Ende Januar wurde in Chicago die 15-jährige Hadiya Pendleton
erschossen. Einfach so auf der Straße geriet sie, gemeinsam mit
anderen, vermutlich in die Schusslinie einer Fehde zwischen
konkurrierenden Gangs. Schlagzeilen machte ihr Tod nicht nur, weil Hadiya eine
Bestschülerin mit vielen Träumen und Ambitionen war. Sie war auch wenige Tage
zuvor mit der marching band (Marschorchester) ihrer Schule bei der Amtseinführung
von Präsident Obama aufgetreten und stammte aus der Heimatstadt der Obamas, aus
Chicago (hier).
Michelle Obama flog zu ihrer Beerdigung. Als Präsident Obama Mitte Februar in
der Hyde Park Career Academy im Süden von Chicago unter anderem über Hadiya
Pendleton und über seine Bemühungen zur Verschärfung der Waffengesetze sprach, saß
unweit von ihm die 14-jährige Schwester von Janay McFarlane, einer 18-jährigen
Mutter, die am selben Abend „aus Versehen“ erschossen wurde (hier).
Allein im Januar sind in Chicago mehr als 40 Menschen durch Schusswaffen
getötet worden.
So ist es auch kein Wunder, dass im Radio plötzlich ständig
über die Gewalt in Chicago gesprochen wird. Zum Beispiel habe ich in einem Beitrag über ein Programm gehört, das einkommensschwachen Familien hilft, in
bessere Viertel zu ziehen, um damit die Zukunftschancen für die Kinder zu
verbessern -- und sehr oft ist das erfolgreich. In der Sendung This American Life, die in Chicago produziert wird, läuft derzeit eine
interessante zweiteilige Serie über die Harper High School in einem armen Teil der South Side of Chicago. Dort werden viele Schüler Opfer von Waffengewalt; ein Schüler hat aus Versehen seinen kleinen Bruder
erschossen. Es wird berichtet, dass man, ob man es will
oder nicht, einer Gang angehört, einfach abhängig davon, wo man wohnt. Dass man nicht allein von der
Schule nach Hause gehen kann, weil es zu gefährlich ist, aber auch nicht zu
zweit, sondern am besten mit zwei Mädchen ein paar Meter hinter einem. Dass ein
Schüler sich deshalb, abgesehen von der Schule, nicht mehr aus dem Haus traut.
Wie sich die engagierte Direktorin und die Sozialarbeiterinnen an der Schule um
Normalität bemühen. Dass sogar ein Polizist einsieht, dass man gar nicht umhin
kommt, in einer Gang Mitglied zu sein. In diesen Tagen läuft der zweite Teil.
Auch Michelle Obama betont gern, dass sie von der South Side
kommt, „the real side of Chicago“ (der wirklichen Seite von Chicago). Allerdings wuchs sie in zwar einfachen, aber doch in Verhältnissen der Mittelklasse auf. Vor vielen Jahren hatte
ich mal einen jungen Studenten von der South Side, Kevin, der in
Ohio bei mir Deutsch lernte. Einmal, als ich vor Weihnachten zu einer Konferenz nach Chicago fuhr, habe ich ihn im Auto mitgenommen. Kevin wollte nicht nach Hause gefahren, sondern an einer Straßenecke abgesetzt werden, vielleicht weil er nicht mit mir gesehen werden wollte? Weil ich sein Zuhause und Umfeld nicht sehen sollte? In so einem ausgedehnten, armen, afroamerikanischen Viertel war ich noch nie
gewesen, in New Orleans nicht und selbst in St. Louis nicht.
Forbes-Magazine
hat gerade wieder eine Rangliste der schrecklichsten Städte der USA
veröffentlicht. Auf Platz 1 steht Detroit, Michigan; Chicago ist auf Platz 4, auch wegen der langen Arbeitswege, Wetter und anderen Parametern. Dann
gibt es noch weitere Listen: wo jetzt alle hinziehen, die gefährlichsten Städte
und die besten Städte für Business und Karriere. New Orleans taucht in keiner
dieser Listen auf.
Dafür hat es den traurigen Ruhm immer regelmäßig und
konstant als die Stadt mit der meisten Gewalt die Statistiken anzuführen (hier).
Laut Centers for Disease Control (Zentren für Krankheitsbekämpfung) beträgt die
Rate von Toden durch Schusswaffen 69,1 auf 100.000 Menschen im Vergleich zu
41,4 in Detroit. Bei Selbstmorden mit Schusswaffen taucht New Orleans nicht
unter den ersten auf (es führt Las Vegas), aber bei Tötungsverbrechen sind es
62,1 auf 100.000 Menschen, dahinter wieder abgeschlagen Detroit mit 35,9.
Chicago erscheint in diesen Statistiken nicht unter den ersten Plätzen.
Als ich im Herbst mit einer Kreolin sprach, die im Besucherzentrum
der Kirche Our Lady of St. Guadelupe arbeitet, sagte sie mir, dass New Orleans
die beste Stadt sei. Trotz der Gewalt? Die Gewalt betreffe nur Drogen und
Schwarz auf Schwarz, mit uns habe das nichts zu tun. Als sie nach Katrina
einige Zeit in Las Vegas gelebt habe, habe sie mehr Angst gehabt.
Insgesamt stehen die USA bei den Toden durch Schusswaffen auf Platz 9 weltweit, bei den (demokratischen) Industrieländern ganz vorn (hier).
2012 nahm die Gewalt in Chicago und Detroit rapide zu, in New York und
Washington, D.C. hingegen ab (hier).
Dabei war DC bis vor einigen Jahren auch noch für seine Gewalt berüchtigt.
Der New Yorker-Autor Malcolm Gladwell vertritt übrigens in
seinem Buch Outliers (Überflieger) die These, dass Fehden und Ehrenmorde
besonders in Kulturen verankert sind, die ehemals Hirten waren und Vieh zu
bewachen und verteidigen hatten, zum Beispiel aber nicht unter Ackerbauern. Doch auch zwischen den
Gangs in Chicago und anderswo wird aus Rache und verletzter Ehre und wegen schiefen Blicken gemordet, und manche der jungen Menschen dort denken, dass sie ohnehin nicht alt werden und machen sich also keine Gedanken und auch keine Hoffnungen über die Zukunft. Wie erklären Sie das, Herr Gladwell? Und vor allem:
Was kann man dagegen tun?
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