Sonntag, 29. Juli 2012

Stephen King: Der Anschlag

Eigentlich passt Stephen King nicht in mein literarisches Beuteschema, aber sein letztes Buch, Der Anschlag (auf Englisch 11/22/63) hat mich doch interessiert. Erstens geht es darin um das Attentat auf John F. Kennedy, und der mutmaßliche Mörder, Lee Harvey Oswald, stammte nun mal aus New Orleans. Zweitens war dieser Roman wohl Kings Lebensprojekt, an dem er schon in den 70er Jahren angefangen hatte zu arbeiten, und Lebensprojekte beeindrucken mich. Drittens heißt es, dass Stephen King generell unterschätzt wird, und das wollte ich überprüfen. Und das habe ich mit Vergnügen getan, obwohl das Buch 1056 Seiten (mit Kings Nachwort) hat.
Hier ist die Geschichte: Jake Epping ist Englischlehrer in einer Kleinstadt in Maine. Er ist Anfang/Mitte 30, geschieden, ohne Kinder und lebt so seinen Alltag. Dazu gehören die häufigen Besuche in Al’s Diner, wo die Hamburger unglaublich billig sind, und ein Englischkurs für Erwachsene, die an ihrem Highschool-Abschluss arbeiten. Darunter befindet sich der Hausmeister der Schule, Harry, der wegen einer leichten Behinderung Spottopfer der Schüler ist. In einem Aufsatz zum Thema Der Tag, der mein Leben verändert hat beschreibt Harry, wie sein Vater die Mutter und die meisten seiner Geschwister mit einem Hammer erschlug und der neunjährige Harry nur knapp mit dem Leben davon kam. Harry erhält eine gute Note und später seinen Abschluss.
Eines Tages bittet Al, der Besitzer des Diners, Jake zu sich und erzählt ihm, dass man in seinem Keller in das Jahr 1958 zurückgehen kann und dass jedes Mal, wenn man zurückkommt, nur zwei Minuten vergangen sind, egal wie lange man dort war. Al hat das jahrelang so gemacht und billig das Fleisch für sein Restaurant eingekauft. Unter anderem hat er auch verhindert, dass ein junges Mädchen bei einem Jagdunfall getroffen wurde. Aber sein großes Ziel, auf das er sich jahrelang vorbereitet hat, wird er nicht mehr erreichen, weil er in den Jahren dort „drüben“ sterbenskrank geworden ist: den Anschlag auf John F. Kennedy zu verhindern. Dazu muss man nämlich in das Jahr 1958 zurückkehren und dann all die Jahre bis 1963 auch dort leben. Al hat alles genau erforscht, recherchiert und vorbereitet. Jake geht kurz hinüber und schaut es sich an, kommt zurück und legt sich schlafen. Am nächsten Morgen ist Al tot, und Jake macht sich allein daran, die Geschichte umzuschreiben.
Auf den folgenden 900 Seiten reist er also in der Zeit zurück, eine Reise wie in ein anderes Land. Die 50er Jahre scheinen sehr authentisch beschrieben zu sein, die Dialekte sind noch viel stärker ausgeprägt als heute, und überhaupt sprechen die Leute anders. Jake passt sich äußerlich schnell an, lässt sich die Haare kurz schneiden, trägt Anzug, Hut usw., aber durch seine Sprache verrät er sich doch beinah hin und wieder, und als er irgendwann Honky Tonk Woman von den Rolling Stones trällert, macht ihn der anzügliche Text verdächtig.
Er lebt zunächst in Derry, Maine, um ganz nebenbei auch noch Harry und seine Familie zu retten, und zieht dann weiter nach Jodie, Texas (beides fiktive Orte), das sich unweit von Dallas, dem Schauplatz des Anschlags, befindet. Derry hat ein denkbar schlechtes Karma, während Jodie genau das Gegenteil davon ist, denn dort schließt er Freundschaften, lässt sich nieder und wird der beliebte Lehrer, der im Leben seiner Schüler etwas bewirkt.
Und das ist auch die Prämisse des Romans: der Schmetterlingseffekt, wenn der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien also in Texas einen Tornado auslösen kann. Welche Auswirkungen hat unser Handeln? Was kann Jakes reine Anwesenheit und Existenz und dann erst seine Arbeit als Lehrer, sein Leben und Lieben bewirken, und das im Texas der 50er/60er Jahre? Und was dann erst das Verhindern des Kennedy-Attentats, und damit eines Ereignisses, eines Tags, das/der das Leben aller Amerikaner und wahrscheinlich die ganze Welt verändert hat? Auf dem englischen Titel heißt es: THE DAY THAT CHANGED THE WORLD. WHAT IF YOU COULD CHANGE IT BACK? (Und, ja, es gibt eine Liebesgeschichte, die beginnt, weil Jake begeisterter Swingtänzer ist und damit als eine Art Oldtimer prima in die fünfziger Jahre passt und die Bibliothekarin der Schule, Sadie, für sich einnimmt. Liebe Männer: Wenn ein Mann gut tanzen und führen kann, macht ihn das sehr sehr attraktiv.)
Nach Jakes Rückkehr in die Gegenwart sind die phänomenalen Konsequenzen seines Handelns unmittelbar sichtbar, und es zeigt sich, dass die Welt dadurch nicht besser geworden ist. Interessanterweise sperrt sich die Vergangenheit auch vehement dagegen, verändert zu werden. Am Ende ist Jake mehrmals zurückgekehrt, und letztendlich ist fast alles, wie es vorher war.
Das alles ist so spannend, dass sich das Buch so weg liest, trotz seiner kleinen Schwächen und obwohl es auch ein bisschen kürzer getan hätte. Das sexuelle Können von Sadie und Jake wird fast ein bisschen pubertär übertrieben. Der traurige Ausblick ins Jahr 2011 ist arg konstruiert und scheint, anders als die historischen Teile, schnell dahin geschrieben. Die Gewaltszenen sind für meinen Geschmack zu lustvoll und zu grausam detailliert dargestellt. Aber ich habe viel über die Zeitgeschichte gelernt, die aufmerksam und liebevoll geschildert wird, und noch mehr Einzelheiten über die Umstände des Kennedy-Attentats.
Zur Übersetzung von Wulf Berger: Solch eine Masse an Text will erst einmal bewältigt werden, wenn man anders als der Autor nicht 30-40 Jahre dafür Zeit hat, und ich vermute, dass die Übersetzung unter enormem Zeitdruck angefertigt wurde. Hier habe ich kaum das Original zu Rate gezogen, weil fast durchgängig noch das Englische hindurch schimmert. Ein Rezensent meinte sogar, der Übersetzer übersetze erst gar nicht und lasse es gleich auf Englisch stehen, und ein Satz ist tatsächlich im Original geblieben, den hat wohl das Lektorat übersehen. Das ist schade: Denn auch wenn Stephen King sicher nicht zur ganz großen Literatur gehört, so ist er doch ein fesselnder Erzähler, und die Idee des Buches und Handlung ist nicht nur faszinierend, sondern auch lehrreich und gewissermaßen philosophisch. Ich hoffe sehr, dass die deutsche Fassung noch einmal überarbeitet wird, damit das Buch auch auf Deutsch den ihm gebührenden Platz findet.
Hier die kleine Ironie des Unterfangens. In diesem Blog geht es um New Orleans. Lee Harvey Oswald stammte aus New Orleans und hat nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion, kurz bevor er nach Dallas zog, mit seiner russischen Frau Marina und Töchterchen June in New Orleans gelebt. Stephen King und sein Forschungsassistent haben zwar jahrelang recherchiert und sind durch die USA gereist, um die Schauplätze zu besuchen, aber um New Orleans scheinen sie einen riesengroßen Bogen gemacht zu haben. Über das Hotel Monteleone, das Jake zur Übernachtung empfohlen wird, haben sie sicher mal was gelesen oder gehört, und das Haus, in dem Oswald dort vor Dallas gelebt hat, findet man im Internet. Der Aufenthalt in New Orleans dauert knapp zwei Seiten und beginnt so: „New Orleans lag nicht auf meiner Route nach Dallas, aber seit die Pings meines Ahnungssonars verstummt waren, war ich in Touristenlaune... obwohl ich weder das French Quarter noch die Dampferanlegestelle Bienville noch das Vieux Carré besuchen wollte.“ (S. 366) Das ist kurios, denn Vieux Carré (Altes Viertel) ist einfach nur der französische Name für das French Quarter, aber es meint dasselbe. Immerhin kenne ich jetzt Oswalds Adresse: 4905 Magazine Street, ca. 5 Minuten von meiner letzten Wohnung entfernt. Ich habe dort mal bei einem Yard Sale ein Tischchen für meine Veranda gekauft, und anders als Stephen King fand ich das Haus nicht besonders bedrohlich. Hier ein Foto.
Das Buch hat übrigens fast ein Happy End. Das hat auch mit Swing zu tun und ist tatsächlich irgendwie bewegend.


Samstag, 28. Juli 2012

Hubig's Pies

Am Freitagmorgen, 27. Juli 2012, gegen 5 Uhr früh ist Hubig’s Pie Factory völlig niedergebrannt. Sie befand sich in der Dauphine Street nördlich des French Quarters im Faubourg Marigny. Hubig’s Pies gibt es seit 1922 in New Orleans und gehören zu den absolut essentiellen lokalen Eigenheiten der Stadt. Es sind mit Fruchtmus gefüllte Teigtaschen, die einzeln abgepackt sind. Die Figur eines fröhlichen Pie-Bäckers auf der Verpackung heißt Savoury Simon (Schmackhafter Simon) und ist das Maskottchen. 40 Angestellte backten ca. 28.000 Pies pro Tag.
Nach Hurrikan Katrina war es ein Hoffnungszeichen, wenn nach und nach vertraute Dinge wieder auftauchten, wie die erste funktionierende Ampel oder die Müllabfuhr oder eben, dass es wieder Hubig’s Pies zu kaufen gab. Die Fabrik hatte nur einige Sturmschäden erlitten, eröffnete jedoch erst im Februar 2006 wieder, als Gas, Strom usw. normal funktionierten. In der HBO-Serie Treme zieht aber eine Köchin schon im November 2005 einen Hubig’s Pie aus der Tasche und bevor überhaupt erst ein Gewitter der Richtigstellungen auf ihn einstürmte, erklärte Produzent David Simon sich seinen New Orleanser Zuschauern in einem offenen Brief.
Als gestern das Gebäude in Flammen aufging, sagte der Feuerwehrchef Charles Parent einem örtlichen Fernsehsender: „Diese Firma hat unsere Einsatzkräfte nach Katrina verpflegt. Unsere Jungs haben das mit Tränen in den Augen gelöscht.“ Einer der Besitzer, Andrew Ramsey, versprach: „Wir kommen wieder.“ (Hier.)
Mein Freund Rex schrieb auf Facebook: „Für die von Euch, die Filme sehen, in denen sie den Akzent von New Orleans immer völlig falsch wiedergeben, hier ist zu hören, wie sich ein authentischer New Orleans-Yat-Akzent anhört, im Gespräch über Hubig’s Pie-Fabrik, die gerade abgebrannt ist. Eine Zeitlang habe ich von diesen kleinen Pies gelebt.“ (For those of you who have been watching movies that get the New Orleans accent way wrong, here's what an authentic New Orleans 'yat accent sounds like, talking about how Hubig's pie company just burned. I lived on those little pies for a while.)  
Die Nachbarin, die den Brand beobachtet hat, berichtet, dass sie seit 66 Jahren in ihrem Haus lebt und die Tochter eines Jazzmusikers, Chick Johnston, ist. (Siehe hier.)

Montag, 23. Juli 2012

Kakerlaken

Der Mensch schickt Satelliten ins Weltall, baut Brücken und Tiefgaragen, richtet Schienenersatz- und Pendelverkehr ein, verdient sein Geld damit, Dinge in Computer zu tippen, und dennoch bin ich fest davon überzeugt, dass die eigentlichen, stillen, omnipräsenten Herren dieser Welt die Insekten sind, die unbemerkt und von uns kaum behelligt ihr Leben führen.
An so einem Ort wie Südlouisiana fällt das natürlich mehr auf als hier, weil es viel mehr Insekten gibt und weil sie größere Schmerzen verursachen. Da sind zum Beispiel die Feuerameisen (weshalb man sich dort nie einfach so auf eine Wiese setzen sollte), die Mücken (die kleiner sind als unsere, schwarz-weiß geringelte Beine haben und sehr wehtun) und Termiten (die nach und nach ganze Häuser aushöhlen können). Ich hatte mal einen Insektenforscher als Mitbewohner, der im ganzen Haus Tierfotos aufgehängt hatte und aus dessen Zimmer bizarre E-Musik zu hören war, „Insektenmusik“, wie wir sagten -- und der beschäftigte sich mit den Ernährungsgewohnheiten der Termiten. Die Entomologie ist in Louisiana ein lukratives Geschäft.
Die unangenehmsten und ekelhaftesten von allen, die Kakerlaken, sind im Süden auch besonders groß. Meine erste sah ich im Oktober 1990 bei meiner Ankunft in New Orleans in einem Pizzaladen in der Greyhound-Station an der Wand sitzen.
Seitdem habe ich viele andere Exemplare kennen gelernt, obwohl die Bekanntschaft, vor allem seit meine Katze in mein Leben trat, meist von kurzer Dauer war. Es gibt im Wesentlichen zwei Sorten, die dunkelbraunen, die nur so ca. 6 Zentimeter plus Fühler lang sind und es gibt die rotbraunen, noch größeren, wo die Beine auf dem Panzer angebracht zu sein scheinen. Diese nennt man Palmetto Bugs, sie können auch fliegen und sehr sehr schnell rennen. Wie immer steht im Internet, dass das alles eine Frage der Reinlichkeit ist. 
Ist es aber nicht, denn sie leben in den Bäumen, im Gras, im Gebälk der alten Häuser und kommen herein, wenn sie ein Ritze oder ein offenes Fenster entdecken. Dagegen helfen Giftköder, sogenannte Roach Motels, schwarze Sechs- oder Achtecks mit mehreren Eingängen, die man in der Wohnung verteilt. Im akuten Fall auch Spray, obwohl sie dann immer noch weiter rennen. Als endgültigen Ex-Terminator empfehle ich aber eine kleine schwarze Katze, die sich jetzt in meiner Berliner Wohnung auch schon mal über eine Fruchtfliege freut.
Wer unbedingt Fotos von louisianischen Kakerlaken sehen will, guckt bitte im Internet. Hier ein Foto der ultimativen Kakerlakenjägerin.


Sonntag, 22. Juli 2012

Ein Abriss

Heute früh 8 Uhr Ortszeit: Das Grand Palace Hotel an der Ecke Canal Street und South Claiborne Street wurde gesprengt. Das Gebäude entstand 1950-51 als Claiborne Towers und hatte 1.000 Wohneinheiten und Büros auf 17 Geschossen. Im Laufe der Jahre hatte es verschiedene Verwendungszwecke und Eigentümer, u.a. als Ramada Hotel. Ab 2003-2004 gab es Beschwerden wegen Schimmelbefall, rostigem Wasser, Ratten, und seit Hurrikan Katrina war das Hotel geschlossen und die Eigner meldeten Bankrott an. Jetzt wich der Bau einem milliardenteuren, umstrittenen University Medical Center, das hier entstehen soll.
Bürgermeister Mitch Landrieu hat sich das Spektakel heute angesehen und meinte: “Ein altes Gebäude für etwas Neues abzureißen, das ist ein Symbol für den Wiederaufbau der Stadt.” (Zur Geschichte hier.)
Nicht alle sehen das so, denn dem Neubau fallen auch private, meist historische Holzhäuser in dem Viertel zum Opfer, und das traditionsreiche Charity Hospital wird deshalb, trotz Protesten, nicht wiedereröffnet. Charity Hospital wurde 1736 gegründet (zum Vergleich: die Berliner Charité 1710); der aktuelle Art-Déco-Bau ist von 1939 und soll wohl als Denkmal erhalten werden. Charity war eine Universitätsklinik und eines der Krankenhäuser, wo man erst einmal behandelt wurde und dann irgendwann oder nie bezahlen konnte (ich war 1990 mit einem entzündeten Fuß dort). Während Katrina war es teilweise überschwemmt worden und die Patienten wurden heldenhaft evakuiert.
Dieser Neubau ist Teil der großen Umstrukturierung, die New Orleans seit 2005 erlebt. Wessen großer Plan genau das ist, kann ich nicht sagen, aber ich finde, dass man die paar Steine, die Katrina aufeinander ließ, nicht auch noch unbedingt wegreißen muss, dass man auf ein Trauma nicht noch mehr Trauma draufsetzen muss.
Sicher, das heute abgerissene Gebäude war nichts fürs Auge, keines, vor dem nachfolgende Generationen voller Ehrfurcht stehengeblieben wären und auch mir wird es bei meinem nächsten Besuch sicher nicht fehlen. Aber es geht ums Prinzip. Und so faszinierend die Bilder von dem Einsturz auch sind, mich erinnern sie auch ein bisschen an das World Trade Center. (Fotos und ein kurzer Film.)

Montag, 16. Juli 2012

Moira Crone über New Orleans

MOIRA CRONE, die Autorin von THE NOT YET hat meinen Fragebogen zu New Orleans beantwortet. Hier ihre nachdenklichen und zum Nachdenken anregenden Antworten. Ich habe sie übersetzt und am Ende ein Glossar für Begriffserklärungen hinzugefügt.

New Orleans ist--- hell und dunkel, sowohl als auch.

Lieblingsort in New Orleans: Der Musikklub Spotted Cat. Mein eigenes Haus und Grundstück. Die Frenchman Street und das Faubourg Marigny am Fastnachtsdienstag.

Lieblingsgebäude: Zu viele.

Lieblingsessen: Austern, in jeglicher Zubereitungsform. Auch Butterkrabben, paniert und frittiert oder gedünstet.

Lieblingsmusiker: Panorama Brass Band, Rebirth Brass Band, Ingrid Lucia hat eine sehr schöne Stimme, die New Orleans Jazz Vipers, usw.

Lieblingstext:  Das Buch Degas in New Orleans; Das Erwachen mag ich auch sehr. Rising Tide ist auch hervorragend.

Lieblingsfilm:  Die HBO-Serie, Treme, und Benjamin Buttons.

Lieblingswort oder -ausdruck: Second line.

Passendster Spitzname für New Orleans: Ich kenne keinen.  “THE BIG EASY” und “THE CITY THAT CARE FORGOT” treffen es irgendwie nicht.  Dazu gehört viel mehr. 
Es sind Sätze, die von Leuten geprägt werden, die nicht in der Stadt leben, die es von außen betrachten (als eine Stadt, wo sie sich betrinken können, spielen, sich nicht an das Ungleichgewicht von Arbeit/Freizeit halten müssen, wie in den restlichen USA.)  Für Amerikaner von anderswo ist New Orleans eine Stadt, wo sie sich gehen lassen können.

Lieblingspersönlichkeit/figur aus New Orleans:  Ich hätte Uncle Lionel Batiste gesagt, aber der ist gerade gestorben.
Ich mag Kermit Ruffins sehr.  Er ist immer gut gelaunt und locker und hat eine fantastische Band. 
Dave Brinks ist ein ganz erstaunlicher Mensch:  Dichter, Urheber der Dichterszene (Die Serie 17 Poets im Goldmine Saloon), Impresario, Verleger, Historiker und Unterstützer der Künste und Künstler von überall her. Ihm gehört eine Bar im French Quarter, die das Herz des Dichterlebens in der Stadt ist.  Er ist das, was man einen großzügigen Mann nennt, einzigartig, ein New-Orleans-Original. 

Lieblings, hier nicht erwähnte -sache in New Orleans:  Die wenigen Male, die es geschneit hat (zwei Mal, im Dezember) ---der Schnee auf den Ingwerpflanzen und Palmen war völlig surreal. Sazerac-Cocktails in der Carousel Bar an einem kalten Dezembertag.

Wer sollte der Bürgermeister von New Orleans sein?  Landrieu ist gut, aber er hat die Polizeikultur nicht im Griff.  Sonst weiß ich niemanden.

Wie kann die Stadt ihre Mordrate senken?  Ein Anfang: Gut bezahlte Polizisten, die gezwungen sind auf der Straße und sichtbar zu sein, wie in den Neunzigern, als die Kriminalitätsrate stark gesunken war. Den Polizisten war es zu beschwerlich, die ganze Zeit auf der Straße zu sein, wie das in der Zeit von Bürgermeister Morial in den Neunzigern war. Sein Polizeipräsident war Pennington.  Er war aus Washington D.C., und hatte eine “Null-Toleranz”-Linie wie damals in New York. Die Kriminalität ist gesunken.  Jetzt haben wir wieder die Politik der Ära vor Morial. 
So wie es jetzt ist, verdienen die Polizisten in einer Ära mit hoher Kriminalität sogar mehr, weil sie mehr “details” haben, also private Verdienstmöglichkeiten als Sicherheitsbeamte nebenbei. Das ist für Polizeibeamte eine Haupteinnahmequelle.  Dieses System ist so eingefahren, dass Landrieu es scheinbar nicht durchbrechen kann – oder, da er seitens der Polizei viel Unterstützung erfährt, keine Motivation hat zu durchbrechen. Wegen der Korruption hat das Justizministerium die Polizeibehörde übernommen und besteht darauf, dass diese “details” aufhören – die Polizisten vergeben diese zusätzlichen Aufträge innerhalb ihrer Abteilungen und erweisen einander Gefallen usw. mit solchen „Boni“. Korruption, Bestechung und Nachlässigkeit sind das Ergebnis. 
Außerdem brauchen wir mehr Mentoren und Hilfe für junge Männer, damit sie nicht zu Drogendealern werden. Immer mehr Schulen und Ausbildungsprogramme, um jungen Männern andere Möglichkeiten zu eröffnen. Drogen sollten auch legalisiert werden, so dass das Dealen nicht mehr lukrativ ist.
In den letzten zwei Jahren war ich drei Mal Geschworene. In zwei Fällen waren es Verbrechen im Zusammenhang mit Drogen, und einmal ein Mord unter sehr jungen Männern. Der Mörder hatte den Drogendealer hauptsächlich aus Übermut und Angst angegriffen. Keiner der Geschworenen, egal von welcher sozialen Klasse oder Rasse, war der Meinung, dass die Drogengesetze so bleiben sollten, wie sie sind. Zu viele Gefängnisstrafen, zu viele Verhaftungen für Bagatellverbrechen, zu viele Anreize, Drogen zu verkaufen und Teil dieser Subkultur zu werden. 

Warum ich in New Orleans lebe: Vor allem lebe ich in New Orleans, weil die Leute hier von Natur aus kreativ sind.  Egal, wen man trifft, alle betreiben irgendeine Kunst. Der Baufirmenbesitzer hat eine Band, der Augenarzt ist ein guter Fotograf, die reiche Dame ist Freiluftmalerin, der Bezirksstaatsanwalt ist Jazzmusiker, der Barkeeper schreibt Krimis, der Kneipenbesitzer ist Dichter, der junge Mann, der im Supermarkt arbeitet, ist Rapper. Kreativ zu sein ist hier nicht mit Stigma behaftet, eine „Kunst“ zu betreiben oder eine „re“kreative Beschäftigung, wie Mitglied in einer Karnevalskrewe zu sein, sich zu maskieren, in Karnevalsumzügen mitzulaufen. Man wird hier dazu animiert, bei Festlichkeiten völlig seine Persönlichkeit abzulegen. Allgemein sind ja die Südstaaten sehr protestantisch geprägt, ich meine hier den Bible Belt (Bibelgürtel): sehr sittsam. Ich bin im Mittleren Süden aufgewachsen und dort assoziierte man das Künstlerdasein mit emotionaler Instabilität, usw., als verrückt, unnormal. Vielleicht ändert sich das gerade, aber in New Orleans gab es diese Ansicht noch nie. Man kann auch Amateur sein, das ist kein Problem.  Mehr als eine Kunst zu betreiben, ist auch gut.
In New Orleans gibt es auch ein sehr tiefes afrikanisches Akzeptieren des Todes und man besteht darauf, dass Leben zu feiern, was ja das Thema des Second-Line-Tanzens nach den Beerdigungen ist. Dieses Verständnis, dass jeder Moment einen neuen Tanz braucht und das Annehmen und Bestehen auf Freude und etwas Neuem – Improvisation – im Angesicht des Verfalls und des Todes, das ist die Grundidee in New Orleans. 

Was ich an New Orleans am wenigsten mag: Dieses Gefühl der Ausweglosigkeit von manchen, die in Armut leben, die tief verankerte Verzweiflung, die manche Menschen empfinden. Die Gewalt, die das mit sich bringt. Die Afroamerikaner sind zutiefst traumatisierte Menschen, die manchmal keine Hoffnung haben. Sie können in einen absoluten Nihilismus verfallen, wegen der Vergangenheit: das kann natürlich jeden betreffen, aus jeder Bevölkerungsgruppe, aber unter den Schwarzen in New Orleans ist das sehr latent. Die Sklaverei war ein furchtbarer Anschlag gegen das Menschsein und überall finden sich noch die Narben. Die Auswirkungen der starken Traumatisierung einer ganzen Bevölkerung, die über Generationen vererbt wird, bringt viele soziale Probleme mit sich – denn das Familiengedächtnis, die Narben der eigenen Eltern und Großeltern, die extrem entwürdigende und absolut grausame Behandlung in der Vergangenheit, darüber wurde noch nie gesprochen, das wurde nicht aufgedeckt und nicht verarbeitet. Wut und Paranoia überkommen Schwarze manchmal in Situationen, die Weiße gar nicht wahrnehmen, weil sie nicht auf diese Weise verletzt sind. Das führt zu vielen Missverständnissen.
Die Weißen müssen das sehen, nicht einfach nur behaupten, dass Schwarze grundlos labil oder ängstlich oder gewalttätig sind, und die Schwarzen müssen die Wurzeln für den Zorn, den Selbsthass und die Angst besser verstehen, die manchmal ihre Sicht auf die Welt prägen. Durch die Gewalt bleiben diese anderen Traumata immer weiter bestehen—auch das muss aufhören.
Was mir an New Orleans auch nicht gefällt, ist die Einstellung der Touristen und wie sie sie zeigen – dass die Stadt nur zu ihrem Vergnügen da ist, dass sie ein Witz ist, ein alberne Stadt, nicht ernsthaft, eine Stadt zum Trinken und Pissen.

Was die meisten nicht über New Orleans wissen: Gegenüber den restlichen USA ist es oft nicht rückschrittlich – wie alle immer sagen – sondern einen Schritt voraus. Damit meine ich, dass Dinge, die im Rest des Landes kulturell und politisch geschehen, in New Orleans und Louisiana zuerst geschehen, nicht zuletzt. Das betrifft natürlich die Musik – Jazz – aber auch in der Politik und beim Essen. Es gibt in New Orleans eine progressive Strömung, die ganz und gar nicht typisch für die Südstaaten ist.
Zum Beispiel, die Bemühungen, die Rassentrennung (die Jim-Crow-Gesetze) aufzuheben, der erste zivile Ungehorsam in diesem langen Kampf, fand in New Orleans statt und führte zu dem Urteil Plessy vs. Ferguson, „separate but equal“ (getrennt aber gleichwertig), das natürlich die Bürgerrechte um Generationen zurückgeworfen hat. Aber es war der erste Versuch, das erste Mal, dass die Rassentrennung in einem vorsätzlichen, geplanten Akt des Widerstands in Frage gestellt wurde – um ein Urteil zu einem Gesetz herauszufordern. Das passierte in New Orleans.
Vieles, was später uramerikanisch wurde, Dinge, die die Sicht der USA auf sich selbst geändert haben, gab es zuerst in New Orleans.

Meine New Orleans-Expertise: Ich bin 1995 nach New Orleans gezogen und lebe seit 17 Jahren dort. In Louisiana lebe sich seit 1981 und von 1983 bis 2009 habe ich an der Louisiana State University Kreatives Schreiben unterrichtet.

Glossar:
Faubourg Marigny: Französisch für Marigny-Vorstadt, ein Stadtteil gleich neben dem French Quarter. Spotted Cat und Frenchmen Street sind im Faubourg Marigny (the Marigny).

Degas in New Orleans: von Rosary Hartel O’Neill

Das Erwachen: The Awakening von Kate Chopin, siehe meine Rezension.

Rising Tide: The Great Mississippi Flood of 1927 and How it changed America von John Barry

Treme: Serie von David Simon und Eric Overmyer, deren dritte Saison ab 23. September ausgestrahlt wird. Ab August soll die Serie auf Deutsch bei Sky Atlantic HD gezeigt werden.

Benjamin Buttons: Film nach einer Kurzgeschichte von Francis Scott Fitzgerald mit Brad Pitt und Cate Blanchett (2008).

Second line: eigentlich „zweite Reihe“ ist das Marschieren und Tanzen hinter einer Marching Band, die zum Beispiel bei einer Jazzbeerdigung aufspielt. Typisch und nur in New Orleans.

Carousel Bar: im historischen Hotel Monteleone im French Quarter

Sonntag, 15. Juli 2012

Moira Crone on New Orleans


MOIRA CRONE, Author of THE NOT YET has answered my New Orleans Questionnaire. Read her thoughtful and thought-provoking answers here:

New Orleans is--- light and dark, both.

Favorite place in New Orleans: Spotted Cat Music Club. My own house and backyard. Frenchman Street and Faubourg Marigny on Mardi Gras Day.

Favorite building: Too many to choose.

Favorite New Orleans food: oysters, all preparations. Also, soft shell crab, fried or sautéed.

Favorite New Orleans musician/s: Panorama Brass Band, Rebirth Brass Band, Ingrid Lucia has a very beautiful voice, the New Orleans Jazz Vipers, etc.

Favorite piece of writing on New Orleans:  The book, Degas in New Orleans, also love The Awakening.   Rising Tide is brilliant, as well.

Favorite New Orleans movie:  The HBO Series, Treme, and Benjamin Buttons.

Favorite New Orleans word or expression: Second line.

Most apt New Orleans nickname: I don’t know of any.  “THE BIG EASY” and “THE CITY THAT CARE FORGOT” seem to miss the point.  There is much more to it. 
Those are phrases from people who don’t live in the city, who see it from the outside (as a place where they can get drunk, play, not adhere to the imbalanced work/play ratio the rest of America has.)  Americans from other places view New Orleans as a place to be a slob.

Favorite New Orleans personality/character:  I would have said Uncle Lionel Batiste, but he has just died.
I love Kermit Ruffins.  He is always cheerful and casual and has a fantastic band. 
Dave Brinks is a very amazing human being:  poet, poetry-scene creator (The Goldmine Saloon 17 Poets Series) impresario, publisher, historian, and supporter of the arts and artists from all over.   He owns a bar in the French Quarter, which is the heart of the city’s poetry life.  He is the definition of a generous man, sui generis, New Orleans original. 

Favorite New Orleans thing not mentioned here:  The few times it has snowed (twice, in December) ---the snow on the ginger plants and palm trees is completely surreal.  Sazeracs at the Carousel Bar on a cold day in December.

Who should be the mayor of New Orleans?  Landrieu is good, but he has not got a grip on the police culture.  I don’t know who else.

How can the city lower its murder rate?  A start: Police that are well paid, and forced to be on the street and visible, as they were in the 90’s, when the crime rate fell profoundly. The police did not like the rigors of being on the streets all the time during Morial’s terms in the 1990’s.  His police chief was Pennington.  He was from Washington D.C., and had “zero tolerance” policies such as those in NYC at the time.  Crime went down.  Now we have reverted to policies of the pre-Morial era. 
The way it is now, the police actually make more money during high crime eras, because they have more “details,” which are private opportunities to work as security guards off hours. This is a primary income stream for police, again.  This practice is so ingrained, that Landrieu cannot seem to break it—or, since he has support in the police community, he has no motivation to break it. The Department of Justice has taken over the police department because of their corruption, and they insist that these “details,” be stopped— police themselves assign this extra work within their departments, and give favors, etc. to each other with these “bonuses.”  Corruption, bribery, and laxity are the results. 
Also, there is a need for more mentors and help for young men so they don’t get into drug dealing.  More and more schools and training programs to give young men more options.  Drugs should be made legal, also. The profit in drug dealing has to be taken out.
I have sat on three juries in the last two years.  Drug related crimes in two cases, and one murder trial among very young men. The killer attacked a drug dealer mostly out of bravado and fear. No one on these juries, from any social class, or race, believed drugs laws should remain as they are today.  Too much incarceration, too many arrests for minor crimes, too many incentives in the system to sell drugs and become part of that sub culture.

Why I live in New Orleans:  I live in New Orleans because people there are naturally creative.  Everyone you meet, practically, has an art that they do.  The contractor has a band, the eye doctor is a fine art photographer, the rich matron is a plein-air painter, the district attorney is a jazz musician, the bartender writes mysteries, the saloon owner is a poet, the boy stocking the groceries is a rapper. There is no stigma around being creative, around having an “art,” or a “re”creative activity, such as being in a Krewe, masking, being in parades, etc.  People are encouraged to completely discard their personas for festivals. The South in general in America is very Protestant, I mean the Bible Belt: straight-laced.  I grew up on the Middle South, and being an artist was associated with being un-balanced, etc. crazy, deviant. This may be changing but there was never such a view in New Orleans. You can be an amateur, no problem with that, either.  Having more than one art is also encouraged.
There is also, in New Orleans, a deeply African acceptance of the fact of death, and the insistence that we celebrate life, which is the theme of the second line dance after funerals.  This understanding that every moment requires a new dance, and the embrace of, and insistence on, joy and something new---improvisation--- in the face of decay and death, are the basics in New Orleans. 

The thing I like least about New Orleans:  The no-way-out feeling among some in poverty, the thoroughly ingrained despair some people feel.  The violence associated with this. The African American population is an extremely traumatized group of people who sometimes do not have hope.  They can descend into a place of absolute nihilism because of past history:  this is true of anyone, of any group, of course, but there is a large undercurrent of this in the black community in New Orleans.   Slavery was a horrible assault on human nature and its scars are still everywhere. The effects of serious trauma on a whole group, passed down through generations, involve many social problems ---because the family memory, the scars of your own parents and grandparents, the extremely degrading and profoundly cruel treatment in the past, are things that have not been addressed, not really exposed, and worked through.  Anger and paranoia flare up among black people in situations that white people don’t even perceive, because they are not scarred in the same way.  There is a lot of misunderstanding about this.
White people need to see it, not just claim that black people are unstable or fearful or violent for no reason, and black people need to understand, more, the roots of the anger, self-hatred, and fear that are part of their worldview at times.  The violence of course perpetuates all these other traumas---it also must stop.
Another thing I don’t like about New Orleans is the attitude tourists have about it and the way they exhibit that attitude—that the city is just there for their amusement, that it is some kind of big joke of a place, a silly place, not serious, a place to drink and piss.

What people don’t know about New Orleans: It is often, vis-à-vis the rest of America, not backward---as everyone always says---but a step ahead.  I mean by this, sometimes things that happen in the rest of the nation, culturally, and politically, happen in New Orleans and Louisiana first, not last.  Of course this is true in music---jazz--- but it is also true in politics, and in food ways.  There is a progressive streak in New Orleans that is definitely not Southern.
For example, the whole attempt to outlaw Jim Crow, the first civil disobedience in that long fight, took place in New Orleans, and resulted in the Plessy vs. Ferguson decision, which of course set back Civil Rights for generations.  But that was the first attempt, the first time segregation was challenged in a deliberate act of planned defiance---to force a decision on a law.  This happened in New Orleans.
Many things that eventually become quintessentially American, things that changed America’s view of itself, were New Orleanian first.

My expertise on New Orleans:  I moved to New Orleans in 1995.  I have lived there 17 years.  I have lived in Louisiana since 1981, and I taught creative writing at LSU from 1983 until 2009.

Samstag, 14. Juli 2012

Nicht verpassen!

& Heute ist der französische Nationalfeiertag, Bastille Day, der natürlich auch im French Quarter in New Orleans (wo sonst?) gefeiert wird und sicher auch in Berlin und anderswo.
& Bereits verpasst habe ich ein Konzert mit dem legendären Dr. John, einem Pianisten aus New Orleans, am Donnerstag im Berliner Astra-Kulturhaus. In der heutigen taz ist eine Kritik.
& Diesen Sonntag um 0.19 Uhr (also eigentlich schon Montag) läuft auf Tele 5 der Film The Big Easy - Der große Leichtsinn von 1986, mit Dennis Quaid und Ellen Barkin. Ich habe ihn hier kürzlich erwähnt. Sehr empfehlenswert!

Freitag, 13. Juli 2012

El encierro de Nueva Orleans

Die baskische Stadt Pamplona macht in diesen Tagen wieder Schlagzeilen wegen ihrer jährlichen Feierlichkeiten zum Sanfermines, dem Fest des Heiligen Firmin. Schlagzeilen vor allem wegen der zahlreichen Verletzungen, die es jedes Jahr bei den Encierros, den Stierläufen, gibt. Acht Tage lang werden jeden Morgen um 8 Uhr sechs Kampfstiere und mehrere zahme Ochsen durch die engen Straßen in die Stierkampfarena getrieben, begleitet von Tausenden Einheimischen und vielen vielen Touristen, die neben her rennen. Das Ganze dauert nur ungefähr drei Minuten, doch allein dieses Jahr sind bis jetzt schon 500 Menschen wegen Quetschungen, Verrenkungen und Kopfverletzungen behandelt worden. Abends findet dann der Stierkampf statt, bei dem die Stiere natürlich ihr Leben lassen. 
Morgen ist der letzte Lauf für dieses Jahr. Seit dem Jahr 1900 sind 15 Menschen dabei ums Leben gekommen, zuletzt 2009; ein Amerikaner ist seit seiner Teilnahme querschnittsgelähmt. Ernest Hemingway hat wohl in seinem Buch Fiesta über Pamplona und den Stierlauf geschrieben, sicher das einzige Hemingway-Buch, dass ich in meiner Jugend nicht gelesen habe. Mich kriegen nämlich keine zehn Ochsen zu so was. (Informationen und Fotos hier).
Dann schon eher nach New Orleans, wo seit 2007 jährlich das Running of the Bulls stattfindet. Und zwar morgen, Sonnabend, 8 Uhr im French Quarter, gleich nach der Prozession für den Heiligen Firmin. In New Orleans rennen allerdings keine Stiere, sondern hübsche junge Frauen auf Rollerskates, von dem Verein Big Easy Rollergirls, die auch in Wettbewerben laufen. Die teilnehmenden Läufer müssen, wie in Pamplona, ein weißes Hemd und Hose und um den Hals und an der Taille ein rotes Tuch tragen. 2007 wurden 200 Läufer von 14 RollerBulls durch die Straßen gejagt, letztes Jahr waren es 14.000 Läufer und 350 Rollschuhstiere. Danach wird natürlich gefeiert und ein Preis für die beste Latin Band verliehen, dieses Mal an die Vivaz Band, hier mit Musik. (Allgemeine Infos hier.) 
Nur in New Orleans, kann ich da nur sagen, und: Olé!

The Not Yet von Moira Crone: Auszüge

Hier einige Auszüge, in meiner Übersetzung:

1
Nach ungefähr einer Meile kamen wir an ein bewohntes Haus, dann ein zweites, dann fünf hinter einander. Eigentlich waren es nur die obersten Etagen von alten Zwei- und Dreigeschossern...  Verrottete, fächerförmige Dachfenster von hohen viktorianischen Häuser und die Buckel der Camelbackhäuser waren zu sehen. Die Bewohner waren wohl aus den überfluteten, unteren Geschossen ausgezogen und hatten sie irgendwie abgedichtet. Jetzt bewohnten sie die oberen Zimmer, hatten die Dachböden zu Wohnzimmern umfunktioniert und die oberen Balkone zu Eingangsveranden.  Mit den Geländern und Toren drum herum, die als Liegewiese, Dock und Sicherheitszone dienten, hätte man die verfallenen Häuser für Hausboote halten können. Am Torpfosten des einen hing ein Schild: „Mach Flutwellen, dann machst du nie wieder Wellen.“ Und das Totenkopfzeichen.
Als ich das letzte Mal hier entlang gekommen war, hatten diese Häuser noch auf schlammigen Landfetzen gestanden und dem Meer standgehalten. Jetzt waren sie ihm zum Opfer gefallen. Doch die Bewohner hatten nicht das Weite gesucht. In gewisser Weise war ihre Existenz illegal - verfolgt wurden sie hier nicht, aber helfen tat man ihnen auch nicht.

2
Die Pflasterstraße, die ich gesehen hatte, war gar keine Straße, und ein Ufer war es eigentlich auch nicht, sondern die breite Oberkante einer riesigen, runden Einfassung. Wir hatten am oberen Rand eines Amphitheaters angelegt, einer Glasschüssel, der unregelmäßigen äußeren Begrenzung, die den Alten Fluss abhielt.
Unter uns, ein Wunder.
Zunächst sah ich die bronzenen Dächer mit den steilen Gauben. Daneben Palmenkronen, die ich noch nie von oben gesehen hatte - üppige, grüne Blüten. Darunter Gebäude mit bunten Fensterläden. Die alte Kathedrale, ein historischer Bau, in der Mitte. Ihre Turmspitze durchbohrte den Himmel und ragte als einzige über den Kai hinaus. Das Tageslicht spiegelte sich darin. Alles andere in diesem ins Wasser eingelassenen Tal war in eine nahezu grelle, elektrifizierte Nacht versunken und schimmerte, denn es war mit einer Glasur überzogen. Die Stadt selbst wirkte wie aus Porzellan, als bewahrte man sie einem Riesen zuliebe in einer Vitrine auf. Irgendwie war mir, als verstieß ich gegen irgendein Gesetz: einfach hierher kommen und das Quarter besichtigen, über das man in meiner Kindheit nur im Flüsterton gesprochen hatte.

3
Durch das Glas hatte ich eine gute Sicht auf Re-New Orleans. Es war frisch und pastellfarben und mit Türmchen und Veranden und Pergolas - makellos, sauber, glänzend und modern. Die Häuser standen dicht beieinander und dahinter erkannte man kleine ummauerte Gärten.

4
Es war fast Sonnenuntergang. Der Kanal stank und die von den Dächern bellenden Hunde fanden sich im Chor zusammen: Wenn einer zu heulen anfing, kläfften die anderen als Antwort. Der Lärm der Generatoren mischte sich mit Stimmen und Gelächter. Einige der Besetzer saßen auf ihren Decks und Terrassen. Die Wohnungen sahen improvisiert und provisorisch aus. Wenn man hier wohnt, dachte ich mir, muss man zu jeder Jahreszeit die Bedingungen neu bewerten und mit den Nachbarn andere Möglichkeiten besprechen – Hausboote, trockenes Land nördlich der Enklave. Ich sah ein paar Frauen in der Dunkelheit rauchen, roch gegrilltes Fleisch. Eine der Frauen rief zu mir herüber: „Hey, mach aus,“ sie meinte meinen Motor. „Siehst du nicht, dass wir hier wohnen?“ Dann: „Was willst du denn, Junge? Was guckst du so?“
Es war, als wäre in den letzten einhundertfünfundzwanzig Jahren nichts geschehen – ich kannte ja die Geschichte, jetzt, wo ich kein kleiner Junge mehr war – ich wusste, wie das alles vor langer Zeit ausgesehen hatte, in dunklen Zeiten, der Vor-Enthüllung. Ein paar Kinder winkten mir zu, begeistert von dem Boot und weil sie wohl dachten, es machte mir Spaß, ein verwittertes Schiff durch die Kanäle und Sümpfe und die überschwemmten Häuser zu lenken, dem einzigen, was von einer großartigen Stadt übrig geblieben war. Sie dachten wohl, es wäre ein Abenteuer – ich kenne das. Aber ich hatte genug von Abenteuern. Irgendwie hatte es aber auch etwas Glitzerndes, Niedliches, dieses Viertel und wie seine Einwohner daran hingen. Als ich klein war, hatte ich das nicht gesehen, und auch nicht, als ich vor ein paar Tagen mit Serpenthead hier entlang gekommen war. Aber jetzt fühlte ich, wie das Leben damals war, als alle noch auf demselben wässrigen, unsicheren Boden standen, als alle wussten, dass sich von einem Moment auf den anderen alles ändern konnte, dass alles angreifbar war, und nicht etwa manches völlig angreifbar und manches überhaupt nicht angreifbar. ... In den Augen der Behörden war es ein Ort am Rand, wo man die Vergangenheit verwerfen, vergessen, ignorieren und gelegentlich für einen exotischen Kick aufsuchen konnte. Eine Stadt, die das Glück hatte, oder verdammt dazu war, nicht bedeutend zu sein.


Mit freundlicher Genehmigung der Autorin

Dienstag, 10. Juli 2012

Moira Crone: The Not Yet

Vor allem seit Hurrikan Katrina gibt es eine wahre Flut an Erinnerungsberichten, Essays und literarischen Verarbeitungen (so Tom Piazza: Why New Orleans Matters als eines der ersten, dann kam Chris Rose: 1 Dead in Attic, auch Dave Eggers’ Zeitoun, das ich hier schon besprochen habe). Schon immer gab es auch neue historische Bücher über New Orleans, selten aber ein Blick in die Zukunft. Mir fällt da eigentlich nur ein Satz von Ex-Bürgermeister Ray Nagin ein, der 2006 meinte: „This city will be chocolate at the end of the day“ (Letztendlich wird unsere Stadt aus Schokolade sein), eine Aussage, die nun wirklich nichts Neues erzählt und ihm von seinen vielen weißen Wählern einigen Ärger einbrachte.
Die New Orleanser Schriftstellerin Moira Crone hat in ihrem Roman The Not Yet eine Zukunftsvision vorgelegt, die zeigt, wie es auch kommen könnte, eine ernüchternde Dystopie, in der sie auch ihr Katrina-Trauma verarbeitet:
Es ist die Zeit zwischen dem Jahr 2111 und 2121. Wo New Orleans einmal war, liegt ein riesiges Meer, in dem die Stadt in Teilen erhalten ist. Die Menschen leben nur noch in den oberen Stockwerken ihrer Häuser, und es ist liebenswert-bemitleidenswürdig, wie sie daran festhalten. So sind sie, die New Orleanser, und dabei ist ihre Stadt doch schon lange nicht mehr so wie vorher.
Erzählt wird aus der Sicht der jugendlichen Hauptfigur, dem Findelkind Malcolm, ganz von der Warte seiner Zeit aus und das ist für uns heutige Leser auf den ersten fünfzig Seiten recht verwirrend. Das 22. Jahrhundert in New Orleans ist nämlich eine bizarre Welt, die sich nicht nur physisch, als Umwelt verändert hat, sondern – und das ist fast noch entscheidender – auch politisch, und das hängt mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt zusammen. Die United States of America (USA) sind durch eine United Authority ersetzt worden, die alles kontrolliert, auch das biologische Über/Leben und letztlich alle Aspekte des Lebens.
Überlebens-/lebensverlängernde Technologien haben sich durchgesetzt und eine Art biologische Elite geschaffen – die Heirs (Erben). Das ist eine Kaste von Menschen, die sozusagen das ewige Leben für sich entdeckt haben, was bedeutet, dass sie sich eine äußere Schutzhülle zulegen müssen, die sich mit der Mode wandelt und regelmäßig erneuert werden muss - ich hatte dabei Außerirdische aus Science-Fiction-Filmen vor Augen. Diese Schutzhülle brauchen sie zum Schutz vor UV-Strahlen und anderen schädlichen Dingen; essen können sie auch nicht ordentlich, sondern sich nur mit künstlicher Nahrung, Brosia, ernähren, die sich im Mund gleich auflöst. Natürlich muss auch die Fortpflanzung reguliert werden, damit es keine Überbevölkerung gibt. Kein Nicht-Heir darf sie berühren. Dann gibt es da noch die Anderen, die Nats (von natural), Altereds (Veränderte), Yeareds (Bejahrte) und die Not Yets (Not Yet treated – noch nicht behandelt).
Malcolm ist ein Not Yet und trägt als Zeichen dafür einen besonderen Halsreifen. Von Kind an arbeitet er als Schauspieler, um in seinem Trust (Fonds) genügend Geld für die teure Umwandlung zum Heir anzusparen. Doch er erfährt, dass sein Trust leer ist und begibt sich auf eine abenteuerliche Heimreise, bei der er angeschossen und verhaftet wird. Der Roman wird in vielen Rückblenden erzählt und in einer solchen wird Malcolm für seine Umwandlung in einer Art Sanatorium „programmiert“ und schockartig gebildet und erzogen. Aber dort erlebt er auch zum ersten Mal eine magische Anziehung und das Verliebtsein zu Camille, die aus der Welt da draußen kommt, aus einer Enklave, und ganz natürlich und impulsiv ist, sich den Gesetzen der Heirs zu verweigern versucht, ein bisschen die schöne Wilde.
Ihre Rivalin-Feindin, die Wissenschaftlerin Lydia Greenmore, die für Malcolms Ausbildung verantwortlich ist, entlässt Camille, doch Malcolm wird ihr später wieder begegnen. Dr. Greenmore erforscht die Verfallserscheinungen bei den Heirs und nimmt Malcolm dafür als Vertrauten und Assistenten bei sich auf. Zwischen den beiden entwickelt sich eine innige Beziehung, die sich später auf wunderliche Weise erklärt. Kurzzeitig interessiert sich Dr. Greenmore auch für alte spirituelle Praktiken und Religion, doch Malcolm, der immer konform ist, bringt sie wieder auf den rechten Weg.
Malcolm wird Zeuge einer Inszenierung, die die Heirs in Verzücken versetzt: dem Tod einer Frau auf großer Bühne. Erst später wird ihm klar, dass sie alle dem tatsächlichen Sterben der Tochter eines der Mitarbeiter des Findelhauses beigewohnt haben, da die Familie das Geld brauchte. Und so versteht auch Malcolm langsam, wie die Gesellschaft wirklich funktioniert.
Immer wieder taucht Ariel auf, der sein großer Bruder sein will, da sie zusammen gefunden wurden. Anders als Malcolm stellt Ariel die Regeln in Frage und rebelliert dagegen. Selbst ihr Ziehvater Lazarus stellt sich schließlich gegen die Konventionen, doch Malcolm arbeitet weiter zielstrebig auf seine Umwandlung zu. Und doch ist er zwischen Camille und Dr. Greenmore und ihren verschiedenen Welten hin und her gerissen. Am Ende entscheidet er sich für Camille, doch wird er es schaffen, vor dem drohenden, vielleicht letzten Hurrikan zu ihr zu gelangen?
New Orleans existiert nur noch in einzelnen Bestandteilen, wie dem Sunken Quarter (dem versunkenen Viertel), also dem French Quarter, das wie in einem riesigen Goldfischglas erhalten und als touristische Attraktion konserviert ist. Das Findelhaus befindet sich auf der Audubon-Insel, vielleicht einer der kleinen Inseln im heutigen Audubon-Park. Dann gibt es noch die Outer Orleans Islands (Äußere Orleans-Inseln), Museum City (Museumsstadt) und vor allem Re-New Orleans, auch ein schönes Wortspiel mit der Reproduktion und der Wiedererneuerung. 
Um alle Details zu verstehen, müsste ich das Buch wohl noch einmal lesen (oder eben übersetzen, würde ich gern! Gebt Bescheid, wenn Ihr einen geneigten deutschsprachigen Verlag wisst). Nach dem etwas beschwerlichen Anfang wird es richtig spannend, wegen der kleinen Liebe zu Camille (ja, auch ich bin romantisch) und weil der Ausgangspunkt und die Initialzündung glasklar wird, nämlich Hurrikan Katrina.
Denn wie damals steht New Orleans unter Wasser und sinkt weiter. Präsident Bush ist einer der ersten, wenn schon nicht Klone, dann doch Heirs, und Katrina war nur der Anlass für die immer größere Verschärfung der sozialen Unterschiede und Gegensätze, die durch das Eingreifen des Menschen in die Natur eine Bedrohung für die Zukunft und das Überleben der Menschheit darstellt. (Das erinnert mich an ein Thema, das eine meiner Studentinnen kürzlich ansprach, nämlich, dass der verbreitete Einsatz der pränatalen Diagnostik dazu führen würde, dass es immer weniger Finanzierung, weil politischen, weil Wählerwillen, für die Förderung und Inklusion von Behinderten gäbe, denn das Zur-Welt-Bringen von behinderten Babies würde dann gesellschaftlich als persönlicher Eigensinn und Luxus angesehen.)
Schließlich ist das Buch auch eine Überspitzung und damit Kritik am bestehenden Gesundheitssystem der USA, so lese ich es, in dem sich bald nur noch Wenige die nötigen Behandlungen leisten können und damit eine eigene, privilegierte Kaste bilden.
Der Titel The Not Yet bedeutet Das Noch-Nicht, doch bald erfährt der Leser natürlich, dass Malcolm gemeint ist, also Der Noch-Nicht. Aber das Buch beschreibt eben auch eine Welt kurz vor der ganz großen Katastrophe, auch New Orleans, das bei Katrina ja immerhin überlebt hat, hier aber eine Katastrophe, die man vielleicht noch abwenden kann. Es ist eine amerikanische Schreckensvision der Zukunft, aber auch ein fesselnder Bildungsroman - Sozialkritik, Warnung, Nachruf in einem. Es ist Moira Crones Liebenserklärung an New Orleans.
Erschienen ist es bei UNO Press in New Orleans, siehe hier. Von dem Buch inspiriert haben internationale Künstler, u.a. aus Deutschland, Polen, den USA, Brasilien, Großbritannien und Portugal, tolle Grafiken angefertigt, siehe hier.

Freitag, 6. Juli 2012

Essence

Vom 5. bis 8. Juli ist das diesjährige Essence Music Festival, das seit 1995 jährlich (mit Ausnahme von 2006) in New Orleans stattfindet. Es ist ein Festival der afroamerikanischen Musik, das von der Frauenzeitschrift Essence ausgerichtet wird, einer Zeitschrift für schwarze berufstätige Frauen, die ich übrigens auch eine Zeit lang gelesen habe. Die andere schwarze Frauenzeitschrift, Ebony, gibt es bereits seit 1945, Essence erst seit 1970 (entstand also aus der 68er Bewegung) und hat ausdrücklich das Ziel, Frauen zu empowern (also zu bestärken, ermächtigen). Zum Beispiel hatte Essence eine Kampagne gegen frauenfeindliche Texte im Hip Hop.
Beim diesjährigen Festival treten neben der genialen New Orleanser Blaskapelle Rebirth Brass Band, auch die Pointer Sisters, Chaka Khan, Aretha Franklin und viele andere auf. Das vollständige Programm ist hier.
Die Konzerte finden im Superdome-Footballstadium und im Ernest. M. Morial Convention Center statt, und das ruft bei mir wiederum unangenehme Erinnerungen wach. Es waren nämlich dies die beiden Orte, aus denen während der menschgemachten Katastrophe nach Hurrikan Katrina tagelang Bilder um die Welt gingen, von gestrandeten, mittellosen Geflüchteten, meist Schwarzen, die dort wochenlang ohne Hilfe ausharrten.
Als ich 2006 am Convention Center vorbeilief, stand es noch leer, und der Superdome wurde im September 2006 vor 70.000 Zuschauern, Altpräsident Busch, U2 und anderen mit einem Sieg der New Orleans Saints wieder eingeweiht. Vielleicht setzt ja das Essence Music Festival genau das richtige Zeichen an dieser Stelle: mit guter Musik, die längst nicht nur Schwarze gern hören. 

Dienstag, 3. Juli 2012

Meine Radioheimat

Die Namen amerikanischer Radiosender bestehen aus 4 Großbuchstaben, wobei die aller Sender östlich des Mississippi mit W beginnen und die westlich davon mit K. NPR (National Public Radio) ist somit kein Radiosender sondern ein öffentlicher Radiosendungsanbieter und betreibt tatsächlich selbst nur einen Sender, NPR Berlin auf 104.1 FM. NPR in den USA trägt sich zum Teil aus staatlichen Geldern, die immer wieder in Frage gestellt und gekürzt werden; der andere Teil besteht aus Spenden (Mitgliedschaften) der jeweiligen Hörer. So ist das auch bei den unzähligen Sendern im ganzen Land, die NPR-Sendungen ausstrahlen, meistens zu den weniger hörerintensiven Zeiten unterbrochen von (preiswerten) Klassikmusiksendungen, mit mehr Musikanteilen bei den kleineren und weniger bei den größeren Sendern. NPR Berlin wird übrigens nicht von der GEZ unterstützt, sondern wirbt auch zwei Mal im Jahr um Mitgliedschaften.
NPR bietet vor allem politische Nachrichten- und Talksendungen, aber auch Unterhaltungssendungen, die dann wieder jeweils bei einem der Partnersender produziert werden: die spannende Interviewsendung Fresh Air mit Terri Gross von WHYY in Philadelphia, der witzige Car Talk mit den Brüdern Ray und Tom Magliozzi von WBUR in Boston und die wirklich komische Quizsendung Wait Wait Don't Tell Me von WBEZ in Chicago und viele mehr. Dazu kommen dann noch Sendungen anderer unabhängiger Produktionsfirmen wie American Public Media (APM) und Public Radio International (PRI).
Mein Leib- und Magensender ist NPR seit ungefähr 1992 und hat mich auf meinen verschiedenen Stationen und langen Autofahrten durch die USA treu begleitet. (Im Staate Mississippi gibt es allerdings Landstriche, wo das Autoradio kein NPR sondern nur Country- und Predigersender empfängt. Wenn NPR dann wieder hereinkam, fühlte ich mich wie in die Zivilisation zurückgekehrt.) Meine Anhänglichkeit hat einerseits mit den interessanten, informativen Sendungen zu tun und andererseits mit dem besonderen Sound der NPR-Sprecher, bei dem ich mich geborgen fühle. Seit 2006 ist NPR Berlin hier auf Sendung und somit ist auch dieser Teil meiner Welt wieder in Ordnung.
Der NPR-Sender in New Orleans heißt WWNO, was verwirren mag, denn bei einem flüchtigen Blick auf die Karte liegt die Stadt doch westlich des Mississippi? Aber nein, es scheint nur so wegen der verwegenen Windungen des Flusses. (In Baton Rouge heißt der Sender WRKF und der Sender der Universität, der auf der anderen Flussseite steht, heißt KLSU.) Ich war natürlich Mitglied bei WWNO und habe sogar einmal bei einem Membership Drive (einer Mitgliederwerbungskampagne) ein paar Stunden lang Telefonate entgegengenommen und dabei meinen Freund Jeff kennengelernt.
Über NPR erreichen mich gelegentlich Stimmen von alten Freunden hier in der Küche. Einmal berichtete ein Freund für Marketplace aus Indien, mit dem ich vor vielen Jahren getanzt, gepaddelt und im Radio Lyrik gelesen habe. Immer mal wieder höre ich den knarrenden Akzent von Schriftsteller und Radiokolumnist Andrei Codrescu, mit dem ich an meiner Dissertation gearbeitet und auch gefeiert habe. 
Gestern früh erreichte mich auf diese Weise eine einseitige Radiobekanntschaft aus New Orleans: der Musikethnologe Nick Spitzer von WWNO, Moderator und Autor der zweistündigen Sendung American Routes (die übrigens genauso gut American Roots heißten könnte). NPR Berlin hatte American Routes bisher partout nicht ins Programm aufnehmen wollen, aber gestern von 8 bis 9 Uhr hat es geklappt: mit einer Sendung zum 100jährigen Geburtstag von Woodie Guthrie. Anlass für mehrere morgentliche Jauchzer und ein Grund mehr, meine Mitgliedschaft bei NPR Berlin zu erneuern.