Die New Orleanser Schriftstellerin Moira Crone hat in ihrem Roman The Not Yet eine Zukunftsvision vorgelegt, die zeigt, wie es auch kommen könnte, eine
ernüchternde Dystopie, in der sie auch ihr Katrina-Trauma verarbeitet:
Es ist die Zeit zwischen dem Jahr 2111 und 2121. Wo New
Orleans einmal war, liegt ein riesiges Meer, in dem die Stadt in
Teilen erhalten ist. Die Menschen leben nur noch in den oberen Stockwerken
ihrer Häuser, und es ist liebenswert-bemitleidenswürdig, wie sie daran
festhalten. So sind sie, die New Orleanser, und dabei ist ihre Stadt doch schon
lange nicht mehr so wie vorher.
Erzählt wird aus der Sicht der jugendlichen Hauptfigur, dem
Findelkind Malcolm, ganz von der Warte seiner Zeit aus und das ist für uns
heutige Leser auf den ersten fünfzig Seiten recht verwirrend. Das 22. Jahrhundert
in New Orleans ist nämlich eine bizarre Welt, die sich nicht nur physisch, als Umwelt verändert hat, sondern – und das ist fast noch entscheidender –
auch politisch, und das hängt mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt
zusammen. Die United States of America (USA) sind durch eine United Authority
ersetzt worden, die alles kontrolliert, auch das biologische Über/Leben und
letztlich alle Aspekte des Lebens.
Überlebens-/lebensverlängernde Technologien haben sich
durchgesetzt und eine Art biologische Elite geschaffen – die Heirs (Erben). Das ist eine Kaste von Menschen, die
sozusagen das ewige Leben für sich entdeckt haben, was bedeutet, dass sie sich
eine äußere Schutzhülle zulegen müssen, die sich mit der Mode wandelt und
regelmäßig erneuert werden muss - ich hatte dabei Außerirdische aus Science-Fiction-Filmen vor Augen. Diese Schutzhülle brauchen sie
zum Schutz vor UV-Strahlen und anderen schädlichen Dingen; essen können sie auch nicht ordentlich, sondern sich nur mit künstlicher Nahrung, Brosia, ernähren, die sich im Mund gleich auflöst.
Natürlich muss auch die Fortpflanzung reguliert werden, damit es keine
Überbevölkerung gibt. Kein Nicht-Heir darf sie berühren. Dann gibt es da noch die Anderen, die Nats (von natural), Altereds
(Veränderte), Yeareds (Bejahrte)
und die Not Yets (Not Yet treated
– noch nicht behandelt).
Malcolm ist ein Not Yet
und trägt als Zeichen dafür einen besonderen Halsreifen. Von Kind an arbeitet
er als Schauspieler, um in seinem Trust (Fonds) genügend Geld für die teure
Umwandlung zum Heir anzusparen.
Doch er erfährt, dass sein Trust leer ist und begibt sich auf eine
abenteuerliche Heimreise, bei der er angeschossen und verhaftet wird. Der Roman wird in vielen Rückblenden erzählt und in einer solchen wird Malcolm für seine Umwandlung in einer Art Sanatorium „programmiert“ und schockartig
gebildet und erzogen. Aber dort erlebt er auch zum ersten Mal eine magische
Anziehung und das Verliebtsein zu Camille, die aus der Welt da draußen kommt, aus
einer Enklave, und ganz natürlich und impulsiv ist, sich den Gesetzen der Heirs zu verweigern versucht, ein bisschen die schöne
Wilde.
Ihre Rivalin-Feindin, die Wissenschaftlerin Lydia Greenmore,
die für Malcolms Ausbildung verantwortlich ist, entlässt Camille, doch Malcolm
wird ihr später wieder begegnen. Dr. Greenmore erforscht die
Verfallserscheinungen bei den Heirs und
nimmt Malcolm dafür als Vertrauten und Assistenten bei sich auf. Zwischen den
beiden entwickelt sich eine innige Beziehung, die sich später auf
wunderliche Weise erklärt. Kurzzeitig interessiert sich Dr. Greenmore auch für
alte spirituelle Praktiken und Religion, doch Malcolm, der immer konform ist,
bringt sie wieder auf den rechten Weg.
Malcolm wird Zeuge einer Inszenierung, die die Heirs in Verzücken versetzt: dem Tod einer Frau auf großer
Bühne. Erst später wird ihm klar, dass sie alle dem tatsächlichen Sterben der
Tochter eines der Mitarbeiter des Findelhauses beigewohnt haben, da die Familie
das Geld brauchte. Und so versteht auch Malcolm langsam, wie die Gesellschaft wirklich funktioniert.
Immer wieder taucht Ariel auf,
der sein großer Bruder sein will, da sie zusammen gefunden wurden. Anders als Malcolm stellt Ariel die Regeln in Frage und rebelliert dagegen. Selbst ihr Ziehvater Lazarus stellt sich schließlich gegen
die Konventionen, doch Malcolm arbeitet weiter zielstrebig auf seine Umwandlung
zu. Und doch ist er zwischen Camille und Dr. Greenmore und ihren verschiedenen
Welten hin und her gerissen. Am Ende entscheidet er sich für Camille, doch wird
er es schaffen, vor dem drohenden, vielleicht letzten Hurrikan zu ihr zu gelangen?
New Orleans existiert nur noch in einzelnen Bestandteilen,
wie dem Sunken Quarter (dem versunkenen Viertel), also dem French Quarter, das
wie in einem riesigen Goldfischglas erhalten und als touristische Attraktion
konserviert ist. Das Findelhaus befindet sich auf der Audubon-Insel, vielleicht einer der kleinen Inseln im heutigen Audubon-Park. Dann gibt es noch die Outer Orleans Islands (Äußere Orleans-Inseln), Museum City (Museumsstadt) und vor allem Re-New Orleans, auch ein schönes Wortspiel mit der Reproduktion und der Wiedererneuerung.
Um alle
Details zu verstehen, müsste ich das Buch wohl noch einmal lesen (oder eben übersetzen, würde ich gern! Gebt Bescheid, wenn
Ihr einen geneigten deutschsprachigen Verlag wisst). Nach dem etwas beschwerlichen
Anfang wird es richtig spannend, wegen der kleinen Liebe zu Camille (ja, auch ich bin
romantisch) und weil der Ausgangspunkt und die Initialzündung glasklar
wird, nämlich Hurrikan Katrina.
Denn wie damals steht New Orleans unter Wasser und sinkt
weiter. Präsident Bush ist einer der ersten, wenn schon nicht Klone, dann doch Heirs, und Katrina war nur der Anlass für die immer
größere Verschärfung der sozialen Unterschiede und Gegensätze, die durch das
Eingreifen des Menschen in die Natur eine Bedrohung für die Zukunft und das
Überleben der Menschheit darstellt. (Das erinnert mich an ein Thema, das eine meiner Studentinnen kürzlich ansprach, nämlich, dass der verbreitete Einsatz der pränatalen
Diagnostik dazu führen würde, dass es immer weniger Finanzierung, weil
politischen, weil Wählerwillen, für die Förderung und Inklusion von Behinderten gäbe, denn das Zur-Welt-Bringen von behinderten Babies würde dann
gesellschaftlich als persönlicher Eigensinn und Luxus angesehen.)
Schließlich ist das Buch auch eine Überspitzung und damit
Kritik am bestehenden Gesundheitssystem der USA, so lese ich es, in dem sich
bald nur noch Wenige die nötigen Behandlungen leisten können und damit eine
eigene, privilegierte Kaste bilden.
Der Titel The Not Yet
bedeutet Das Noch-Nicht, doch
bald erfährt der Leser natürlich, dass Malcolm gemeint ist, also Der
Noch-Nicht. Aber das Buch beschreibt eben
auch eine Welt kurz vor der ganz großen Katastrophe, auch New Orleans, das bei
Katrina ja immerhin überlebt hat, hier aber eine Katastrophe, die man vielleicht noch
abwenden kann. Es ist
eine amerikanische Schreckensvision der Zukunft, aber
auch ein fesselnder Bildungsroman - Sozialkritik, Warnung, Nachruf in
einem. Es ist Moira Crones Liebenserklärung an New Orleans.
Erschienen ist es bei UNO Press in New Orleans, siehe hier. Von dem Buch inspiriert haben internationale Künstler, u.a. aus Deutschland, Polen, den USA, Brasilien, Großbritannien und Portugal, tolle Grafiken angefertigt, siehe hier.
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