschrieben habe, wohl
noch untermauert.
Auch in Nora Ephrons Theaterstück Imaginary Friends von 2002
geht es um diese berühmte Kontroverse. Dafür gab es gemischte Kritiken, jedoch hielt ein Kritiker die Gegenüberstellung der beiden Frauen als diametral entgegengesetzte Göttinnen Fakt und Fiktion für gelungen. Im
Frühjahr 2014 lief Off-Broadway ein weiteres Theaterstück von Jan Buttram zu dem Thema (Hellman v. McCarthy). Darüber heißt es in einer Kritik: „The play itself isn’t all
that good...“ Und: „McCarthy
(Marcia Rodd) gilt meistens als die Heldin, aber hier wirkt sie
selbstgerecht und falsch, während Hellman als misslauniges, bitterböses
Lästermaul höchst unterhaltsam ist.“
Mich hat Pentimento begeistert, weil die Geschichten so
fesselnd und raffiniert erzählt sind. Ich finde es befreiend, dass Lillian
Hellman sich nicht in die Rollenklischees für eine Frau und Schriftstellerin
einfügt, sondern z.B. auch schwierig, starrsinnig und laut ist und Dashiel
Hammett damit eine komplizierte, aber ebenbürtige Partnerin. Julia fragt
sie an einer Stelle (S.114): „Are you as angry a woman as you were a child?“
Die Antwort: „I think so. I try not to be, but there it is.“ (Bist du als Frau
immer noch so wütend, wie du es als Kind warst?“ „Ich glaube ja. Ich versuche,
mich zu ändern, aber so ist es nun mal.“)
Die Berliner Schaubühne, ein wunderschöner
Zwanziger-Jahre-Bau am Ku’damm, hat jetzt ein Stück von Lillian Hellman auf dem
Spielplan, Die kleinen Füchse (The Little Foxes) von 1939, eine große Seltenheit. Ein Kritiker meint: „Hier nun die entscheidenden Erfolgsgründe. Zunächst
das Stück, Die kleinen Füchse von der Kommunistin, Säuferin, Schriftstellerin
und zu Lebzeiten erstaunlich verhassten US-Amerikanerin Lillian Hellman. Es
wird kaum gespielt, in Berlin zuletzt in den 50er-Jahren am Deutschen Theater,
mit Inge Keller in der Hauptrolle (Hauptstadt der DDR).“ Außerdem spielt Nina Hoss
die Hauptrolle der Regina Giddens, ein weiterer Grund, warum
es immer ausverkauft ist, wie ich meiner nicht repräsentativen Umfrage unter
den neben mir Sitzenden entnehmen konnte, während die Autorin Lillian Hellman ziemlich unbekannt ist.
Der Inhalt lässt sich vielleicht mit einem passenden
Zitat aus Pentimento zusammenfassen: „... not too many years later... I
understood that I lived under an economic system of increasing impunity and
injustice for which I, and all those like me, pay with ridiculous wounds to the
spirit.“ (Nicht allzu viele Jahre später wurde mir klar, dass ich in einem
wirtschaftlichen System der zunehmenden Straffreiheit und Ungerechtigkeit
lebte, für das ich, und alle die sind wie ich, mit unglaublichen Wunden an
unserem Geist bezahlten.)
Das Personal: Regina Giddens und ihre beiden Brüder, die
Ehefrau und der Sohn des einen Bruders, ihre Tochter, ihr Ehemann, eine
Bedienstete, ein Investor aus dem Norden. Das Stück spielt in Alabama und ist von der Familie von Lillian Hellmans Mutter inspiriert. Die Familie will Geschäfte mit dem
Investor machen, doch dazu brauchen sie Geld von Reginas Ehemann, der seit
Monaten irgendwo in der Ferne im Krankenhaus ist und auf ihre Briefe nicht
reagiert. Regina, die davon träumt nach New York zu ziehen, schickt ihre
Tochter, um den Mann aus dem Krankenhaus nach Hause zu holen. Die Ehe der
beiden ist völlig zerrüttet, vor allem Regina verachtet ihren Mann und versucht
verzweifelt, für sich finanzielle Vorteile herauszuholen. Am Ende lässt sie ihren
Mann sterben, indem sie ihm Tabletten und Hilfe verweigert. Sie verliert ihre
Tochter und Brüder, aber sie hat jetzt Geld.
Neben Regina ist da noch ihre Schwägerin Birdie (gespielt von Ursina Lardi), eine verwirrte, melancholische, tragische und doch sehr liebenswerte Frauenfigur aus den Südstaaten, wie man sie später in Tennessee Williams’ Stücken findet, zum Beispiel Blanche in Endstation Sehensucht (1947). Birdie wurde von einem der Brüder geehelicht, damit er an ihr Gut kam, das daraufhin verscherbelt wurde. Sie ist jetzt Alkoholikerin, wird von ihrem Mann schikaniert und misshandelt und hat einen Sohn, den sie selbst nicht mag und vor dem sie ihre Nichte warnt. Die kleinen Füchse thematisiert somit nicht nur den Gegensatz von old money (Birdie) und Neureichen (Familie Giddens), sondern auch die finanzielle Recht- und Mittellosigkeit der Frauen. Für Lillian Hellman war das ein zentrales Problem der Gleichberechtigung, das sie für sich mit geschickten Geldanlagen löste, was man wie so viele Dinge an ihr für skandalös hielt.
Neben Regina ist da noch ihre Schwägerin Birdie (gespielt von Ursina Lardi), eine verwirrte, melancholische, tragische und doch sehr liebenswerte Frauenfigur aus den Südstaaten, wie man sie später in Tennessee Williams’ Stücken findet, zum Beispiel Blanche in Endstation Sehensucht (1947). Birdie wurde von einem der Brüder geehelicht, damit er an ihr Gut kam, das daraufhin verscherbelt wurde. Sie ist jetzt Alkoholikerin, wird von ihrem Mann schikaniert und misshandelt und hat einen Sohn, den sie selbst nicht mag und vor dem sie ihre Nichte warnt. Die kleinen Füchse thematisiert somit nicht nur den Gegensatz von old money (Birdie) und Neureichen (Familie Giddens), sondern auch die finanzielle Recht- und Mittellosigkeit der Frauen. Für Lillian Hellman war das ein zentrales Problem der Gleichberechtigung, das sie für sich mit geschickten Geldanlagen löste, was man wie so viele Dinge an ihr für skandalös hielt.
Nina Hoss ist wie immer intensiv, auch wenn es in der hitzigen, zähen und verzweifelten Stimmung des Stücks so angelegt ist. Der Text wurde offenbar radikal
überarbeitet, und es
liefen englische Übertitel, die seltsam aus dem Deutschen übersetzt klangen.
Die Bühne ist schwarz und simpel, mit einer sehr hohen, über Eck gehende Treppe, die ins obere Geschoss (aber eigentlich ins Nichts) führt. Nur hinten rechts steht hinter einer Schiebetür ein großer Esstisch parallel zur Bühne, und wenn am Anfang dort mit dem Investor aus dem Norden hinter verschlossenen Türen getafelt wird und diese Türen immer wieder aufgehen, wenn jemand nach vorn kommt und etwas sucht oder telefoniert oder die Bedienstete hineingeht, dann erinnert die Szenerie dahinter optisch an Das Abendmahl von Leonardo da Vinci und anderen. Pausen gibt es keine, die Akte werden mit lauten Musikpassagen vom Band markiert.
Vor Kurzem habe ich in
einem alten New Yorker einen Artikel über die Schauspielerin Tallulah Bankhead
gelesen, eine Diva, wie sie im Buche steht, die bei der Erstaufführung ein Jahr lang mit großem Erfolg die Hauptrolle am
Broadway gespielt hat (410 Aufführungen). Für die Filmversion wurde allerdings Bette Davis
ausgewählt. In dem Artikel wird eine Episode erwähnt, die sich auch in
Pentimento findet. Bei Partys hat die extravagante Tallulah Bankhead die Gäste
manchmal ins Schlafzimmer geführt, ihrem schlafenden Ehemann John Emery die
Bettdecke weggezogen und gesagt: „Haben Sie schon mal so einen großen Schwanz gesehen?“ Der Ehemann hat sich dann irgendwann scheiden lassen, und Tallulah Bankhead ist heute fast nur in Legenden und Büchern überliefert, weil sie vor allem Theaterschauspielerin und eben sehr exzentrisch war.
Wie es scheint, wird die Aufführung immer mehrmals hintereinander gezeigt, aber nicht in jedem Monat. Zu empfehlen, auch wenn draußen keine louisianischen Regenstürme wüten sollten...
Samstag, 26. April 2014
Ein Expat-Baum
Vor kurzem wurde bei uns hinter dem Haus ein Baum gefällt, ein Eschenahorn, hieß es.
Er war knorrig und nicht recht glücklich. Die Baumfäller waren zwei junge
Burschen, die sich über Fitnessstudios und so weiter unterhielten. Das weiß
ich, weil ich mir von den ersten abgesägten Ästen ein paar Zweige für einen
Osterstrauß abgemacht habe. Später habe ich gesehen, wie der eine oben im Baum
an einem großen Ast sägte, während der andere von fern versuchte, diesen mit
einem Seil herunterzuziehen und zum Abbrechen zu bewegen. Als das dann endlich gelang, führte er einen kleinen Freudentanz auf.
Meine Zweige machten mich auch nicht so recht glücklich.
Seltsame klebrige schwarze Krümel lagen darunter auf dem Tisch und immer wieder
starrte die Katze nach oben in die Zweige, wo sich eine grüne Raupe wand, die
ich später irgendwo in der Wohnung wieder fand. Vor allem aber waren die sich
langsam auffaltenden Blätter sehr seltsam, in einem fremden Grün, gezackt und
ein bisschen fedrig.
Seltsam ist auch die Landschaft, in der ich jetzt lebe. Sie
ist struppig, nicht wie die typische weite und sanfte Berlin-brandenburgische
Wald-Wasser-Wiesen-Landschaft. An den Eschenahornen hängen auch die
vertrockneten Früchte vom letzten Jahr und die
Bäume haben kaum einen Stamm, sondern bestehen fast nur aus Ästen, die direkt
aus dem Boden zu wachsen scheinen.
Auf einer der vielen Besuchertafeln hier in der Umgebung heißt es: Das Gegenteil
von Wildnis. Denn die Bäume sehen zwar wild aus, aber so wie ganz Mitteleuropa
seit Jahrhunderten eine stark durch den Menschen geprägte Kulturlandschaft ist,
so waren die Rieselfelder, die hier früher waren, ein besonders starker
Eingriff, der die Gegend zeichnet. Seit den achtziger Jahren versucht man hier
wieder „Natur“ entstehen zu lassen, mit wild lebenden Rindern und Pferden und
verschiedenen Landschaftsformen: Heide, Kiefernschonungen, Wassergräben und
auch Kunst in der Natur usw.
Nicht eingeplant war wohl der Eschenahorn. Er gehört zu den
invasiven Neophyten, den nicht heimischen Spezies, die sich ausbreiten und
heimische Pflanzen verdrängen (siehe hier) und ist ein äußerst erfolgreicher Pionierbaum (siehe hier). Tatsächlich soll der Acer negundo schon 1688 aus Nordamerika bei uns eingeführt worden sein. In den USA heißt er Box elder oder
Boxelder maple usw. und ist vor allem in der östlichen Hälfte bis hoch nach
Kanada zu finden, auch in Louisiana, aber da fällt er nicht so auf, weil dort alles wild und struppig
aussieht. So habe ich ein bisschen Amerika direkt hinterm Haus. Trotz
des fremden Eschenahorns fühlen sich hier jede Menge Wildtiere und Vögel zu
Hause. Ich auch.
Mein neuer Arbeitsplatz. Im Hintergrund auch Eschenahorn.
Freitag, 18. April 2014
Bob Kaufman
Große Lyriker aus den Südstaaten gibt es nicht so viele wie
Prosaautoren, das hatten wir schon mal festgestellt. Aber hier ist einer: Der
Beat-Dichter Bob Kaufman, der am 18. April1925 in New Orleans geboren wurde.
Dort wuchs er, je nach Quelle, als eines von 13 oder 14 Kindern eines
deutschstämmigen orthodoxen Juden und einer afroamerikanischen bzw. aus
Martinique stammenden Katholikin auf (er schrieb: „my negro suit has jew
stripes“). An beider Religionen hatte er als Kind teil, aber später bekannte er sich zum
Buddhismus. Seine Großmutter soll Voodoo praktiziert haben. Laut einer Studie wuchs er in der Seventh Ward auf, und beide Eltern gehörten der kreolisch-afroamerikanischen Bevölkerungsgruppe in New Orleans an. Er selbst sprach auch kreolisches Patois. Mit
neunzehn ging er zur Handelsmarine und umrundete in 20 Jahren neun Mal die
Welt und erlebte vier Schiffbrüche. An Land studierte er kurzzeitig an der New
York School, wo er Allen Ginsberg und William Burroughs kennenlernte.
Mit ihnen zog er nach San Francisco, wo er meist in
North Beach lebte. Er soll den Terminus „Beatnik“ geprägt haben und war einer
der Mitbegründer der Zeitschrift Beatitude. Dass er weniger bekannt ist als die
übrigen, liegt daran, dass von ihm nur wenige Gedichte in Lyrikbänden
erschienen sind. Er verstand sich als Poet in der mündlichen
Tradition und trug seine Gedichte auf den Straßen San Franciscos oder in
Kaffeehäusern vor. Oft wurde er dabei für einen Obdachlosen oder Bettler
gehalten, und 1959 soll er 39 Mal festgenommen worden sein.
Seine Lyrik ist vom Jazz inspiriert, oft synkopiert und von
Musik begleitet („Jazz is an African traitor“ schrieb er in Solitudes) und
wird auch als surrealistisch bezeichnet. Deshalb nannte man ihn auch „the
original bebop man“ und in Frankreich manchmal „Rimbaud noir“.
Nach dem Attentat auf Präsident Kennedy 1963 erlegte er sich
Schweigen auf, das er erst nach dem Ende des Vietnamkriegs mit dem berühmten
Gedicht All those ships that never sailed brach. Es ist vermutlich von einem
Gedicht von Leonard Cohen inspiriert, siehe hier. (Nicht ungewöhnlich: Paul Celans Todesfuge
ist eine Adaption und Perfektionierung eines Gedichts von Immanuel Weissglas.)
Bei Kaufman ist es sein poetisches Verfahren, denn für
ihn ist die Welt voller Poesie, die um seinen Kopf herumwirbelt und die er
aufgreift. Er wollte auch nicht, dass seine Gedichte abgedruckt werden, und so
ist es vor allem seiner Frau Eileen zu verdanken, dass einige überliefert sind,
weil sie fleißig mitgeschrieben hat. Bekannt ist er vor allem für sein Abomunist
Manifesto, Solitudes Crowded with Loneliness (1982 Deutsch von Udo Breger als Eremit
in San Francisco), Golden Sardine und The Ancient Rain. Er starb 1986 im Alter von
nur 60 Jahren.
Bob Kaufman ist legendär und sagenumwoben, und über sein
Leben ist nicht viel bekannt. Folgerichtig trägt seine Biographie von Mel Clay Jazz
Jail and God (Jazz, Gefängnis und Gott) den Untertitel „Impressionistic
Biography“. „I want to be anonymous... my ambition is to be completely
forgotten,“ hatte Bob Kaufman erklärt. Letzteres hat dann doch nicht geklappt:
Gestern gab es in New Orleans im Gold Mine Saloon einen Tribute für ihn mit
Brenda Marie Osbey und anderen Dichtern mit einem kleinen Jazzensemble. Hier einige Erinnerungen von A.D. Winans.
Samstag, 22. Februar 2014
Vom Schreiben und Zugfahren
Dieser Tage habe ich Das Wagnis, die Welt in Worte zu fassen
zu Ende gelesen, das Skript einer dreiteiligen Vortragsserie der Schriftstellerin
Eudora Welty an der Harvard University. Der englische Titel One Writer’s
Beginnings drückt besser aus, worum es geht: um ihre kurzweilige
Kindheitsgeschichte, die Herkunft der Eltern und ihre Reifung zur
Schriftstellerin. Eudora Welty (1909-2001) ist vor allem für ihre
Kurzgeschichten und den Pulitzer Prize-prämierten Kurzroman The Optimist’s
Daughter bekannt, war allerdings auch eine begabte Photographin (das Ogden Museum of Southern Art in New Orleans hatte letztes Jahr eine Ausstellung mit
Podiumsdiskussion dazu).
Den größten Teil ihres Lebens verbrachte sie in ihrem
Elternhaus in Jackson, Mississippi, der Hauptstadt des Bundesstaats, die ich
als selten hässliche Stadt in Erinnerung habe. Diesen Essay über ihren
schriftstellerischen Ursprung endet sie mit den Worten: „Wie sie gesehen haben,
bin ich eine Schriftstellerin, die einem behüteten Leben entstammt. Auch ein
behütetes Leben kann abenteuerlich sein. Denn jedes echte Wagnis geht von innen
aus.“ (In der leichtfüßigen Übersetzung von Karen Nölle in der Edition Fünf von
2011.) Der letzte Satz ist zum geflügelten Wort geworden, und im Original
klingt er noch etwas wagehalsiger: „All serious daring starts from within“.
The Optimist’s Daughter spielt zum Teil in einem Krankenhaus
in New Orleans, und auch die Kurzgeschichte „No place for you, my love“ von
1952, über die sie berichtet, spielt in der Stadt. Sie zitiert auch eine Passage aus The Optimist’s
Daughter, in der die Hauptfigur von einer Zugfahrt von Chicago nach Mississippi
träumt und schreibt über eigene Zugfahrten, die sie von Jackson nach New York unternahm, um ihre Kurzgeschichten dort vorzustellen. Von
Meridian, Mississippi, fuhr ein Zug für 17,50 Dollar von New Orleans kommend
nach New York, zwei Nächte und drei Tage.
Dieser Zug fährt auch
heute noch täglich, the Crescent, der 30 Stunden unterwegs ist. Ich bin damit schon mal nach Tuscaloosa, Alabama, gefahren, was wegen Überschwemmungen 8 oder 10 statt 6 Stunden dauerte. Es gibt auch noch den Sunset Limited von New Orleans nach Los Angeles über Texas, New Mexico und Arizona, der dreimal die Woche verkehrt und 48 Stunden unterwegs ist. Der berühmteste aber ist der City of New Orleans nach
Chicago über Memphis, Tennessee. Er fährt täglich, die Fahrt dauert 19 Stunden, und es gibt mehrere Lieder gleichen Titels, eins davon in der Interpretation
von Arlo Guthrie.
Die Eisenbahn, Amtrak, ist im Autofahrerland USA nicht
besonders ausgebaut, sondern verkehrt nur auf großen, wichtigen
Überlandstrecken oder auch als commuter trains, Pendlerzüge, in den
Ballungsgebieten an der Ost- und Westküste. Dabei ist Eisenbahnfahren in den
USA ein echtes Erlebnis: diese hohen, wuchtigen, schweren Wagen, in die man über ein
Treppchen steigt, das einem der Schaffner bereitstellt, die Geräumigkeit und
Stille und Kühle in den Waggons, und natürlich die wilden amerikanischen
Landschaften, die man am besten aus dem Panoramawaggon gemächlich vorbeiziehen
sieht, nix da mit unangenehmen ICE- oder gar TGV-Geschwindigkeiten.
Gerade heute habe ich gelesen, dass Amtrak bald „writer’s
residencies“ an Bord einiger Züge anbieten wird, wo Schriftsteller umsonst über
Land fahren dürfen und schreiben. (Hier.) Ich finde das eine tolle Idee. Und irgendwie
denke ich mir, Eudora Welty hätte das auch gut gefunden.
Mittwoch, 5. Februar 2014
Depesche vom Ende der Welt
Liebe Leute, es geht mir gut.
Ich bin umgezogen und freiwillig wieder einmal
zum Landei geworden. Die Waschmaschine funktioniert, mein Bett steht und mein
Schreibtisch auch, und ansonsten lebe ich seit Tagen zwischen Kisten. Es ist
wunderschön hier. Ich blicke auf olle Schuppen und mehrmals Getautes und wieder
Gefrorenes und Matsch und braunes Gestrüpp. Aber auch schwarz-weiße Pferde und
braune Ponys, ab und zu eine Katze, viele Vögel, Schwärme von vorüberziehenden,
krähenden Kranichen, und nachts funkeln die Sterne... In der Nähe gibt es viel
wilde Heide, die durch freilebende Rinder renaturiert werden soll. Überall ist
das ausführlich auf Schildern erklärt und die Wege sind mit EU-finanzierten
Steinskulpturen gesäumt. Am Montag habe ich mich im Hauptort angemeldet; bei
der Frage nach einer Wartenummer belächelte man mich ein bisschen – ich war die
einzige. Überhaupt ist alles entspannt und freundlich, und das nur 1 Kilometer
von der Berliner Stadtgrenze.
Was das mit Louisiana zu tun hat? Fast nichts. Außer, als
ich heute früh so am Schreibtisch saß und wartete, dass meine unendlich
langsame Internetverbindung – langsamer als ein louisianischer
Postschalterbeamter, falls das möglich ist – mir eine Seite aufmacht, da fühlte
ich mich plötzlich in mein Holzhäuschen in Baton Rouge zurückversetzt. Dort saß
ich an einem riesigen, laut rauschenden Computer, der auch so langsam war, und sah mit einem
durch Fenster und Gazeveranda gefilterten Blick ins Grüne: Feigenbäumchen,
Bananenstauden, Crepe Myrtles und ab und zu der Postbote oder ein UPS-Mensch,
und viel viel Sonne. Rinder und Pferde gibt es nicht allzu viele in Louisiana,
aber die dortige Ruhe und Gelassenheit hoffe ich hier im kühlen Klima
wiederzufinden. Mit der Postbotin habe ich mich auch schon bekannt gemacht.
Aus New Orleans gibt es auch Neues: Mitch Landrieu ist im ersten
Wahlgang mit 64% zum Bürgermeister wiedergewählt worden*, der frühere
Bürgermeister, die vormalige Lichtgestalt Ray Nagin steht weiter wegen
Korruptionsvorwürfen vor Gericht, das mit BP und anderen Katastrophen ist noch
lange nicht ausgestanden.
Übrigens, NPR funktioniert hier draußen mindestens so
gut wie in der Stadt. Dort zuletzt gehört: In der Sendung Tell Me More mit
Michelle Martin ein Interview mit Soundbites der Sängerin Leyla McCalla, die
auch Banjo und Cello spielt. Auf ihrem, per Crowdfunding finanzierten,
Solodebüt hat sie Gedichte von Langston Hughes vertont und spielt auch
haitianische Lieder, die sie in New Orleans kennengelernt hat. Sehr schön. Zu
lesen und hören hier.
Auch vor kurzem auf NPR: On Point mit Tom Ashbrook
sendete aus New Orleans zum Thema „American Coastlines“, mit dem
Times-Picayune-Kolumnisten Jarvis DeBerry, der Professorin Denise Reed von UNO
und dem Wissenschaftler Tommy Michot vom Institute for Coastal Ecology in
Lafayette. Hier.
* In diesem Artikel mehr über seinen Herausforderer der
letzten Minute, Michael Bagneris, der 33% der Stimmen erhielt und Landrieu
aufforderte, mehr in traditionell afroamerikanische Viertel zu investieren und
die Sicherheit aufzustocken. Er stellte eine Besucherzahl von jährlich 9-10
Millionen einer Zahl von 1.200 Sicherheitskräften gegenüber.
Was hier anders ist: Direkt vor meinem Fenster geht ein Weg entlang, den immer wieder Spaziergänger und Radfahrer frequentieren. Die meisten beäugen neugierig unser Haus. Ich habe mich noch nicht getraut zu winken, aber ich gucke zurück und genieße den kleinen Laufsteg des Stinknormalen hier vor dem Fenster.
Montag, 20. Januar 2014
Tatwort. Die Übersetziade. -- Alle Einsendungen
Tatwort. Die Übersetziade
Am 29. November 2013 war
unser erster Entscheid für Tatwort. Die Übersetziade, ein feines, warmes und
fröhliches Fest des Übersetzens. Wir hatten elf Einsendungen erhalten. Zu
übersetzen war ein Prosagedicht aus Donna Stoneciphers preisgekröntem
Gedichtband The Cosmopolitan (Coffee House Press 2008, National Poetry Award).
Donna Stonecipher hatte anonym den Gewinner des Autorinnenpreises ausgewählt
und der Publikumspreis wurde nach Abstimmung vergeben.
Das Original:
Donna Stonecipher
Inlay 22 (Elfriede Jelinek,
by way of Lenin)
1. In Cologne we bought
cologne. In Morocco we bought morocco. In Kashmir we bought cashmere. Then, our
suitcases stuffed, we flew back home to New York City, where we drank manhattan
after manhattan until ill-advisedly late into the evening.
2. “I’m an anarchist,” said
the poet. “You’re spoiled,” said his girlfriend. A line of people in masks
paraded by. And then the lights dimmed, and the one true anarchist was suddenly
spot-lit in the crowd: a little girl with an ice cream sandwich melting in her
bag.
3. The beautiful people
wanted to go only to places where there were other beautiful people, in cafés
and restaurants and bars, and puffed nervously on their cigarettes when the
number of ugly people shown to tables seemed to be reaching critical mass.
4. You like to be told what
to do. You like to be shown to your plug and to glow in it like a nightlight.
You like to be clued in, strapped on, knuckled under. You like to be held down
and liquored up. You like to be scooped out, bowled over, seen through.
“Trust is fine, but control
is better”
5. Forking over our dollars,
we hatched a grand plan for the overlapping economy: Let the French take care
of the perfumes; the Dutch of the tulips; and the Italians of the leather
shoes. Each would be a department in the department store in the Great Mall.
6. She wrote, I want to be
seen through. He wrote, But you are deliberately opaque. She wrote, I want
people to want to work hard to see through my (really quite superficial)
opacity. He wrote nothing back. She waited, but he wrote nothing back.
7. You like to go from room
to room drowning yourself in dahlias. You like to stand in a crowd and implode
and implode till all your individuality melts. You like to be underneath, on
top, afloat. But it thrills you to hear your name in a stranger’s mouth.
8. Was it good or bad when
the foreigner was said to be “more French than the French”? She of the huge
hats and humble origins was “more bourgeois than the bourgeois.” And the
cosmopolitan was more cosmopolitan than the cosmos itself.
9. We bought china in China.
We bought tangerines in Tangier. You bought turquoise in Turkey, and I bought
an afghan in Afghanistan. I bought india ink in India, and you bought an
indiaman in India. But nowhere did we relinquish any little bit of ourselves.
Der Autorinnenpreis:
Lars-Arvid Brischke: Einlage
22 (Elfriede Jelinek, ursprünglich von Lenin)
1. In Köln kauften wir
Kölsch. In Marokko kauften wir Moloko. In Kashmir kauften wir Kasimir. Dann
flogen wir mit vollgestopften Taschen zurück nach Hause nach New York und
tranken bis der Doktor kam einen Manhattan nach dem anderen.
2. „Ich bin ein Anarchist“,
sagte der Dichter. „Du bist verdorben“, sagte seine Dirne. Eine Reihe Maskierter
paradierte vorbei. Dann dunkelte es und die einzige echte Anarchistin in der
Menge stand plötzlich im Rampenlicht: Ein Dirndl mit einem schmelzenden
Sandwich-Eis im Säckel.
3. Die Schönen wollten nur an
Orte gehen wo es andere Schöne gab, in Cafes und Restaurants und Bars, und
zogen nervös an ihren Zigaretten wenn die Zahl der Hässlichen, denen Tische
gezeigt wurden, eine kritische Masse zu erreichen schien.
4. Du magst es, wenn dir
einer sagt wo’s langgeht. Du magst es, wenn dir einer deinen Stecker zeigt, in
dem du glimmst wie ein Nachtlicht. Du willst im Bilde sein, angeschnallt,
untergebuttert. Du magst dich
ausgebremst und schnapserfüllt. Willst ausgehöhlt sein, umgestoßen,
durchschaut.
„Vertrauen
ist gut, Kontrolle ist besser“
5. Wir hauten unsre Dollars
auf den Kopf und schmiedeten den Plan für eine überlappende Ökonomie: Sollen sich die Franzosen um
Parfums, die Holländer um Tulpen und die Italiener um schicke Lederschuhe
kümmern. Jeder wäre eine Ware eines Warenhauses in der großen Einkaufszone.
6. Sie schrieb, ich will
durchschaut werden. Er schrieb, du bist absichtlich undurchsichtig. Sie
schrieb, ich möchte, dass Leute sich bemühen mögen, bei meiner (eigentlich echt
nur oberflächlichen) Undurchsichtigkeit durchzublicken. Er antwortete nichts.
Sie wartete, doch er antwortete nichts.
7. Du gehst so gern von Raum
zu Raum, ertränkst dich in Dahlien. Du stehst gern in der Menge, brichst
zusammen, brichst zusammen bis dein ganzes Wesen schmilzt. Du bist gern unter
uns, obenauf, im Fluss. Doch es erregt dich, deinen Namen aus fremdem Mund zu
hören.
8. War es gut oder schlecht,
den Ausländer „französischer als einen Franzosen“ zu nennen? Sie mit ihren
großen Hüten und ihren bescheidenen Wurzeln war „spießiger als die Spießer“.
Und der Kosmopolit war kosmopolitischer als der Kosmos.
9. Wir kauften Kobaltblau in
China. Wir kauften Orange in Tanger. Du kauftest Türkis in der Türkei und ich
kaufte einen Affen in Afghanistan. Ich kaufte Indigo in Indien und du kauftest
ein Individuum in Indien. Aber nirgends gaben wir auch nur das Mindeste von uns
preis.
Der Publikumspreis:
Sven Scheer: nach Donna
Stonecipher (entschuldige)
Durchschuss 22 (Elfriede
Jelinek mit Lenin im Beiwagen)
1. In Gouda kauften wir
Gouda. In Roquefort kauften wir Roquefort. In Cheddar kauften wir Cheddar.
Dann, der Koffer miefend, ging’s heim nach Pilsen, wo wir Pilsener auf Pilsener
tranken, bis sich der Sternenhimmel vor unseren Augen drehte.
2. „Ich bin ein Spießer“,
sagte der Dichter. „Bild dir bloß nichts ein“, sagte seine Freundin. Eine
Polonaise der Masken zog vorüber. Die Lichter verloschen, und die Aura des
Dichters spießte ein unschuldiges kleines Mädchen auf. Unschuldig? Aus ihrer
Tasche tropfte Eiscreme.
3. Die Schönen sagten: O
Herr, lass strahlend Schöne neben mir sein. Überall, im Café, im Restaurant und
in der Bar. Nervös aßen sie ihre Zigaretten auf, als mehr und mehr Hässliche
neben ihnen Platz nahmen. Die Apokalypse nahte.
4. Du willst ständigen
Empfang. Du willst in die Steckdose gesteckt werden und wie ein Smartphone
leuchten. Du willst chatten, whats-appen, twittern. Du willst eins aufs Maul
und abgefüllt werden. Du willst, dass deine Festplatte ausgebaut, gelöscht,
re-booted wird.
„Vertrauen gut und schön,
Kontrolle besser und schöner.“
5. Wir packten die Euro auf
den Tresen und erklärten der Wirtschaft dahinter unseren Masterplan: Erst mal
ein Jever aus Jever, dann eine Berliner Bulette, zum Schluss einen kurzen
Klaren aus Nordhausen. Und das alles, ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen.
6. Sie schrieb: Vertrau mir
nicht. Er schrieb: Das hatte ich auch nicht vor. Sie schrieb: Du spinnst wohl,
vertrau mir jetzt sofort. Er schrieb nicht mehr. Es klopfte, und sie erschrak,
als ein Lichtstrahl durch den Türspalt drang.
7. Noch bevor er dich
erreicht, ertrinkt er im Dahlienmeer deines Zimmers. Du stiefelst auf ihm
herum, bis er ein einziger Brei ist, Persönlichkeit und alles. Du hast die
volle Kontrolle und beseitigst alle Spuren, bis nichts mehr übrig ist als dein
Name auf seinem Mund.
8. War es gut oder schlecht,
als man von dem Fremden sagte, er sei angeschickerterer als die Schickeria? Und
sie aus der Bettenburg, sie mit den Zahnkronen, blauer als jedes Blaublut,
rief: Der Cosmopolitan hier ist der beste der Milchstraße!
9. Wir kauften eine blaue Briefmarke
in Mauritius. Wir kauften Indianer in Amerika. Du kauftest eine Wiener in
Frankfurt, und ich kaufte eine Frankfurter in Wien. Dazu Dijon du weißt schon
woher. Und trotz allem blieb es dabei: Mia san mia, alles andere ist Käse.
Die übrigen Übersetzungen in
der Reihenfolge des Einsendedatums:
Thies Thiessen: Einlegearbeit 22 (Elfriede
Jelinek, über Lenin)
1. In Köln kauften wir Echt Kölnisch. In Marokko
maroquinisch. In Kaschmir Kaschmir. Dann waren die Koffer voll und wir flogen
heim, nach New York City, Manhattan. Mann, hätten wir das bloß nicht bis in den
Abend getrunken, uns war übel.
2. „Ich bin ein Anarchist“
sagte der Dichter. “Du bist
verzogen” sagte seine Freundin. Hintereinanderweg paradierten Menschen in
Masken vorbei. Es wurde dunkel, und auf einmal erstrahlte der einzig echte
Anarchist in der Menge: ein kleines Mädchen mit einer Eiscremewaffel, die in
seiner Tasche schmolz.
3. Die Schönen wollten nur
dahin, wo auch andere Schöne waren, in Cafés und Restaurants und Bars, und sie zogen
nervöser an ihren Zigaretten, sobald die sichtbar Hässlichen bedrohlich mehr
wurden und die kritische Masse zu erreichen schienen.
4. Du magst, dass man Dir
sagt, was du tun sollst. Du möchtest gefasst sein, in deiner Fassung still
glimmen wie ein Nachtlicht. Du magst, wenn man dich hinweist, festmacht, beugt.
Du möchtest runtergehalten werden und saufgebaut. Leergelöffelt, überschüsselt,
durchgesichtet, das willst Du sein.
“Vertrauen ist gut. Kontrolle
ist besser.”
5. Wir gaben unsere Dollars
aus und brüteten einen Plan aus für eine allumfassende Wirtschaft: Lasst die
Franzosen sich ums Parfum kümmern,
die Holländer um die Tulpen und die Italiener um die Lederschuhe. Für
jeden eine Abteilung im Angebot des Großen Warenhauses.
6. Sie schrieb: „Ich möchte
durchsichtig werden“. Er schrieb: „Aber du bist nun einmal undurchschaubar“.
Sie schrieb: „Die Menschen sollen
sich bemühen, dass sie meine (wirklich oberflächige) Oberfläche durchschauen.
Er schrieb nichts. Sie wartete, aber er schrieb nichts.
7. Du möchtest von Raum zu
Raum gehen, dich in Dahlien versenken, ertränken. Du möchtest in der Menge
stehen und implodieren, implodieren, bis alles was du bist, dahinschmilzt. Du
möchtest drunter sein und drüber, schwimmen. Aber es erregt dich, deinen Namen
zu hören aus eines Unbekannten Mund.
8. War das gut oder schlecht,
als es hieß, der Fremde wäre „französischer als die Franzosen“? Die mit den
übergroßen Hüten und der niedrigen Herkunft „spießiger als jeder Spießer?“ Und der in aller Welt Gewandte
weltgewandter als die Welt?
9. In China kauften wir
Chinoiserien. Perser kauften wir
in Persien. Du kauftest Türkise in der Türkei, und ich einen Afghanen in
Afghanistan. Ich kaufte Indigo in Indien,
und du als Indienfahrer einen Indienfahrer. Aber nirgends haben wir
gaben wir von uns auch nur das kleinste bisschen preis.
Alexander Zuckschwerdt: Intarsie 22 (Lenin, über Elfriede
Jelinek)
1. In Köln haben wir
Kölnischwasser gekauft. In Marokko haben wir Maroquin gekauft. In Kaschmir
haben wir Kaschmir gekauft. Dann, mit vollbeladenen Koffern, sind wir nach New
York zurückgeflogen, wo wir bis unvernünftig spät Manhattan um Manhattan
tranken.
2. „Ich bin ein Anarchist“,
sagte der Dichter. „Du bist verzogen“, sagte seine Freundin. Eine Reihe
Menschen in Masken marschierte vorbei. Und dann wurden die Lampen gedimmt, und
das Rampenlicht fiel plötzlich auf den wahren Anarchisten in der Menge: ein
kleines Mädchen, in dessen Täschchen ein Waffeleis dahinschmolz.
3. Die Schönen wollten nur
dort hingehen, wo auch andere Schöne waren, in Cafés und Restaurants und Bars,
und zogen nervös an ihren Zigaretten, als die Zahl der Hässlichen, die man an
den umstehenden Tischen platzierte, eine kritische Höhe zu erreichen schien.
4. Du magst es, wenn man dir
sagt, was du zu tun hast. Du magst es, wenn man dich an deine Dose führt, wo du
dann glimmen kannst wie ein Nachtlicht. Du magst es, aufgeklärt, angebunden,
unterworfen zu werden. Du magst es, niedergehalten und abgefüllt zu werden. Du
magst es, ausgenommen, umgehauen, durchschaut zu werden.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle
ist besser.“
5. Wir klaubten unser Geld
zusammen und heckten einen grandiosen Plan für die übergreifende Wirtschaft
aus: Lasst die Franzosen sich um die Duftwässer kümmern, die Holländer um die
Tulpen und die Italiener um die Lederschuhe. Jeder wäre eine Abteilung
innerhalb des großen Konsumtempels.
6. Sie schrieb: Ich will
durchschaut werden. Er schrieb: Aber du bist so verschlossen. Sie schrieb: Ich
will, dass die Menschen etwas dafür tun wollen, meine (wirklich nur
oberflächliche) Verschlossenheit zu durchschauen. Er schrieb nichts zurück. Sie
wartete, doch er schrieb nichts zurück.
7. Du magst es, von Raum zu
Raum zu gehen, in Dahlien zu versinken. Du magst es, in einer Menge zu stehen
und zu implodieren und zu implodieren, bis deine gesamte Individualität
zusammenschmilzt. Du magst es, untendrunter, obenauf, über Wasser zu sein. Aber
du liebst es, deinen Namen aus dem Munde eines Fremden zu hören.
8. War es gut oder schlecht,
wenn man von dem Ausländer sagte, er sei „französischer als ein Franzose“? Die
mit den großen Hüten und dem bescheidenen Hintergrund war „großbürgerlicher als
ein Großbürger“. Und der Kosmopolit war kosmopolitischer als der Kosmos selbst.
9. Wir haben Chili in Chile
gekauft. Wir haben einen USB-Stick in Usbekistan gekauft. Du hast Türkis in der
Türkei gekauft, und ich habe ein Mosaik in Mosambik gekauft. Ich habe Tsatsiki
in Tadschikistan gekauft, und du hast Maronen in Marokko gekauft. Aber nirgends
haben wir auch nur ein winziges Stück von uns gelassen.
Karen Braun: Intarsie
22 (Elfriede Jelinek, unter Zuhilfenahme von Lenin)
1. In Köln erwarben wir
Duftwasser. In Marokko genarbtes Leder. In Kaschmir die zarteste Wolle der
Ziegen. Mit berstenden Koffern flogen wir hinterher heim nach New York, tranken
dort massenweise Manhattans, unbesonnen, bis tief in die Nacht.
2. „Ich bin Anarchist“,
sprach der Dichter. „Du bist ein verzogener Fratz“, sagte seine Freundin. Dann
schritt bei gedämpfter Beleuchtung ein Aufzug von Masken vorbei; ein
Scheinwerfer holte aus der Menge die einzige echte Gesetzlose ans Licht: ein
kleines Mädchen, dem im Rucksack das Eis aus der Waffel schmolz.
3. Die strahlend Schönen
strebten stets nur an Orte, wo ihresgleichen sich aufhielt, in Cafés, Restaurants
und Bars. Voller Unmut zogen sie an ihren Zigaretten, sobald die Anzahl der
Hässlichen das ihnen genehme Maß zu übersteigen drohte.
4. Du liebst
Handlungsanweisungen. Du möchtest die Hand spüren, die den Stecker in die Dose
schiebt, die Tischlampe sein, das dann leuchtet. Du wirst gerne eingeführt,
vorgeführt, abgeführt. Niedergehalten, hochgeputscht. Erschöpft, überwältigt,
durchschaut.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle
ist besser“
5. Beim Bezahlen schmiedeten
wir den ultimativen Plan für eine übergreifende Ökonomie: Sollen sich die
Franzosen um die Düfte kümmern, die Holländer um die Tulpen und die Italiener
um die ledernen Schuhe. Für jeden eine Abteilung im großen Kaufhaus des
Westens.
6. Sie schrieb: Ich möchte
durchschaut werden. Er schrieb: Du bist aber aus Milchglas, absichtlich. Sie
schrieb: Ich will, dass man sich Mühe gibt mit meiner Undurchsichtigkeit. Die
ist doch bloß im Vordergrund. Er antwortete nicht. Sie wartete, aber er schrieb
nicht zurück.
7. Gern gehst du von Zimmer
zu Zimmer, ertränkst dich in Dahlien. Stehst inmitten von Menschen, zerbirst
und zerspringst in dir, bis alles zerfließt, was dich ausmacht. Bist mit
Vorliebe drunter und drüber, im Oberwasser. Doch erregt dich der Klang deines
Namens im Mund eines Fremden.
8. War es gut oder schlecht,
als man den Ausländer einen „besseren Deutschen“ hieß? Die Dame mit Tellerhut,
niedriger Herkunft, war „edler als alle von Adel“. Und der Weltbürger in mehr
Welten daheim als das Weltall selbst.
9. Wir kauften Chinarinde in
China. Granatäpfel in Granada. Du Türkise in der Türkei, ich einen
Perserteppich in Persien. In Indien erstand ich die typische Tusche, du
besorgtest das Schiff für die Heimfahrt. An keinem Ort allerdings gaben wir
auch nur einen Hauch von uns selbst preis.
Marion Oechsler:
Zwischenspiel 22 (Lenin, entdeckt bei Elfriede Jelinek)
1. In Köln kauften wir
Kölnisch Wasser. In Marokko kauften wir Maroquin. In Kaschmir kauften wir
Kaschmir. Und als unsere Koffer schließlich vollgestopft waren, flogen wir
zurück nach New York City, wo wir einen Manhattan nach dem anderen tranken, bis
alles zu spät war.
2. „Ich bin Anarchist“, sagte
der Dichter. „Du bist verwöhnt“, sagte seine Freundin. Eine Parade von Menschen
in Masken zog vorüber. Dann wurden die Lichter gedimmt, und die eine wahre
Anarchistin stach plötzlich hell erleuchtet aus der Menge hervor: ein kleines
Mädchen mit einem Eis, das in ihrer Tüte vor sich hin schmolz.
3. Die schönen Menschen
wollten sich nur an Orten aufhalten, an denen auch andere schöne Menschen waren,
in Cafés, Restaurants und Bars. Nervös zogen sie an ihren Zigaretten, sobald
sich die Zahl der hässlichen Menschen, die an ihre Tische gewiesen wurden, zu
einem Mob auszuwachsen drohte.
4. Du hast es gern, wenn man
dir sagt, was du zu tun hast. Wenn man dir zeigt, wo du dich einstöpseln
kannst, um wie ein Nachtlämpchen in seiner Steckdose zu glühen. Du lässt dich
gern einweihen, aufbuckeln, unterbuttern. Du magst es, dich überrennen und
volllaufen zu lassen. Es gefällt dir, wenn du ausgekratzt, umgehauen,
durchschaut wirst.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle
ist besser.“
5. Während wir unwillig
unsere Scheine rausrückten, brüteten wir einen Masterplan für die übergreifende
Wirtschaft aus: Sollten sich die Franzosen doch um die Parfums kümmern, die
Holländer um die Tulpen und die Italiener um die Lederschuhe. Sie würden dann
jeweils einen Verkaufsraum im Kaufhaus im Großen Einkaufszentrum bekommen.
6. Sie schrieb Ich will
durchschaut werden. Er schrieb Aber du bist doch absichtlich undurchsichtig.
Sie schrieb Ich will, dass die Leute sich anstrengen wollen, meine
(zugegebenermaßen ziemlich oberflächliche) Undurchsichtigkeit zu durchschauen.
Darauf schrieb er nichts zurück. Sie wartete, aber er schrieb nichts zurück.
7. Es gefällt dir, von einem
Zimmer ins nächste zu gehen und dabei in Dahlien zu ertrinken. Du magst es, in
einer Menschenmenge zu stehen und zu implodieren, immer weiter, bis der letzte
Funke deiner Individualität erlischt. Du bewegst dich gern unterhalb, obenauf,
mit dem Strom. Aber du bist hin und weg, wenn du deinen Namen aus dem Mund
eines Fremden hörst.
8. War es gut oder schlecht,
als sie von dem Ausländer meinten, er sei „französischer als die Franzosen“?
Sie mit den riesigen Hüten und ihrer niederen Herkunft war „bürgerlicher als
alles Bürgerliche“. Und der Kosmopolit war kosmopolitischer als der Kosmos
selbst.
9. Wir kauften Chinos in
China. Wir kauften Seetang in Tanger. Du kauftest Türkis in der Türkei, ich
kaufte einen Afghanen in Afghanistan. Ich kaufte Indigo in Indien, du kauftest einen
Indienfahrer in Indien. Aber nirgends haben wir auch nur einen winzigen
Bruchteil unserer selbst abgetreten.
Dusty-Anne Rhodes und Agnes
Bethke: Intarsie 22 (Elfriede
Jelinek nach Lenin)
1. In Panama kauften wir Panamas. In
Norwegen kauften wir Norweger. In Kaschmir kauften wir Kaschmir.
Mit vollgestopften Koffern
flogen wir dann nachhause, zurück nach New York City, wo wir Manhattan auf
Manhattan tranken bis unvernünftig spät in die Nacht.
2. „Ich bin Anarchist“, sagte der Dichter. „Du bist verwöhnt“,
sagte seine Freundin. Eine Reihe von Menschen in Masken zog vorbei. Und dann
wurden die Lichter gedimmt, und der eine wahre Anarchist wurde plötzlich in der
Menge angestrahlt: ein kleines Mädchen mit einem Sandwich-Eis, das in seiner
Tasche schmolz.
3. Die schönen Leute wollten
nur an Orte gehen, wo andere schöne Leute waren, in Cafés und Restaurants und
Bars, und sie zogen nervös an ihren Zigaretten, wenn die Anzahl hässlicher
Leute, die an Tische geführt wurden, eine kritische Masse zu erreichen schien.
4. Du magst, wenn man Dir
sagt, was Du tun sollst. Du magst, wenn man dich zu deiner Steckdose führt und darin zu
glimmen wie ein Schlummerlicht.
Du magst, ins Bild gesetzt, unterworfen zu werden. Du magst, festgehalten
und abgefüllt zu werden. Du magst, ausgehöhlt, umgehauen
und durchschaut zu werden.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle
ist besser.“
5. Während wir unsere Dollars
hinblätterten, heckten wir
einen grandiosen Plan für die eng verzahnte Wirtschaft aus: Lass
die Franzosen sich ums Parfum kümmern, die Holländer um Tulpen, und die
Italiener um Lederschuhe. Jeder wäre eine eigene Abteilung im Kaufhaus in der großen Shopping Mall der Welt.
6. Sie schrieb, Ich will
durchschaut werden. Er schrieb, Aber du bist gewollt undurchsichtig.
Sie schrieb, Ich will, dass
Menschen sich richtig anstrengen wollen, durch meine (doch recht
oberflächliche) Undurchdringlichkeit hindurchzuschauen.
Er schrieb nichts zurück. Sie wartete, aber er schrieb nichts zurück.
7. Du magst es, von Raum zu
Raum zu gehen und in Edelpelargonien zu ertrinken. Du magst, in einer Menschenmenge zu stehen und zu implodieren und
zu implodieren, bis all Deine Einzigartigkeit schmilzt. Du magst es unten
drunter, obenauf, im Wasser treibend. Aber
es gibt Dir einen Kick, wenn du deinen Namen aus dem Mund eines Fremden hörst.
8. War es gut oder schlecht,
als vom Ausländer gesagt wurde, er sei „französischer als die Franzosen“? Sie
mit den großen Hüten und den bescheidenen
Anfängen war
„spießiger als die Spießbürger“. Und der Kosmopolit war kosmopolitischer als
der Kosmos selbst.
9. Wir kauften Chinin in
ChinaWir kauften Tabak in Tobago. Du kauftest
Türkise in der Türkei und ich kaufte einen Perser in Persien. Ich kaufte arabische
Gewürze und Du kauftest einen Araber. Aber nirgendwo gaben wir auch nur ein bisschen
von uns selbst preis.
Michael
Karjalainen-Dräger: Inlay
twenty-two (Elfriede Jelinek via Lenin)
1. In Köln kauften wir
Kölnischwasser. In Kaschmir kauften wir Kaschmir. Dann flogen wir mit
vollgestopften Koffern heim nach New York City, wo wir einen Manhattan nach dem
anderen soffen bis idiotisch lang in die Nacht hinein.
2. „Ich bin ein Anarchist“, sagte
der Dichter. „Du bist verdorben“, sagte seine Freundin. Eine Reihe maskierten
Volks marschierte vorbei. Und dann wurden die Lichter gedimmt, und die
Scheinwerfer fielen auf den einzig wahren Anarchisten im Gedränge: ein kleines
Mädchen mit einem Eiscreme-Sandwich, das in ihrer Tasche schmolz.
3. Die Schönen wollten
ausschließlich an Orten sein, wo andere Schöne waren, in Cafés und Restaurants
und Bars; sie pafften nervös ihre Zigaretten während die Zahl der Hässlichen,
die an die Tische geführt wurden, die kritische Masse zu erreichen schien.
4. Du liebst es, wenn man dir
sagt, wo’s langgeht. Du liebst es, wenn man deinen Zündschlüssel dreht und dich
zum Vorglühen bringt. Du liebst es, wenn man dir Anweisungen gibt, wenn du
festgeschnallt wirst und kuschen musst. Du liebst es, wenn man dich klein hält
und dir einschenkt. Du liebst es, wenn man dich schlaucht, wenn du sprachlos
bist und wenn du durchschaut wirst.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle
ist besser.“
5. Während wir unser Geld beim Fenster hinaus warfen,
brüteten wir einen großartigen
Plan für die überbordende Wirtschaft aus: die Franzosen sollen sich um die
Parfums kümmern; die Niederländer um die Tulpen; und die Italiener um die
Lederschuhe. Für jeden ein Laden an der Great Mall.
6. Sie schrieb, sie wolle
durchschaut werden. Er schrieb, sie würde sich mit voller Absicht
undurchschaubar geben. Sie schrieb, sie wolle, dass sich Menschen anstrengten,
um ihre (wirklich total oberflächliche) Undurchschaubarkeit zu durchschauen. Er
schrieb nicht zurück. Sie wartete, er aber schrieb nicht zurück.
7. Du liebst es, wenn du von
Raum zu Raum gehst, dich im Duft von Dahlien ertränkst. Du liebst es, wenn
du in der Menge stehst und
implodierst und implodierst bis deine ganze Individualität ausgelöscht ist. Du
liebst es, wenn du unten-drunter, über-drüber, obenauf bist. Aber es erregt
dich, wenn ein Unbekannter auf seinen Lippen deinen Namen trägt.
8. Ist es gut oder schlecht,
wenn von Fremden gesagt wird, dass sie „französischer als die Franzosen“ wären?
Sie war, mit ihren gigantischen Hüten und ihrer niedrigen Abstammung
„bürgerlicher als die Bürger“. Und der Weltbürger war weltbürgerlicher als die
Welt selbst.
9. Wir kauften
China-Porzellan in China. Wir kauften Tangerinen in Tanger. Du kauftest Türkis
in der Türkei und ich kaufte eine Afghan-Decke in Afghanistan. Ich kaufte
indische Tinte in Indien, und du kauftest dort einen Indienfahrer. Aber
nirgendwo gaben wir auch nur ein kleines bisschen von uns selbst preis.
Jan Imgrund: Intarsie 22 (Elfriede Jelinek,
ursprünglich Lenin)
1. In Köln kauften wir
Kölnisch Wasser. In Shiraz kauften wir Shiraz. In Kaschmir kauften wir
Kaschmir. Dann flogen wir mit Übergepäck heim nach New York City, und dort
tranken wir einen Manhattan nach dem anderen, bis tief in die Nacht.
2. „Ich bin Anarchist“, sagte
der Dichter. „Du bist verwöhnt“, sagte seine Freundin. Maskierte Menschen zogen
vorbei. Dann dimmte das Licht herunter, und plötzlich richtete sich ein
Scheinwerfer auf den einzigen echten Anarchisten in der Menge: es war ein
kleines Mädchen, und in ihrer Tasche schmolz ein Eiskonfekt.
3. Die Beautiful People
wollten nur in Locations gehen, wo andere Beautiful People waren, Cafés und
Restaurants und Bars, und zogen nervös an ihren Zigaretten, wenn der Anteil
Ugly People, die man zu ihren Tischen geleitete, eine kritische Masse zu
erreichen schien.
4. Dir gefällt, wenn man dir
sagt, was du tun sollst. Du gefällt es, wenn man dich zu deinem Stecker führt, dass du in ihm glühen
kannst wie ein Lämpchen. Dir gefällt es, betippt, angeschnallt, unterjocht zu
sein. Dir gefällt es, niedergedrückt und eingeflößt zu sein. Dir gefällt es,
abgeschöpft, überwältigt, durchschaut zu sein.
„Vertrauen ist gut, aber
Kontrolle ist besser.“
5. Unsere Dollars
rüberschiebend heckten wir einen Plan für die übergreifende Wirtschaft aus: Die
Franzosen kümmern sich um Parfum, die Holländer um die Tulpen, und die
Italiener um die Lederschuhe.
Jeder hätte seinen Platz in einer Abteilung im Großen Kaufhaus.
6. Sie schrieb: Ich will
durchschaut werden. Er schrieb: aber du bist mit Absicht opak. Sie schrieb: ich
möchte, dass die Leute durch meine (eigentlich recht oberflächliche)
Undurchsichtigkeit hindurchsehen. Er schrieb nichts zurück. Sie wartete, aber
er schrieb nichts zurück.
7. Dir gefällt es, Zimmer
über Zimmer zu durchschreiten, in Dahlien ertrinkend. Dir gefällt es, in einer Menschenmenge zu stehen und zu
implodieren und zu implodieren, bis all deine Individualität schmilzt. Dir
gefällt es, zuunterst zu sein, zuoberst, zu schwimmen. Aber du bist aufgeregt,
wenn ein Fremder deinen Namen in den Mund nimmt.
8. War es gut oder schlecht
wenn es hieß, der Ausländer sei „französischer als die Franzosen“? Die Dame aus
bescheidenen Verhältnissen, mit den riesigen Hüten, war „bürgerlicher als die
Bourgeoisie“. Und der Kosmopolit war kosmopolitischer als der gesamte Kosmos.
9. Wir kauften Hamburger in
Hamburg. Wir kauften Mandarinen in der Mandschurei. Du kauftest Türkise in der
Türkei, und ich kaufte einen Afghanen in Afghanistan. Ich kaufte ein
Englischhorn in England, und du kauftest einen Engländerschlüssel in England.
Aber wir gaben nirgends auch nur das kleinste Stück von uns preis.
Martina Tichy: Donna Stonecipher // Inlay 22 (Elfriede
Jelinek, by way of Lenin)
1. In Köln kauften wir
Kölnisch Wasser. In Muskat kauften wir Muskat. In Kaschmir kauften wir
Kaschmir. Mit randvollen Koffern flogen wir zurück nach New York, wo wir bis
unklug spät in die Nacht Manhattan um Manhattan tranken.
2. „Ich bin ein Anarchist“,
sagte der Dichter. „Du bist verhätschelt“, sagte seine Freundin. Maskierte
zogen im Gänsemarsch vorbei. Dann erloschen die Lichter, und ein Spot zeigte
auf die einzig wahre Anarchistin in der Menge: ein kleines Mädchen mit einem
dahinschmelzenden Eiscremesandwich in der Tasche.
3. Die Schönen wollten immer
nur dorthin, wo noch andere Schöne waren, in Cafés, Restaurants und Bars, und
pafften nervös an ihren Zigaretten, wenn die Anzahl der Hässlichen, denen
Plätze angewiesen wurden, eine kritische Masse zu erreichen schien.
4. Du lässt dir gern sagen,
was du tun sollst. Du lässt dir gern deine Steckdose zuweisen und erglühst
darin wie ein Nachtlicht. Du lässt dich gern einweisen, anbinden, unterbuttern.
Du lässt dich gern niederhalten und abfüllen. Du lässt dich gern ausschaufeln,
umkegeln, durchschauen.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle
ist besser.“
5. Wir brachten unsere
Dollars unters Volk und brüteten einen grandiosen Plan für die überlappende
Wirtschaft aus: Die Franzosen kümmern sich um die Parfüms, die Holländer um die
Tulpen und die Italiener um die Lederschuhe. Ein jedes hätte eine Abteilung im
Kaufhaus im Großen Einkaufszentrum.
6. Sie schrieb: Ich will
durchschaut werden. Er schrieb: Aber du bist doch mit Absicht undurchsichtig.
Sie schrieb: Ich will, dass die Leute hart daran arbeiten wollen, meine (nun
wirklich reichlich oberflächliche) Undurchsichtigkeit zu durchschauen. Er
schrieb nichts zurück. Sie wartete, aber er schrieb nichts zurück.
7. Du gehst gern von Raum zu
Raum und ertränkst dich in Dahlien. Du stehst gern in einer Menschenmenge und
zerspringst innerlich, bis sich alles auflöst, was dich ausmacht. Du bist gern
drunter, drüber, in der Schwebe. Aber du findest es aufregend, wenn ein Fremder
dich beim Namen nennt.
8. War es gut oder schlecht,
dass es von dem Ausländer hieß, er sei „französischer als die Franzosen“? Die
mit den riesigen Hüten und der niederen Herkunft war „gutbürgerlicher als die
Gutbürgerlichen.“ Und der Kosmopolit war kosmopolitischer als der Kosmos
selbst.
9. Wir kauften Persianer in
Persien. Wir kauften Jersey auf Jersey. Du kauftest Türkise in der Türkei, und
ich kaufte Sardinen auf Sardinien. Ich kaufte Indigo in Indien, und du kauftest
einen Indienfahrer in Indien. Doch nirgendwo gaben wir auch nur das kleinste
bisschen von uns preis.
Jenny Merling: Inlay 22 (Elfriede Jelinek,
by way of Lenin)
1. In Köln haben wir uns
Kölnisch Wasser gekauft. In Marokko Marokkoleder. In Kaschmir Kaschmirwolle.
Dann sind wir mit unseren vollen Koffern zurück nach New York geflogen, haben
dort einen Manhattan nach dem anderen getrunken und sind unvernünftig lange
aufgeblieben.
2. „Ich bin Anarchist“, sagte
der Künstler. „Du bist bloß verwöhnt“, meinte seine Freundin. Menschen mit
Masken zogen in einer langen Prozession vorbei. Dann wurde es schummerig im
Raum. Und plötzlich leuchtete die einzig wahre Anarchistin inmitten der Menge
auf wie von einem Scheinwerfer angestrahlt: ein kleines Mädchen mit einem
geschmolzenen Eis am Stiel in der Tasche.
3. Wunderschöne Menschen
wollen nur in Cafés und Restaurants und Kneipen sitzen, wo auch alle anderen
Menschen wunderschön sind. Fast panisch ziehen sie an ihren Zigaretten, sobald
für ihren Geschmack zu viele hässliche Leute an ihnen vorbei zu ihren Tischen
geführt werden.
4. Du willst, dass man dir
vorschreibt, was du tun sollst. Du willst eine Steckdose zugewiesen bekommen,
in die du dich einstöpseln und dann leuchten kannst wie ein Nachtlicht. Du
willst wissen, was von dir erwartet wird, willst, dass man dich festschnallt,
dich an der kurzen Leine hält. Du willst, dass man dich gegen deinen Willen
betrunken macht. Du willst, dass man dich aushöhlt, dich durcheinander kegelt,
dich durchschaut.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle
ist besser.”
5. Während wir noch
widerwillig für die Fehler der anderen zahlten, hatten wir bereits große Pläne,
wie die Wirtschaft zu retten sei: Die Franzosen kennen sich mit Parfum aus, die
Holländer haben ihre Tulpen, die Italiener ihre Designerschuhe – also bekommt
jede Nation einen eigenen Laden in unserem neuen Einkaufszentrum, das so groß
sein wird, dass man es vom Mond aus sehen kann.
6. Sie schrieb: Ich will,
dass man mich durchschaut. Er schrieb zurück: Wieso machst du dann immer einen
auf undurchschaubar? Sie schrieb: Ich will, dass sich jemand die Mühe macht,
meine Undurchschaubarkeit (die ziemlich oberflächlich ist, wenn wir mal ehrlich
sind) zu durchschauen. Er schrieb darauf nichts zurück. Sie wartete, aber er
schrieb nichts mehr.
7. Du wanderst gern durch die
Zimmer und ertrinkst dabei in Dahlien. Du stehst gern in der Menge und
zerbrichst, zerbrichst in immer kleinere Teile, bis alles, was dich ausmacht,
fort ist. Du gehst den Sachen gern auf den Grund, bist gern oben auf, lässt
dich auch gern treiben. Und trotzdem hast du immer noch dieses Kribbeln im
Bauch, wenn jemand Fremdes deinen Namen sagt.
8. War das ein Kompliment
oder eher ein Vorwurf, als jemand über den Ausländer meinte, er sei
„französischer als ein Franzose“? Die Dame aus einfachen Verhältnissen, die mit
den großen Hüten, sei „bourgeoiser als bourgeois“? Und der Kosmopolit
kosmopolitischer als der Kosmos selbst?
9. Aus China haben wir uns
chinesisches Porzellan mitgebracht. Aus der Champagne Champagner. In der Türkei
hast du dir türkischen Honig gekauft und ich mir in Afghanistan Schwarzen
Afghanen. Aus Indien habe ich Indisch-Blau mit nach Hause gebracht, und du dir
einen Ostindienfahrer. Aber im Gegenzug auch von uns selbst etwas dagelassen
haben wir nirgendwo.
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