Sonntag, 28. Dezember 2014

Louisianas Untergang?


Als Kind habe ich mich immer gewundert, dass Amerika im Wilden Westen liegen sollte – auf meinem Globus lag es ganz weit im Osten, noch hinter der Sowjetunion. Auch das mit der Stiefelform Italiens leuchtete mir lange nicht ein, aber als ich jetzt gelesen habe, dass Louisiana wie ein Stiefel aussehen soll, war mir das gleich ganz klar – eher ein Eskimostiefel als einer von Prada.
Allerdings sieht es jetzt gar nicht mehr so aus. Laut einem Bericht im Business Insider hat der Bundesstaat zwischen 1932 bis 2000 eine Fläche von knapp 5000 Quadratkilometern verloren, fast die gesamte Fläche des Staates Delaware. Jede Stunde versinkt eine Fläche in Größe eines Football-Felds im Wasser, etwa ein halber Hektar, also etwas weniger als ein Fußballplatz, wie ich hier vielleicht irrtümlicherweise mal angegeben habe. Damit erodiert die Küste Louisianas schneller als alle anderen Küsten des Planeten, so der Journalist Bob Marshall.
Die Tat- und Ursachen sind bekannt: die industrielle Nutzung und Begradigung des Mississippi, die Zerstörung der Süßwassermarschen durch Ölexplorationsfahrten, die Ölindustrie generell, das Wetter und der Klimawandel. Getan wird fast nichts.
Das bedeutet: Der Stiefel hat schon lange seine Sohle verloren und ist unten völlig ausgefranst und dort, wo das Vorderteil mit dem Schaft verbunden ist, klafft ein immer breiter werdender Riss (u.a. das Atchafalaya Basin). So würde eine aktuelle, genauere Karte Louisianas aussehen, auf der die nicht betretbaren Flächen als solche verzeichnet sind, aber offiziell gibt es diese Karte nicht, denn dann hätte das eine politische Dimension. Also sinkt Südlouisiana weiter.
Spätestens Hurrikan Katrina und die BP-Ölpest ließen auch die Künstlerin Dawn DeDeaux aus New Orleans an den Untergang denken. Stephen Hawkings Ausspruch, dass wir nur noch 100 Jahre hätten, nicht um die Erde zu retten, sondern um sie verlassen, ist das Motto ihrer Installation MotherShip, die sie für die aktuell laufende Biennale Prospect New Orleans P3+ schuf. Kurioserweise musste eine Veranstaltung am 19. Dezember wegen Dauerregens verlegt werden. Interessant ist auch der Art Shack der Künstlerin, ein Shotgun-Haus, bei dem die Spuren von Katrina bewusst sichtbar sind (Wände, die nur noch aus Holzstreben bestehen, verbranntes Holz usw.). Hier.
Auch politische Geschehnisse könnten Untergangsstimmung heraufbeschwören. Nach drei Legislaturperioden wurde Mary Landrieu, die Tochter des früheren und Schwester des jetzigen Bürgermeisters von New Orleans, als demokratische Senatorin nicht wiedergewählt. Ihren Platz nimmt jetzt einer von diesen grauhaarigen, geschniegelten Republikanern mit viereckigem Kopf und vielen Kindern ein, der natürlich von der National Rifle Association, der Waffenlobby, unterstützt wird. In diesem Fall heißt er Bill Cassidy und stammt ursprünglich aus einem Vorort von Chicago. Auch um Mary Landrieu hatte es übrigens Kontroversen gegeben, aber sie war eben doch einer der demokratischen Pfeiler aus einem bis in die siebziger Jahre durchgehend von demokratischen Gouverneuren (danach immer wieder wechselnd) regierten Bundesstaat.
Auch nicht schön: Der republikanische und sehr konservative derzeitige Gouverneur Bobby (Piyush) Jindal ruft im Januar 2015 zu einem Gebetsmeeting mit Unterstützung der American Family Foundation auf, das ausgerechnet auf dem Campus der Louisiana State University, der Flagship University des Bundesstaates, stattfinden soll (hier). Erwähnt sei auch, dass sich der Gouverneur bis zuletzt gegen die Gesundheitsreform gesperrt hat und sich für die Lehre des Kreationismus an den Schulen einsetzt, mit der NRA auf du und du steht, gegen Abtreibung und gegen die Homo-Ehe ist usw. Er wird als einer der möglichen republikanischen Präsidentschaftskandidaten gehandelt.
Aber vermutlich wird Louisiana auch das irgendwie überleben.

Mittwoch, 15. Oktober 2014

Kreolisches und anderes Erbe

Oktober ist seit 2005 in Louisiana der Creole Heritage Month (Monat des kreolischen Erbes) und in Kanada und St. Lucia in der Karibik ist es sogar International Creole Month. Als Kreolen, wir erinnern uns, werden typischerweise die in der Neuen Welt geborenen Nachfahren von Spaniern und Franzosen bezeichnet. In New Orleans denkt man dabei meist an Afroamerikaner wie die Musikerdynastien Marsalis und Neville, aber dann gibt es eben auch die, die damit nichts zu tun haben wollen und sich als Weiße verstehen.
Dann gibt es auch noch die in Louisiana als passe-blancs bezeichneten Menschen, d.h. diejenigen mit afroamerikanischer Herkunft, die sich -- oft woanders als in ihrer Heimat -- erfolgreich als Weiße ausgeben und durchschmuggeln konnten, was das Leben natürlich enorm erleichterte. Nella Larsen schrieb darüber in ihrem Roman Passing von 1929 (Deutsch: Seitenwechsel, Dörlemann 2011, Übersetzt von Adelheid Dormagen), einem Klassiker der African American Studies. "Seitenwechsel" finde ich übrigens eine ganz schöne Lösung, denn eine richtige deutsche Entsprechung haben wir aus gegebenen Gründen nicht.
Der Blog Jambalaya Magazine hatte das Thema erst kürzlich. In dem ersten kleinen Video berichtet Bliss Broyard über ihren Vater, den Greenwich-Village-Bohemien Anatole Broyard, der von Kreolen aus New Orleans abstammte und seine Herkunft verleugnete, weil er kein "negro writer" sein wollte. Sie hat diese Geschichte auch in dem Buch One Drop verarbeitet. Im zweiten Video macht sich der Reporter Charlie LeDuff auf Spurensuche und findet versprengte Verwandte verschiedener Couleur.
In einem anderen Artikel zeigt der Blog, wie vermutlich viele kreolische Familien aussehen -- bunt durcheinander.
Das Titelbild dieses interessanten Blogs zeigt die berühmte Oak Alley Plantation, ursprünglich Bon Séjour (Schöner Aufenthalt) genannt, die für einen Kreolen erbaut wurde. Auch die Laura Plantation war kreolisch und erinnert wenigstens auch ein bisschen an die Sklaven. Wenn man nämlich die anderen Herrenhäuser besichtigt, dann wird man oft von jungen Damen in Reifröcken geführt, die über die Möbel und die früheren Sitten erzählen, die Namen der ehemaligen Besitzer herunterleiern usw. Von den Sklaven, die die Plantage aufgebaut und unterhalten haben, ist dabei kaum die Rede, nicht einmal auf der Webseite des National Park Service (hier und hier).
Zumindest auf der Whitney Plantation, auch am Westufer an der River Road gelegen, ändert sich das gerade. Hier richtet nämlich der Anwalt und Immobilienhai John Cummings aus New Orleans das erste Museum der Sklaverei ein, mit einem dem Vietnam Veterans Memorial in Washington, D.C., nachempfundenen Denkmal mit den eingemeißelten Namen der Sklaven, meist nur Vornamen, die dort lebten und schufteten. Die Historikerin Gwendolyn Midlo Hall hat eine Datenbank angelegt, in der die Namen von mehr als 100.000 Sklaven in Louisiana festgehalten sind. Es wird auch Statuen geben und ein beeindruckendes Denkmal mit Keramikköpfen, die an Metallstäben am Wasser im Wind wiegen und an die Niederschlagung des größten Sklavenaufstands in den USA, des German Coast Uprising von 1811, erinnert (hier). Die Whitney Plantation wurde übrigens von deutschen Einwanderern gegründet, den Haydels, die mit die meisten Sklaven in Louisiana hatten, nämlich 101. Sie waren auch bei weitem nicht die einzigen Deutschen in der Gegend, wie sich noch an Namen wie Waguespack (nach Wagenbach) ablesen lässt und am Namen Côte des Allemands.
"Es wird schockierend, bizarr und beeindruckend," so der Initiator Cummings. Und wenn er vielleicht auch ein paar Fehler mache, meint er, so ist es doch ein Anfang.

Montag, 29. September 2014

Geopolitisches

Als ich vor ein paar Wochen in Hamburg war, zu einer tollen Übersetzersause auf einer Barkasse im Hamburger Hafen, war ich ziemlich überrascht, wie breit die Elbe dort ist. "Wenigstens ein richtiger Fluss," meinte meine beherbergende Kollegin. Das Schiff zog Runde um Runde durch den abendlichen, dann nächtlichen Hafen, und eigentlich war es einfach nur unglaublich und unvergleichlich schön. Aber als eine Urberliner Kollegin zu mir sagte: "So was hat Berlin nicht," rutschte mir spontan heraus: "Aber New Orleans," und das vielleicht auch, aber nicht nur, weil es so ein lauer, feuchter, atmosphärischer Abend war.
Tatsächlich erinnerte mich der Hamburger Hafen ein kleines bisschen an New Orleans, obwohl Hamburg als alte Handels- und Kaufmannsstadt majestätischer und reicher und größer ist. Hier ein paar Fakten, in Annäherungswerten:
Breite der Elbe in Hamburg: 500-600 Meter
Breite des Mississippi in New Orleans: 800 Meter
Entfernung von Hamburg bis zur Mündung der Elbe: 115 Kilometer bzw. 70 Seemeilen
Entfernung von New Orleans bis zur Mündung des Mississippi: 160 Kilometer
Hafen Hamburg: größter deutscher Seehafen mit 132,2 Millionen Tonnen Güterumschlag jährlich
Hafen New Orleans: 5. größter US-Hafen mit 84 Millionen Tonnen Güterumschlag jährlich
Einwohnerzahl Hamburg: 1,75 Millionen
Einwohnerzahl New Orleans: 360.000
Eine U-Bahn hat New Orleans auch nicht (lohnt nicht und es ist zu sumpfig).

Kürzlich habe ich diese "Judgmental Map" von New Orleans gefunden, eine satirische "urteilende" Karte, in der die Stadt nach verschiedenen Gesichtspunkten unterteilt ist: Geld, Kriminalität, Ethnien usw. New Orleans ist ja streng genommen, nur das, was sich in Orleans Parish befindet, aber hier ist die New Orleans Metropolitan Area abgebildet, mit Metairie, das sich im Westen nahtlos anschließt und in Jefferson Parish liegt, und New Orleans East und Teilen von St. Bernard Parish sowie auch der Westbank (ja so heißt es). Dort, wo steht: "Brad Pitt Houses" befindet sich die Lower Ninth Ward, die durch Hurrikan Katrina besonders schlimm getroffen wurde. Die Karte findet sich hier (interessant sind allerdings auch die Kommentare).
Auch treffend, aber böse ist eine satirische Parodie auf ein Promotionsvideo der New Orleans Tourism Marketing Corporation für den Stadtteil Bywater, der sich gleich östlich an das Faubourg Marigny anschließt, das wiederum gleich neben dem French Quarter am Mississippi und am Industrial Canal liegt. Zu Bywater gehört das Bywater Historic District. Historisch gesehen war Bywater eines der "Creole Faubourgs" (kreolischen Vorstädte), wo Free People of Color, kreolische Arbeiterfamilien, Einwanderer aus Santo Domingo (Haiti) und Europa, vor allem Irland und Deutschland, lebten. Mehr Fakten und Fotos hier. Seit mehreren Jahren wird hier kräftig gentrifiziert, und genau das nimmt das Satirevideo auf die Schippe (hier; oben die Parodie, unten das Original).
In Bywater lebt auch die feministische und offen bisexuelle Singer/Songwriterin Ani DiFranco mit Familie, die ursprünglich aus Buffalo, New York, stammt. Dass einem auch nach mehreren Jahren vor Ort noch gewisse lokale Sensibilitäten abgehen können, musste sie feststellen, als sie Ende letzten Jahres ein "Righteous Retreat" auf der Nottoway Plantation in White Castle am Mississippi veranstalten wollte (wo ich fast täglich auf dem Weg von Donaldsonville nach Baton Rouge vorbeigefahren bin), also eine Art "rechtschaffenen" Workshop mit ihr, 1000 Dollar pro Person für vier Tage. (Ein Wort wie "righteous" haben wir nicht, aber es bedeutet in etwa Gerechtigkeit fordernd oder suchend).
Dabei war nicht der Preis das Problem, sondern der Veranstaltungsort. Es ist tatsächlich ein besonders beeindruckendes Herrenhaus (daher der Name White Castle) direkt am Ufer des Mississippi. Auf der Nottoway-Plantage lebten und schufteten aber natürlich früher auch hunderte Sklaven, auch wenn das heute eher am Rande erwähnt oder romantisiert wird. Das Plantagenhaus ist jetzt zu besichtigen, und man kann auf dem Gelände auch luxuriös nächtigen, heiraten und Konferenzen abhalten (hier). "Typisch weiße Feministin"und "offenkundigen Rassismus" warf man Ani DiFranco vor, die sich zunächst noch damit verteidigte, dass der besondere Ort sicher auch thematisiert und in die Arbeit eingeflossen wäre. Zum Glück hat sie es dann doch abgesagt. Hier. Auf ihrem neuesten (am 14. Oktober erscheinenden) Album Allergic to Water haben übrigens Ivan Neville und andere New Orleanser Größen mitgespielt (hier).

Mittwoch, 24. September 2014

NCIS New Orleans

NCIS ist kurz für Navy CIS oder besser gesagt Naval Criminal Investigative Service, eine Bundesbehörde, die Verbrechen im Zusammenhang mit Angehörigen der US Navy oder des Marine Corps untersucht. Die Fernsehserie gleichen Namens läuft seit 2003 auf CBS; 2009 kam ein Ableger in Los Angeles hinzu. Beide laufen auch auf Sat 1.
Auf meinem Radar ist es erst kürzlich angekommen, denn ein neuer Ableger spielt in New Orleans. Die letzten beiden Folgen des regulären NCIS waren sozusagen der Pilot, den Sat 1 am 14. September 2014 zeigte.
Manches daran erinnerte mich ein bisschen an Treme: Es beginnt in einer Bar mit Live-Band, und gleich in der ersten Folge ist eine Jazz-Beerdigung mit Second Line zu sehen. Aber dann spielte es zum Teil  in Washington, DC, zum Teil in New Orleans. Es gab das typische Kompetenzgerangel mit dem FBI und für meinen Geschmack zu viele Tote, aber so ist das eben bei den meisten Krimiserien. Vor allem aber ging es darum, das neue New Orleans-Team vorzustellen, allen voran den Chef gespielt von Scott Bakula.
In den USA ist die neue Serie am 23. September angelaufen; Sat 1 verspricht, sie ab Frühjahr 2015 zu zeigen. Letzte Woche (am 17. September) fand im National World War II-Museum in New Orleans die Premierenparty statt. Auf nola.com sind ganz unten rechts unter "Video of the Day" ein paar Kurzinterviews dazu zu sehen, bei denen von einer "multi million dollar franchise" die Rede ist, aber auch von einem "international love letter to New Orleans", der mehr Touristen in die Stadt locken soll. Diese sollten sich allerdings vor echten Verbrechern in Acht nehmen, sage ich angesichts der Meldungen links neben diesem Video.
Hier hat offenbar schon jemand die erste neue Folge im Original gesehen.

Dienstag, 16. September 2014

The New Orleans Sound


Musik aus New Orleans ist nicht nur Dixielandjazz. Jazz, Hiphop (Bounce), R & B und Funk in New Orleans ist meistens schwarz und immer lauter, heftiger, dreckiger, ja vielleicht ursprünglicher als anderswo.
Letzte Woche ist der Schöpfer des „New Orleans Sound“, Cosimo Matassa, im Alter von 88 Jahren gestorben. Noch nie von ihm gehört? Tja, er war eben „nur“ der Toningenieur, mit dem sie alle zusammengearbeitet und sich gern haben fotografieren lassen: Fats Domino, Allen Toussaint, Dave Bartholomew, Professor Longhair, Irma Thomas und Dr. John. 
Dr. John beschreibt den typischen Cosimo-Sound, der zum New Orleans Sound des R&B und Rock ‚n’ Roll wurde, so: „strong drums, heavy bass, light piano, heavy guitar and light horn sound with a strong vocal lead.“
Cosimo Matassa wurde in New Orleans geboren und war sizilianischer Abstammung (und gehört damit zur wichtigen Gruppe der Italians in New Orleans, denen auch das Muffuletta-Sandwich zu verdanken ist). Seiner Familie gehört der kleine Lebensmittelladen im French Quarter Ecke Dauphine und St. Philip Street, Matassa’s Market, in dem es irgendwie alles gibt, was man gerade so braucht, auch Wein, wenn man zum Beispiel ins Mona Lisa in der Royal Street essen gehen will, wo man sich zu der tollen Pasta und Pizza seinen Wein selbst mitbringt, weil es jedenfalls früher BYOB (Bring Your Own Beverage) war, d.h. ohne Alkoholausschank. 
Die Matassas hatten aber noch ein anderes Geschäft: Musikboxen, und als Cosimo merkte, das sein Chemiestudium an der Tulane University doch nicht das Richtige für ihn war, fing er an, dort zu arbeiten. Bald fiel ihm auf, dass die Leute auch Platten kaufen wollten, und 1945 richtete er im Hinterzimmer ein kleines Aufnahmestudio ein, wo man zunächst vor allem privat Schallplatten aufnehmen konnte. Dann erweiterte er und zog mehrmals um, schließlich in die 748 Camp Street, wo er den Laden Jazz City nannte. Lange war seines das einzige Musikstudio in der Stadt und die besten Musiker gingen bei ihm ein und aus.
Matassa wurde in die Louisana Music Hall of Fame aufgenommen und 2012 in die Rock ‚n’ Roll Hall of Fame für „Musical Excellence“. Cosimo Matassa meinte dazu, er habe einfach Glück gehabt, dass so viele gute Leute zu ihm kamen: „It’s not hard to make a good performer look good.“ (Es ist nicht schwer, einen guten Künstler gut aussehen zu lassen.“
Mehr dazu hier.

Sonntag, 3. August 2014

Coonass


Politisch korrekte oder inklusive Sprache ist etwas in Misskredit geraten, vor allem bei sich für besonders unangepasst haltenden Kritikern, die sich an bestimmten Ausartungen festbeißen. Ich persönlich bin ein großer Fan davon, mit oder über Leute(n) so zu sprechen, wie sie es gern möchten und dass sie sich respektiert fühlen. Deshalb gibt es für meine Studentinnen auch immer eine Seminarsitzung zu dem Thema, und die Geschichte vom Vater und seinem Sohn und ihrem Unfall zeigt, dass sich seit 1992, als ich sie kennengelernt habe, nicht viel geändert hat.
Auf dem Arbeitsblatt zu meinem Seminar heißt eine Frage: “When is it okay to use the N-Word” in English or a word like “Tunte” in German?” Die richtige Antwort heißt natürlich nie, es sei denn, man ist selbst schwarz oder schwul. Ein Wort könnte ich noch hinzufügen: Coonass als Bezeichnung für Cajun.
Cajuns heißen die Nachfahren französischer Einwanderer, die im 18. Jahrhundert von den Engländern aus Nova Scotia in Kanada vertrieben wurden und vorwiegend auf dem Land leben. Aus verschiedenen Gründen sprechen sie heute im Alltag kaum noch ihr archaisches Französisch, aber sie haben sich eine reiche und lebendige Kultur bewahrt. Und auch wenn sie sich im 20. Jahrhundert vielleicht manchmal dafür geschämt haben und es für ihr Französisch, das ja kein “richtiges” Französisch ist, immer noch tun, so sind sie heute auch stolz. 
Für “Coonass” gibt es verschiedene Herkunftserklärungen: eine führt es auf das moderne französische Wort „connasse“ zurück, das im 2. Weltkrieg von den Franzosen für alliierte Cajuns verwendet worden sei. Ich halte das schon deshalb für abwegig, weil es eine abwertende Bezeichnung für eine Frau ist und deshalb ganz sicher nicht für Soldaten verwendet wurde und weil das Französische wie auch das Deutsche niemals eine grammatisch eindeutig weibliche Form für einen Mann verwenden würde. Andere assoziieren es mit dem coon von raccoon (Waschbär), was eine sehr abwertende Bezeichnung für einen Afroamerikaner ist, und der „ass“ wäre dann dessen Hinterteil.
Egal, woher es kommt, man sollte es vielleicht kennen, um Postkarten oder T-Shirts wie „You know you’re a coonass when...“ zu verstehen, aber verwenden sollte man es nicht. Das wurde jetzt einem Abgeordneten in Texas ziemlich unmissverständlich auch von Mit-Republikanern klar gemacht. Dennis Bonnen hatte den Begriff in einer Anhörung zum Umgang mit den vielen unbegleiteten Einwandererkindern für Kinder aus Louisiana verwendet, die nach Hurrikan Katrina nach Texas kamen und dort in die Schulen integriert werden mussten. Besonders auf Kinder angewendet, stießen sich viele an dem Wort und warfen ihm u.a. vor, dass er keine Vorstellung von „Inklusion“ habe (hier und hier). Eine Umfrage auf nola.com (der Webseite der New Orleans Times-Picayune) hat wiederum gezeigt, dass einige das Wort mit Stolz für sich verwenden (hier).
Für Shane Bernard, der Autor von The Cajuns: Americanization of a People zeichnet sich je nach Klassenzugehörigkeit eine unterschiedliche Haltung zu dem Wort ab, wo die mittleren und oberen Schichten es strikt ablehnen, während die Arbeiterklasse damit stolz auf die ethnische Herkunft verweist. Aber für uns Ausländer, die vermutlich nicht von Cajuns abstammen, wäre es (politisch) korrekt und auf der sicheren Seite, das Wort nicht zu verwenden (hier). Warum also nicht einfach Cajun?

Freitag, 1. August 2014

Saurierlandschaft

Wenn ich an Louisiana denke, dann denke ich zuerst an das warme, weiche Licht, das ich auch in Filmen und auf Fotos gleich wieder erkenne. So ein Licht gibt es hier nicht. Und dann ist es dort immer grün oder eben Betonlandschaft, aber Herbstlaub zum Beispiel gibt es nicht.
Jetzt übersetze ich gerade einen kurzen Text über neue Dinosaurierskelettfunde und wie man daraus mit Computerverfahren ein 3-D-Modell des Tiers erzeugen kann. Dazu habe ich mir einen Artikel im Maiheft des National Geographic herangezogen, Kontinent der Dinos, in dem es um amerikanische Dinosaurier geht. Auf einer Seite sind ganz verschiedene Saurier abgebildet, mit abenteuerlichen Alien-Kopfformen: Parasaurolophus, Kosmoceratops usw. Als Titel steht dort: Schwül, sumpfig und Saurier hinter jedem Busch und in der Bildunterschrift heißt es: "Die Landschaft glich vermutlich den heutigen subtropischen Sümpfen Louisianas."
Tatsächlich sind moosbewachsene Bäume und flaches Wasser und sogar ein paar Alligatoren zu sehen, die ja vorsintflutliche Überlebende sein sollen, und es stimmt, die Natur in Louisiana ist trügerisch verwunschen und birgt allerlei Gefahren (Alligatoren, Giftschlangen, Giftefeu (poison ivy), Feuerameisen, West Nile Virus, Mücken usw.). Saurier gibt es nicht mehr. Und das fahle, kühle Licht in der Illustration ist nicht das louisianische Licht.

Sonntag, 15. Juni 2014

Lillian Hellman: Pentimento und The Little Foxes

Vor einiger Zeit habe ich Lillian Hellmans zweites biographisches Buch gelesen oder vielmehr verschlungen: Pentimento. A Book of Portraits. Das Buch heißt auf Deutsch Pentimento: Erinnerungen, Frauenbuchverlag 1989, übersetzt von Eva Buchmann, oder in einer älteren Ausgabe Julia und andere Erzählungen, Goldmann 1984, übersetzt von Cordula Bickel. Der ungewöhnliche Titel ist im Englischen ein nicht sehr gebräuchliches Wort für das Phänomen, wenn durch eine Schicht Farbe auf einer Leinwand eine zuvor aufgetragene Malerei durchscheint. Im Deutschen wird der Begriff in der Kunstgeschichte verwendet, wohl oft im Plural als Pentimenti oder eingedeutscht Pentiment, für die nachträgliche Übermalung oder Verbesserung eines Bildes durch den Künstler. Im Italienischen heißt Pentimento interessanterweise Reue.
Anders als die vorhergehende Biographie An Unfinished Woman ist Pentimento nur bedingt chronologisch aufgebaut, denn es besteht aus 7 Kapiteln, von denen die meisten mit einem Namen oder einem Wort überschrieben sind. Die ersten drei davon, Bethe, Willy, Julia, sind die eindrücklichsten. Darin werden wichtige Personen aus dem Leben von Lillian Hellman aus der Perspektive als Mädchen oder als junge Frau eher erzählt als porträtiert. Das ist ziemlich meisterhaft gemacht, denn man erfährt mit diesen dreien etwas aus dem Leben der Autorin aber auch über sie als Mensch, so dass es letztendlich gar nicht klar ist, wer hier eigentlich porträtiert wird.
Das dritte Kapitel, Julia, hat etwas Atemloses und hält in Atem, denn darin geht es um eine New Yorker Freundin der Autorin aus begüterten Verhältnissen, die während der Nazizeit in Europa im Untergrund aktiv ist, dort ein Bein verliert, ein Kind zur Welt bringt und schließlich getötet wird. Das ist alles sehr geheimnisvoll, so zum Beispiel wenn Lillian Hellman auf ihrer Reise von Berlin nach Moskau auf sehr komplizierte und undurchsichtige Weise über viele Mittelsmänner und –frauen Geld über die Grenzen schmuggelt. Das Problem an der Julia-Geschichte ist, dass sie möglicherweise nicht stimmt. Vielmehr scheint sie in leicht abgewandelter Form das Schicksal von Muriel Gardiner Buttinger zu beschreiben (Codename: Mary), mit der L. Hellman einen gemeinsamen Bekannten hatte, was die Lügenbezichtigung von Mary McCarthy, über die ich hier schon geschrieben habe, wohl noch untermauert.
Auch in Nora Ephrons Theaterstück Imaginary Friends von 2002 geht es um diese berühmte Kontroverse. Dafür gab es gemischte Kritiken, jedoch hielt ein Kritiker die Gegenüberstellung der beiden Frauen als diametral entgegengesetzte Göttinnen Fakt und Fiktion für gelungen. Im Frühjahr 2014 lief Off-Broadway ein weiteres Theaterstück von Jan Buttram zu dem Thema (Hellman v. McCarthy). Darüber heißt es in einer Kritik: „The play itself isn’t all that good...“ Und: „McCarthy (Marcia Rodd) gilt meistens als die Heldin, aber hier wirkt sie selbstgerecht und falsch, während Hellman als misslauniges, bitterböses Lästermaul höchst unterhaltsam ist.“
Mich hat Pentimento begeistert, weil die Geschichten so fesselnd und raffiniert erzählt sind. Ich finde es befreiend, dass Lillian Hellman sich nicht in die Rollenklischees für eine Frau und Schriftstellerin einfügt, sondern z.B. auch schwierig, starrsinnig und laut ist und Dashiel Hammett damit eine komplizierte, aber ebenbürtige Partnerin. Julia fragt sie an einer Stelle (S.114): „Are you as angry a woman as you were a child?“ Die Antwort: „I think so. I try not to be, but there it is.“ (Bist du als Frau immer noch so wütend, wie du es als Kind warst?“ „Ich glaube ja. Ich versuche, mich zu ändern, aber so ist es nun mal.“)
Die Berliner Schaubühne, ein wunderschöner Zwanziger-Jahre-Bau am Ku’damm, hat jetzt ein Stück von Lillian Hellman auf dem Spielplan, Die kleinen Füchse (The Little Foxes) von 1939, eine große Seltenheit. Ein Kritiker meint: „Hier nun die entscheidenden Erfolgsgründe. Zunächst das Stück, Die kleinen Füchse von der Kommunistin, Säuferin, Schriftstellerin und zu Lebzeiten erstaunlich verhassten US-Amerikanerin Lillian Hellman. Es wird kaum gespielt, in Berlin zuletzt in den 50er-Jahren am Deutschen Theater, mit Inge Keller in der Hauptrolle (Hauptstadt der DDR).“ Außerdem spielt Nina Hoss die Hauptrolle der Regina Giddens, ein weiterer Grund, warum es immer ausverkauft ist, wie ich meiner nicht repräsentativen Umfrage unter den neben mir Sitzenden entnehmen konnte, während die Autorin Lillian Hellman ziemlich unbekannt ist. 
Der Inhalt lässt sich vielleicht mit einem passenden Zitat aus Pentimento zusammenfassen: „... not too many years later... I understood that I lived under an economic system of increasing impunity and injustice for which I, and all those like me, pay with ridiculous wounds to the spirit.“ (Nicht allzu viele Jahre später wurde mir klar, dass ich in einem wirtschaftlichen System der zunehmenden Straffreiheit und Ungerechtigkeit lebte, für das ich, und alle die sind wie ich, mit unglaublichen Wunden an unserem Geist bezahlten.)
Das Personal: Regina Giddens und ihre beiden Brüder, die Ehefrau und der Sohn des einen Bruders, ihre Tochter, ihr Ehemann, eine Bedienstete, ein Investor aus dem Norden. Das Stück spielt in Alabama und ist von der Familie von Lillian Hellmans Mutter inspiriert. Die Familie will Geschäfte mit dem Investor machen, doch dazu brauchen sie Geld von Reginas Ehemann, der seit Monaten irgendwo in der Ferne im Krankenhaus ist und auf ihre Briefe nicht reagiert. Regina, die davon träumt nach New York zu ziehen, schickt ihre Tochter, um den Mann aus dem Krankenhaus nach Hause zu holen. Die Ehe der beiden ist völlig zerrüttet, vor allem Regina verachtet ihren Mann und versucht verzweifelt, für sich finanzielle Vorteile herauszuholen. Am Ende lässt sie ihren Mann sterben, indem sie ihm Tabletten und Hilfe verweigert. Sie verliert ihre Tochter und Brüder, aber sie hat jetzt Geld. 
Neben Regina ist da noch ihre Schwägerin Birdie (gespielt von Ursina Lardi), eine verwirrte, melancholische, tragische und doch sehr liebenswerte Frauenfigur aus den Südstaaten, wie man sie später in Tennessee Williams’ Stücken findet, zum Beispiel Blanche in Endstation Sehensucht (1947). Birdie wurde von einem der Brüder geehelicht, damit er an ihr Gut kam, das daraufhin verscherbelt wurde. Sie ist jetzt Alkoholikerin, wird von ihrem Mann schikaniert und misshandelt und hat einen Sohn, den sie selbst nicht mag und vor dem sie ihre Nichte warnt. Die kleinen Füchse thematisiert somit nicht nur den Gegensatz von old money (Birdie) und Neureichen (Familie Giddens), sondern auch die finanzielle Recht- und Mittellosigkeit der Frauen. Für Lillian Hellman war das ein zentrales Problem der Gleichberechtigung, das sie für sich mit geschickten Geldanlagen löste, was man wie so viele Dinge an ihr für skandalös hielt.
Nina Hoss ist wie immer intensiv, auch wenn es in der hitzigen, zähen und verzweifelten Stimmung des Stücks so angelegt ist. Der Text wurde offenbar radikal überarbeitet, und es liefen englische Übertitel, die seltsam aus dem Deutschen übersetzt klangen. Die Bühne ist schwarz und simpel, mit einer sehr hohen, über Eck gehende Treppe, die ins obere Geschoss (aber eigentlich ins Nichts) führt. Nur hinten rechts steht hinter einer Schiebetür ein großer Esstisch parallel zur Bühne, und wenn am Anfang dort  mit dem Investor aus dem Norden hinter verschlossenen Türen getafelt wird und diese Türen immer wieder aufgehen, wenn jemand nach vorn kommt und etwas sucht oder telefoniert oder die Bedienstete hineingeht, dann erinnert die Szenerie dahinter optisch an Das Abendmahl von Leonardo da Vinci und anderen. Pausen gibt es keine, die Akte werden mit lauten Musikpassagen vom Band markiert. 
Vor Kurzem habe ich in einem alten New Yorker einen Artikel über die Schauspielerin Tallulah Bankhead gelesen, eine Diva, wie sie im Buche steht, die bei der Erstaufführung ein Jahr lang mit großem Erfolg die Hauptrolle am Broadway gespielt hat (410 Aufführungen). Für die Filmversion wurde allerdings Bette Davis ausgewählt. In dem Artikel wird eine Episode erwähnt, die sich auch in Pentimento findet. Bei Partys hat die extravagante Tallulah Bankhead die Gäste manchmal ins Schlafzimmer geführt, ihrem schlafenden Ehemann John Emery die Bettdecke weggezogen und gesagt: „Haben Sie schon mal so einen großen Schwanz gesehen?“ Der Ehemann hat sich dann irgendwann scheiden lassen, und Tallulah Bankhead ist heute fast nur in Legenden und Büchern überliefert, weil sie vor allem Theaterschauspielerin und eben sehr exzentrisch war.
Wie es scheint, wird die Aufführung immer mehrmals hintereinander gezeigt, aber nicht in jedem Monat. Zu empfehlen, auch wenn draußen keine louisianischen Regenstürme wüten sollten...

Samstag, 26. April 2014

Ein Expat-Baum

Vor kurzem wurde bei uns hinter dem Haus ein Baum gefällt, ein Eschenahorn, hieß es. Er war knorrig und nicht recht glücklich. Die Baumfäller waren zwei junge Burschen, die sich über Fitnessstudios und so weiter unterhielten. Das weiß ich, weil ich mir von den ersten abgesägten Ästen ein paar Zweige für einen Osterstrauß abgemacht habe. Später habe ich gesehen, wie der eine oben im Baum an einem großen Ast sägte, während der andere von fern versuchte, diesen mit einem Seil herunterzuziehen und zum Abbrechen zu bewegen. Als das dann endlich gelang, führte er einen kleinen Freudentanz auf.
Meine Zweige machten mich auch nicht so recht glücklich. Seltsame klebrige schwarze Krümel lagen darunter auf dem Tisch und immer wieder starrte die Katze nach oben in die Zweige, wo sich eine grüne Raupe wand, die ich später irgendwo in der Wohnung wieder fand. Vor allem aber waren die sich langsam auffaltenden Blätter sehr seltsam, in einem fremden Grün, gezackt und ein bisschen fedrig.
Seltsam ist auch die Landschaft, in der ich jetzt lebe. Sie ist struppig, nicht wie die typische weite und sanfte Berlin-brandenburgische Wald-Wasser-Wiesen-Landschaft. An den Eschenahornen hängen auch die vertrockneten Früchte vom letzten Jahr und die Bäume haben kaum einen Stamm, sondern bestehen fast nur aus Ästen, die direkt aus dem Boden zu wachsen scheinen.
Auf einer der vielen Besuchertafeln hier in der Umgebung heißt es: Das Gegenteil von Wildnis. Denn die Bäume sehen zwar wild aus, aber so wie ganz Mitteleuropa seit Jahrhunderten eine stark durch den Menschen geprägte Kulturlandschaft ist, so waren die Rieselfelder, die hier früher waren, ein besonders starker Eingriff, der die Gegend zeichnet. Seit den achtziger Jahren versucht man hier wieder „Natur“ entstehen zu lassen, mit wild lebenden Rindern und Pferden und verschiedenen Landschaftsformen: Heide, Kiefernschonungen, Wassergräben und auch Kunst in der Natur usw.
Nicht eingeplant war wohl der Eschenahorn. Er gehört zu den invasiven Neophyten, den nicht heimischen Spezies, die sich ausbreiten und heimische Pflanzen verdrängen (siehe hier) und ist ein äußerst erfolgreicher Pionierbaum (siehe hier). Tatsächlich soll der Acer negundo schon 1688 aus Nordamerika bei uns eingeführt worden sein. In den USA heißt er Box elder oder Boxelder maple usw. und ist vor allem in der östlichen Hälfte bis hoch nach Kanada zu finden, auch in Louisiana, aber da fällt er nicht so auf, weil dort alles wild und struppig aussieht. So habe ich ein bisschen Amerika direkt hinterm Haus. Trotz des fremden Eschenahorns fühlen sich hier jede Menge Wildtiere und Vögel zu Hause. Ich auch. 
Mein neuer Arbeitsplatz. Im Hintergrund auch Eschenahorn.

Freitag, 18. April 2014

Bob Kaufman


Große Lyriker aus den Südstaaten gibt es nicht so viele wie Prosaautoren, das hatten wir schon mal festgestellt. Aber hier ist einer: Der Beat-Dichter Bob Kaufman, der am 18. April1925 in New Orleans geboren wurde. Dort wuchs er, je nach Quelle, als eines von 13 oder 14 Kindern eines deutschstämmigen orthodoxen Juden und einer afroamerikanischen bzw. aus Martinique stammenden Katholikin auf (er schrieb: „my negro suit has jew stripes“). An beider Religionen hatte er als Kind teil, aber später bekannte er sich zum Buddhismus. Seine Großmutter soll Voodoo praktiziert haben. Laut einer Studie wuchs er in der Seventh Ward auf, und beide Eltern gehörten der kreolisch-afroamerikanischen Bevölkerungsgruppe in New Orleans an. Er selbst sprach auch kreolisches Patois. Mit neunzehn ging er zur Handelsmarine und umrundete in 20 Jahren neun Mal die Welt und erlebte vier Schiffbrüche. An Land studierte er kurzzeitig an der New York School, wo er Allen Ginsberg und William Burroughs kennenlernte.
Mit ihnen zog er nach San Francisco, wo er meist in North Beach lebte. Er soll den Terminus „Beatnik“ geprägt haben und war einer der Mitbegründer der Zeitschrift Beatitude. Dass er weniger bekannt ist als die übrigen, liegt daran, dass von ihm nur wenige Gedichte in Lyrikbänden erschienen sind. Er verstand sich als Poet in der mündlichen Tradition und trug seine Gedichte auf den Straßen San Franciscos oder in Kaffeehäusern vor. Oft wurde er dabei für einen Obdachlosen oder Bettler gehalten, und 1959 soll er 39 Mal festgenommen worden sein.
Seine Lyrik ist vom Jazz inspiriert, oft synkopiert und von Musik begleitet („Jazz is an African traitor“ schrieb er in Solitudes) und wird auch als surrealistisch bezeichnet. Deshalb nannte man ihn auch „the original bebop man“ und in Frankreich manchmal „Rimbaud noir“.
Nach dem Attentat auf Präsident Kennedy 1963 erlegte er sich Schweigen auf, das er erst nach dem Ende des Vietnamkriegs mit dem berühmten Gedicht All those ships that never sailed brach. Es ist vermutlich von einem Gedicht von Leonard Cohen inspiriert, siehe hier. (Nicht ungewöhnlich: Paul Celans Todesfuge ist eine Adaption und Perfektionierung eines Gedichts von Immanuel Weissglas.)
Bei Kaufman ist es sein poetisches Verfahren, denn für ihn ist die Welt voller Poesie, die um seinen Kopf herumwirbelt und die er aufgreift. Er wollte auch nicht, dass seine Gedichte abgedruckt werden, und so ist es vor allem seiner Frau Eileen zu verdanken, dass einige überliefert sind, weil sie fleißig mitgeschrieben hat. Bekannt ist er vor allem für sein Abomunist Manifesto, Solitudes Crowded with Loneliness (1982 Deutsch von Udo Breger als Eremit in San Francisco), Golden Sardine und The Ancient Rain. Er starb 1986 im Alter von nur 60 Jahren.
Bob Kaufman ist legendär und sagenumwoben, und über sein Leben ist nicht viel bekannt. Folgerichtig trägt seine Biographie von Mel Clay Jazz Jail and God (Jazz, Gefängnis und Gott) den Untertitel „Impressionistic Biography“. „I want to be anonymous... my ambition is to be completely forgotten,“ hatte Bob Kaufman erklärt. Letzteres hat dann doch nicht geklappt: Gestern gab es in New Orleans im Gold Mine Saloon einen Tribute für ihn mit Brenda Marie Osbey und anderen Dichtern mit einem kleinen Jazzensemble. Hier einige Erinnerungen von A.D. Winans. 

Samstag, 22. Februar 2014

Vom Schreiben und Zugfahren


Dieser Tage habe ich Das Wagnis, die Welt in Worte zu fassen zu Ende gelesen, das Skript einer dreiteiligen Vortragsserie der Schriftstellerin Eudora Welty an der Harvard University. Der englische Titel One Writer’s Beginnings drückt besser aus, worum es geht: um ihre kurzweilige Kindheitsgeschichte, die Herkunft der Eltern und ihre Reifung zur Schriftstellerin. Eudora Welty (1909-2001) ist vor allem für ihre Kurzgeschichten und den Pulitzer Prize-prämierten Kurzroman The Optimist’s Daughter bekannt, war allerdings auch eine begabte Photographin (das Ogden Museum of Southern Art in New Orleans hatte letztes Jahr eine Ausstellung mit Podiumsdiskussion dazu). 
Den größten Teil ihres Lebens verbrachte sie in ihrem Elternhaus in Jackson, Mississippi, der Hauptstadt des Bundesstaats, die ich als selten hässliche Stadt in Erinnerung habe. Diesen Essay über ihren schriftstellerischen Ursprung endet sie mit den Worten: „Wie sie gesehen haben, bin ich eine Schriftstellerin, die einem behüteten Leben entstammt. Auch ein behütetes Leben kann abenteuerlich sein. Denn jedes echte Wagnis geht von innen aus.“ (In der leichtfüßigen Übersetzung von Karen Nölle in der Edition Fünf von 2011.) Der letzte Satz ist zum geflügelten Wort geworden, und im Original klingt er noch etwas wagehalsiger: „All serious daring starts from within“. 
The Optimist’s Daughter spielt zum Teil in einem Krankenhaus in New Orleans, und auch die Kurzgeschichte „No place for you, my love“ von 1952, über die sie berichtet, spielt in der Stadt. Sie zitiert auch eine Passage aus The Optimist’s Daughter, in der die Hauptfigur von einer Zugfahrt von Chicago nach Mississippi träumt und schreibt über eigene Zugfahrten, die sie von Jackson nach New York unternahm, um ihre Kurzgeschichten dort vorzustellen. Von Meridian, Mississippi, fuhr ein Zug für 17,50 Dollar von New Orleans kommend nach New York, zwei Nächte und drei Tage.
Dieser Zug fährt auch heute noch täglich, the Crescent, der 30 Stunden unterwegs ist. Ich bin damit schon mal nach Tuscaloosa, Alabama, gefahren, was wegen Überschwemmungen 8 oder 10 statt 6 Stunden dauerte. Es gibt auch noch den Sunset Limited von New Orleans nach Los Angeles über Texas, New Mexico und Arizona, der dreimal die Woche verkehrt und 48 Stunden unterwegs ist. Der berühmteste aber ist der City of New Orleans nach Chicago über Memphis, Tennessee. Er fährt täglich, die Fahrt dauert 19 Stunden, und es gibt mehrere Lieder gleichen Titels, eins davon in der Interpretation von Arlo Guthrie.
Die Eisenbahn, Amtrak, ist im Autofahrerland USA nicht besonders ausgebaut, sondern verkehrt nur auf großen, wichtigen Überlandstrecken oder auch als commuter trains, Pendlerzüge, in den Ballungsgebieten an der Ost- und Westküste. Dabei ist Eisenbahnfahren in den USA ein echtes Erlebnis: diese hohen, wuchtigen, schweren Wagen, in die man über ein Treppchen steigt, das einem der Schaffner bereitstellt, die Geräumigkeit und Stille und Kühle in den Waggons, und natürlich die wilden amerikanischen Landschaften, die man am besten aus dem Panoramawaggon gemächlich vorbeiziehen sieht, nix da mit unangenehmen ICE- oder gar TGV-Geschwindigkeiten.
Gerade heute habe ich gelesen, dass Amtrak bald „writer’s residencies“ an Bord einiger Züge anbieten wird, wo Schriftsteller umsonst über Land fahren dürfen und schreiben. (Hier.) Ich finde das eine tolle Idee. Und irgendwie denke ich mir, Eudora Welty hätte das auch gut gefunden.

Mittwoch, 5. Februar 2014

Depesche vom Ende der Welt


Liebe Leute, es geht mir gut.
Ich bin umgezogen und freiwillig wieder einmal zum Landei geworden. Die Waschmaschine funktioniert, mein Bett steht und mein Schreibtisch auch, und ansonsten lebe ich seit Tagen zwischen Kisten. Es ist wunderschön hier. Ich blicke auf olle Schuppen und mehrmals Getautes und wieder Gefrorenes und Matsch und braunes Gestrüpp. Aber auch schwarz-weiße Pferde und braune Ponys, ab und zu eine Katze, viele Vögel, Schwärme von vorüberziehenden, krähenden Kranichen, und nachts funkeln die Sterne... In der Nähe gibt es viel wilde Heide, die durch freilebende Rinder renaturiert werden soll. Überall ist das ausführlich auf Schildern erklärt und die Wege sind mit EU-finanzierten Steinskulpturen gesäumt. Am Montag habe ich mich im Hauptort angemeldet; bei der Frage nach einer Wartenummer belächelte man mich ein bisschen – ich war die einzige. Überhaupt ist alles entspannt und freundlich, und das nur 1 Kilometer von der Berliner Stadtgrenze.
Was das mit Louisiana zu tun hat? Fast nichts. Außer, als ich heute früh so am Schreibtisch saß und wartete, dass meine unendlich langsame Internetverbindung – langsamer als ein louisianischer Postschalterbeamter, falls das möglich ist – mir eine Seite aufmacht, da fühlte ich mich plötzlich in mein Holzhäuschen in Baton Rouge zurückversetzt. Dort saß ich an einem riesigen, laut rauschenden Computer, der auch so langsam war, und sah mit einem durch Fenster und Gazeveranda gefilterten Blick ins Grüne: Feigenbäumchen, Bananenstauden, Crepe Myrtles und ab und zu der Postbote oder ein UPS-Mensch, und viel viel Sonne. Rinder und Pferde gibt es nicht allzu viele in Louisiana, aber die dortige Ruhe und Gelassenheit hoffe ich hier im kühlen Klima wiederzufinden. Mit der Postbotin habe ich mich auch schon bekannt gemacht.
Aus New Orleans gibt es auch Neues: Mitch Landrieu ist im ersten Wahlgang mit 64% zum Bürgermeister wiedergewählt worden*, der frühere Bürgermeister, die vormalige Lichtgestalt Ray Nagin steht weiter wegen Korruptionsvorwürfen vor Gericht, das mit BP und anderen Katastrophen ist noch lange nicht ausgestanden. 
Übrigens, NPR funktioniert hier draußen mindestens so gut wie in der Stadt. Dort zuletzt gehört: In der Sendung Tell Me More mit Michelle Martin ein Interview mit Soundbites der Sängerin Leyla McCalla, die auch Banjo und Cello spielt. Auf ihrem, per Crowdfunding finanzierten, Solodebüt hat sie Gedichte von Langston Hughes vertont und spielt auch haitianische Lieder, die sie in New Orleans kennengelernt hat. Sehr schön. Zu lesen und hören hier
Auch vor kurzem auf NPR: On Point mit Tom Ashbrook sendete aus New Orleans zum Thema „American Coastlines“, mit dem Times-Picayune-Kolumnisten Jarvis DeBerry, der Professorin Denise Reed von UNO und dem Wissenschaftler Tommy Michot vom Institute for Coastal Ecology in Lafayette. Hier.
* In diesem Artikel mehr über seinen Herausforderer der letzten Minute, Michael Bagneris, der 33% der Stimmen erhielt und Landrieu aufforderte, mehr in traditionell afroamerikanische Viertel zu investieren und die Sicherheit aufzustocken. Er stellte eine Besucherzahl von jährlich 9-10 Millionen einer Zahl von 1.200 Sicherheitskräften gegenüber. 
Was hier anders ist: Direkt vor meinem Fenster geht ein Weg entlang, den immer wieder Spaziergänger und Radfahrer frequentieren. Die meisten beäugen neugierig unser Haus. Ich habe mich noch nicht getraut zu winken, aber ich gucke zurück und genieße den kleinen Laufsteg des Stinknormalen hier vor dem Fenster.

Montag, 20. Januar 2014

Tatwort. Die Übersetziade. -- Alle Einsendungen


Tatwort. Die Übersetziade
Am 29. November 2013 war unser erster Entscheid für Tatwort. Die Übersetziade, ein feines, warmes und fröhliches Fest des Übersetzens. Wir hatten elf Einsendungen erhalten. Zu übersetzen war ein Prosagedicht aus Donna Stoneciphers preisgekröntem Gedichtband The Cosmopolitan (Coffee House Press 2008, National Poetry Award). Donna Stonecipher hatte anonym den Gewinner des Autorinnenpreises ausgewählt und der Publikumspreis wurde nach Abstimmung vergeben.

Das Original:
Donna Stonecipher
Inlay 22 (Elfriede Jelinek, by way of Lenin)

1. In Cologne we bought cologne. In Morocco we bought morocco. In Kashmir we bought cashmere. Then, our suitcases stuffed, we flew back home to New York City, where we drank manhattan after manhattan until ill-advisedly late into the evening.

2. “I’m an anarchist,” said the poet. “You’re spoiled,” said his girlfriend. A line of people in masks paraded by. And then the lights dimmed, and the one true anarchist was suddenly spot-lit in the crowd: a little girl with an ice cream sandwich melting in her bag.

3. The beautiful people wanted to go only to places where there were other beautiful people, in cafés and restaurants and bars, and puffed nervously on their cigarettes when the number of ugly people shown to tables seemed to be reaching critical mass.
           
4. You like to be told what to do. You like to be shown to your plug and to glow in it like a nightlight. You like to be clued in, strapped on, knuckled under. You like to be held down and liquored up. You like to be scooped out, bowled over, seen through.
“Trust is fine, but control is better”
5. Forking over our dollars, we hatched a grand plan for the overlapping economy: Let the French take care of the perfumes; the Dutch of the tulips; and the Italians of the leather shoes. Each would be a department in the department store in the Great Mall.

6. She wrote, I want to be seen through. He wrote, But you are deliberately opaque. She wrote, I want people to want to work hard to see through my (really quite superficial) opacity. He wrote nothing back. She waited, but he wrote nothing back.

7. You like to go from room to room drowning yourself in dahlias. You like to stand in a crowd and implode and implode till all your individuality melts. You like to be underneath, on top, afloat. But it thrills you to hear your name in a stranger’s mouth.

8. Was it good or bad when the foreigner was said to be “more French than the French”? She of the huge hats and humble origins was “more bourgeois than the bourgeois.” And the cosmopolitan was more cosmopolitan than the cosmos itself.

9. We bought china in China. We bought tangerines in Tangier. You bought turquoise in Turkey, and I bought an afghan in Afghanistan. I bought india ink in India, and you bought an indiaman in India. But nowhere did we relinquish any little bit of ourselves.

Der Autorinnenpreis:

Lars-Arvid Brischke:              Einlage 22 (Elfriede Jelinek, ursprünglich von Lenin)

1. In Köln kauften wir Kölsch. In Marokko kauften wir Moloko. In Kashmir kauften wir Kasimir. Dann flogen wir mit vollgestopften Taschen zurück nach Hause nach New York und tranken bis der Doktor kam einen Manhattan nach dem anderen.
           
2. „Ich bin ein Anarchist“, sagte der Dichter. „Du bist verdorben“, sagte seine Dirne. Eine Reihe Maskierter paradierte vorbei. Dann dunkelte es und die einzige echte Anarchistin in der Menge stand plötzlich im Rampenlicht: Ein Dirndl mit einem schmelzenden Sandwich-Eis im Säckel.

3. Die Schönen wollten nur an Orte gehen wo es andere Schöne gab, in Cafes und Restaurants und Bars, und zogen nervös an ihren Zigaretten wenn die Zahl der Hässlichen, denen Tische gezeigt wurden, eine kritische Masse zu erreichen schien.            

4. Du magst es, wenn dir einer sagt wo’s langgeht. Du magst es, wenn dir einer deinen Stecker zeigt, in dem du glimmst wie ein Nachtlicht. Du willst im Bilde sein, angeschnallt, untergebuttert. Du magst dich  ausgebremst und schnapserfüllt. Willst ausgehöhlt sein, umgestoßen, durchschaut. 
                                                „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“
5. Wir hauten unsre Dollars auf den Kopf und schmiedeten den Plan für eine überlappende  Ökonomie: Sollen sich die Franzosen um Parfums, die Holländer um Tulpen und die Italiener um schicke Lederschuhe kümmern. Jeder wäre eine Ware eines Warenhauses in der großen Einkaufszone.

6. Sie schrieb, ich will durchschaut werden. Er schrieb, du bist absichtlich undurchsichtig. Sie schrieb, ich möchte, dass Leute sich bemühen mögen, bei meiner (eigentlich echt nur oberflächlichen) Undurchsichtigkeit durchzublicken. Er antwortete nichts. Sie wartete, doch er antwortete nichts.

7. Du gehst so gern von Raum zu Raum, ertränkst dich in Dahlien. Du stehst gern in der Menge, brichst zusammen, brichst zusammen bis dein ganzes Wesen schmilzt. Du bist gern unter uns, obenauf, im Fluss. Doch es erregt dich, deinen Namen aus fremdem Mund zu hören.

8. War es gut oder schlecht, den Ausländer „französischer als einen Franzosen“ zu nennen? Sie mit ihren großen Hüten und ihren bescheidenen Wurzeln war „spießiger als die Spießer“. Und der Kosmopolit war kosmopolitischer als der Kosmos.

9. Wir kauften Kobaltblau in China. Wir kauften Orange in Tanger. Du kauftest Türkis in der Türkei und ich kaufte einen Affen in Afghanistan. Ich kaufte Indigo in Indien und du kauftest ein Individuum in Indien. Aber nirgends gaben wir auch nur das Mindeste von uns preis.

Der Publikumspreis:

Sven Scheer: nach Donna Stonecipher (entschuldige)
Durchschuss 22 (Elfriede Jelinek mit Lenin im Beiwagen)

1. In Gouda kauften wir Gouda. In Roquefort kauften wir Roquefort. In Cheddar kauften wir Cheddar. Dann, der Koffer miefend, ging’s heim nach Pilsen, wo wir Pilsener auf Pilsener tranken, bis sich der Sternenhimmel vor unseren Augen drehte.

2. „Ich bin ein Spießer“, sagte der Dichter. „Bild dir bloß nichts ein“, sagte seine Freundin. Eine Polonaise der Masken zog vorüber. Die Lichter verloschen, und die Aura des Dichters spießte ein unschuldiges kleines Mädchen auf. Unschuldig? Aus ihrer Tasche tropfte Eiscreme.

3. Die Schönen sagten: O Herr, lass strahlend Schöne neben mir sein. Überall, im Café, im Restaurant und in der Bar. Nervös aßen sie ihre Zigaretten auf, als mehr und mehr Hässliche neben ihnen Platz nahmen. Die Apokalypse nahte.
           
4. Du willst ständigen Empfang. Du willst in die Steckdose gesteckt werden und wie ein Smartphone leuchten. Du willst chatten, whats-appen, twittern. Du willst eins aufs Maul und abgefüllt werden. Du willst, dass deine Festplatte ausgebaut, gelöscht, re-booted wird.
„Vertrauen gut und schön, Kontrolle besser und schöner.“
5. Wir packten die Euro auf den Tresen und erklärten der Wirtschaft dahinter unseren Masterplan: Erst mal ein Jever aus Jever, dann eine Berliner Bulette, zum Schluss einen kurzen Klaren aus Nordhausen. Und das alles, ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen.

6. Sie schrieb: Vertrau mir nicht. Er schrieb: Das hatte ich auch nicht vor. Sie schrieb: Du spinnst wohl, vertrau mir jetzt sofort. Er schrieb nicht mehr. Es klopfte, und sie erschrak, als ein Lichtstrahl durch den Türspalt drang.

7. Noch bevor er dich erreicht, ertrinkt er im Dahlienmeer deines Zimmers. Du stiefelst auf ihm herum, bis er ein einziger Brei ist, Persönlichkeit und alles. Du hast die volle Kontrolle und beseitigst alle Spuren, bis nichts mehr übrig ist als dein Name auf seinem Mund.

8. War es gut oder schlecht, als man von dem Fremden sagte, er sei angeschickerterer als die Schickeria? Und sie aus der Bettenburg, sie mit den Zahnkronen, blauer als jedes Blaublut, rief: Der Cosmopolitan hier ist der beste der Milchstraße!

9. Wir kauften eine blaue Briefmarke in Mauritius. Wir kauften Indianer in Amerika. Du kauftest eine Wiener in Frankfurt, und ich kaufte eine Frankfurter in Wien. Dazu Dijon du weißt schon woher. Und trotz allem blieb es dabei: Mia san mia, alles andere ist Käse.

Die übrigen Übersetzungen in der Reihenfolge des Einsendedatums:

Thies Thiessen:   Einlegearbeit 22 (Elfriede Jelinek, über Lenin)

 1. In Köln kauften wir Echt Kölnisch. In Marokko maroquinisch. In Kaschmir Kaschmir. Dann waren die Koffer voll und wir flogen heim, nach New York City, Manhattan. Mann, hätten wir das bloß nicht bis in den Abend getrunken, uns war übel.

2. „Ich bin ein Anarchist“ sagte der  Dichter. “Du bist verzogen” sagte seine Freundin. Hintereinanderweg paradierten Menschen in Masken vorbei. Es wurde dunkel, und auf einmal erstrahlte der einzig echte Anarchist in der Menge: ein kleines Mädchen mit einer Eiscremewaffel, die in seiner Tasche schmolz. 

3. Die Schönen wollten nur dahin, wo auch andere Schöne waren, in Cafés und Restaurants und Bars, und sie zogen nervöser an ihren Zigaretten, sobald die sichtbar Hässlichen bedrohlich mehr wurden und die kritische Masse zu erreichen schienen.
           
4. Du magst, dass man Dir sagt, was du tun sollst. Du möchtest gefasst sein, in deiner Fassung still glimmen wie ein Nachtlicht. Du magst, wenn man dich hinweist, festmacht, beugt. Du möchtest runtergehalten werden und saufgebaut. Leergelöffelt, überschüsselt, durchgesichtet, das willst Du sein.
“Vertrauen ist gut. Kontrolle ist besser.”
5. Wir gaben unsere Dollars aus und brüteten einen Plan aus für eine allumfassende Wirtschaft: Lasst die Franzosen sich ums Parfum kümmern,  die Holländer um die Tulpen und die Italiener um die Lederschuhe. Für jeden eine Abteilung im Angebot des Großen Warenhauses.
 
6. Sie schrieb: „Ich möchte durchsichtig werden“. Er schrieb: „Aber du bist nun einmal undurchschaubar“. Sie  schrieb: „Die Menschen sollen sich bemühen, dass sie meine (wirklich oberflächige) Oberfläche durchschauen. Er schrieb nichts. Sie wartete, aber er schrieb nichts.

7. Du möchtest von Raum zu Raum gehen, dich in Dahlien versenken, ertränken. Du möchtest in der Menge stehen und implodieren, implodieren, bis alles was du bist, dahinschmilzt. Du möchtest drunter sein und drüber, schwimmen. Aber es erregt dich, deinen Namen zu hören aus eines Unbekannten Mund. 

8. War das gut oder schlecht, als es hieß, der Fremde wäre „französischer als die Franzosen“? Die mit den übergroßen Hüten und der niedrigen Herkunft „spießiger als jeder Spießer?“  Und der in aller Welt Gewandte weltgewandter als die Welt? 

9. In China kauften wir Chinoiserien.  Perser kauften wir in Persien. Du kauftest Türkise in der Türkei, und ich einen Afghanen in Afghanistan. Ich kaufte Indigo in Indien,  und du als Indienfahrer einen Indienfahrer. Aber nirgends haben wir gaben wir von uns auch nur das kleinste bisschen preis.

Alexander Zuckschwerdt:  Intarsie 22 (Lenin, über Elfriede Jelinek)

1. In Köln haben wir Kölnischwasser gekauft. In Marokko haben wir Maroquin gekauft. In Kaschmir haben wir Kaschmir gekauft. Dann, mit vollbeladenen Koffern, sind wir nach New York zurückgeflogen, wo wir bis unvernünftig spät Manhattan um Manhattan tranken.

2. „Ich bin ein Anarchist“, sagte der Dichter. „Du bist verzogen“, sagte seine Freundin. Eine Reihe Menschen in Masken marschierte vorbei. Und dann wurden die Lampen gedimmt, und das Rampenlicht fiel plötzlich auf den wahren Anarchisten in der Menge: ein kleines Mädchen, in dessen Täschchen ein Waffeleis dahinschmolz.

3. Die Schönen wollten nur dort hingehen, wo auch andere Schöne waren, in Cafés und Restaurants und Bars, und zogen nervös an ihren Zigaretten, als die Zahl der Hässlichen, die man an den umstehenden Tischen platzierte, eine kritische Höhe zu erreichen schien.

4. Du magst es, wenn man dir sagt, was du zu tun hast. Du magst es, wenn man dich an deine Dose führt, wo du dann glimmen kannst wie ein Nachtlicht. Du magst es, aufgeklärt, angebunden, unterworfen zu werden. Du magst es, niedergehalten und abgefüllt zu werden. Du magst es, ausgenommen, umgehauen, durchschaut zu werden.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“

5. Wir klaubten unser Geld zusammen und heckten einen grandiosen Plan für die übergreifende Wirtschaft aus: Lasst die Franzosen sich um die Duftwässer kümmern, die Holländer um die Tulpen und die Italiener um die Lederschuhe. Jeder wäre eine Abteilung innerhalb des großen Konsumtempels.

6. Sie schrieb: Ich will durchschaut werden. Er schrieb: Aber du bist so verschlossen. Sie schrieb: Ich will, dass die Menschen etwas dafür tun wollen, meine (wirklich nur oberflächliche) Verschlossenheit zu durchschauen. Er schrieb nichts zurück. Sie wartete, doch er schrieb nichts zurück.

7. Du magst es, von Raum zu Raum zu gehen, in Dahlien zu versinken. Du magst es, in einer Menge zu stehen und zu implodieren und zu implodieren, bis deine gesamte Individualität zusammenschmilzt. Du magst es, untendrunter, obenauf, über Wasser zu sein. Aber du liebst es, deinen Namen aus dem Munde eines Fremden zu hören.

8. War es gut oder schlecht, wenn man von dem Ausländer sagte, er sei „französischer als ein Franzose“? Die mit den großen Hüten und dem bescheidenen Hintergrund war „großbürgerlicher als ein Großbürger“. Und der Kosmopolit war kosmopolitischer als der Kosmos selbst.

9. Wir haben Chili in Chile gekauft. Wir haben einen USB-Stick in Usbekistan gekauft. Du hast Türkis in der Türkei gekauft, und ich habe ein Mosaik in Mosambik gekauft. Ich habe Tsatsiki in Tadschikistan gekauft, und du hast Maronen in Marokko gekauft. Aber nirgends haben wir auch nur ein winziges Stück von uns gelassen.

Karen Braun:                        Intarsie 22 (Elfriede Jelinek, unter Zuhilfenahme von Lenin)

1. In Köln erwarben wir Duftwasser. In Marokko genarbtes Leder. In Kaschmir die zarteste Wolle der Ziegen. Mit berstenden Koffern flogen wir hinterher heim nach New York, tranken dort massenweise Manhattans, unbesonnen, bis tief in die Nacht.
2. „Ich bin Anarchist“, sprach der Dichter. „Du bist ein verzogener Fratz“, sagte seine Freundin. Dann schritt bei gedämpfter Beleuchtung ein Aufzug von Masken vorbei; ein Scheinwerfer holte aus der Menge die einzige echte Gesetzlose ans Licht: ein kleines Mädchen, dem im Rucksack das Eis aus der Waffel schmolz.
3. Die strahlend Schönen strebten stets nur an Orte, wo ihresgleichen sich aufhielt, in Cafés, Restaurants und Bars. Voller Unmut zogen sie an ihren Zigaretten, sobald die Anzahl der Hässlichen das ihnen genehme Maß zu übersteigen drohte.
4. Du liebst Handlungsanweisungen. Du möchtest die Hand spüren, die den Stecker in die Dose schiebt, die Tischlampe sein, das dann leuchtet. Du wirst gerne eingeführt, vorgeführt, abgeführt. Niedergehalten, hochgeputscht. Erschöpft, überwältigt, durchschaut.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“
5. Beim Bezahlen schmiedeten wir den ultimativen Plan für eine übergreifende Ökonomie: Sollen sich die Franzosen um die Düfte kümmern, die Holländer um die Tulpen und die Italiener um die ledernen Schuhe. Für jeden eine Abteilung im großen Kaufhaus des Westens.
6. Sie schrieb: Ich möchte durchschaut werden. Er schrieb: Du bist aber aus Milchglas, absichtlich. Sie schrieb: Ich will, dass man sich Mühe gibt mit meiner Undurchsichtigkeit. Die ist doch bloß im Vordergrund. Er antwortete nicht. Sie wartete, aber er schrieb nicht zurück.
7. Gern gehst du von Zimmer zu Zimmer, ertränkst dich in Dahlien. Stehst inmitten von Menschen, zerbirst und zerspringst in dir, bis alles zerfließt, was dich ausmacht. Bist mit Vorliebe drunter und drüber, im Oberwasser. Doch erregt dich der Klang deines Namens im Mund eines Fremden.
8. War es gut oder schlecht, als man den Ausländer einen „besseren Deutschen“ hieß? Die Dame mit Tellerhut, niedriger Herkunft, war „edler als alle von Adel“. Und der Weltbürger in mehr Welten daheim als das Weltall selbst.
9. Wir kauften Chinarinde in China. Granatäpfel in Granada. Du Türkise in der Türkei, ich einen Perserteppich in Persien. In Indien erstand ich die typische Tusche, du besorgtest das Schiff für die Heimfahrt. An keinem Ort allerdings gaben wir auch nur einen Hauch von uns selbst preis.


Marion Oechsler: Zwischenspiel 22 (Lenin, entdeckt bei Elfriede Jelinek)

1. In Köln kauften wir Kölnisch Wasser. In Marokko kauften wir Maroquin. In Kaschmir kauften wir Kaschmir. Und als unsere Koffer schließlich vollgestopft waren, flogen wir zurück nach New York City, wo wir einen Manhattan nach dem anderen tranken, bis alles zu spät war.

2. „Ich bin Anarchist“, sagte der Dichter. „Du bist verwöhnt“, sagte seine Freundin. Eine Parade von Menschen in Masken zog vorüber. Dann wurden die Lichter gedimmt, und die eine wahre Anarchistin stach plötzlich hell erleuchtet aus der Menge hervor: ein kleines Mädchen mit einem Eis, das in ihrer Tüte vor sich hin schmolz.

3. Die schönen Menschen wollten sich nur an Orten aufhalten, an denen auch andere schöne Menschen waren, in Cafés, Restaurants und Bars. Nervös zogen sie an ihren Zigaretten, sobald sich die Zahl der hässlichen Menschen, die an ihre Tische gewiesen wurden, zu einem Mob auszuwachsen drohte.

4. Du hast es gern, wenn man dir sagt, was du zu tun hast. Wenn man dir zeigt, wo du dich einstöpseln kannst, um wie ein Nachtlämpchen in seiner Steckdose zu glühen. Du lässt dich gern einweihen, aufbuckeln, unterbuttern. Du magst es, dich überrennen und volllaufen zu lassen. Es gefällt dir, wenn du ausgekratzt, umgehauen, durchschaut wirst.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“
5. Während wir unwillig unsere Scheine rausrückten, brüteten wir einen Masterplan für die übergreifende Wirtschaft aus: Sollten sich die Franzosen doch um die Parfums kümmern, die Holländer um die Tulpen und die Italiener um die Lederschuhe. Sie würden dann jeweils einen Verkaufsraum im Kaufhaus im Großen Einkaufszentrum bekommen.

6. Sie schrieb Ich will durchschaut werden. Er schrieb Aber du bist doch absichtlich undurchsichtig. Sie schrieb Ich will, dass die Leute sich anstrengen wollen, meine (zugegebenermaßen ziemlich oberflächliche) Undurchsichtigkeit zu durchschauen. Darauf schrieb er nichts zurück. Sie wartete, aber er schrieb nichts zurück.

7. Es gefällt dir, von einem Zimmer ins nächste zu gehen und dabei in Dahlien zu ertrinken. Du magst es, in einer Menschenmenge zu stehen und zu implodieren, immer weiter, bis der letzte Funke deiner Individualität erlischt. Du bewegst dich gern unterhalb, obenauf, mit dem Strom. Aber du bist hin und weg, wenn du deinen Namen aus dem Mund eines Fremden hörst.

8. War es gut oder schlecht, als sie von dem Ausländer meinten, er sei „französischer als die Franzosen“? Sie mit den riesigen Hüten und ihrer niederen Herkunft war „bürgerlicher als alles Bürgerliche“. Und der Kosmopolit war kosmopolitischer als der Kosmos selbst.

9. Wir kauften Chinos in China. Wir kauften Seetang in Tanger. Du kauftest Türkis in der Türkei, ich kaufte einen Afghanen in Afghanistan. Ich kaufte Indigo in Indien, du kauftest einen Indienfahrer in Indien. Aber nirgends haben wir auch nur einen winzigen Bruchteil unserer selbst abgetreten.

Dusty-Anne Rhodes und Agnes Bethke:  Intarsie 22 (Elfriede Jelinek nach Lenin)

1. In Panama kauften wir Panamas. In Norwegen kauften wir Norweger. In Kaschmir kauften wir Kaschmir.
Mit vollgestopften Koffern flogen wir dann nachhause, zurück nach New York City, wo wir Manhattan auf Manhattan tranken bis unvernünftig spät in die Nacht.

2.  „Ich bin Anarchist“, sagte der Dichter. „Du bist verwöhnt“, sagte seine Freundin. Eine Reihe von Menschen in Masken zog vorbei. Und dann wurden die Lichter gedimmt, und der eine wahre Anarchist wurde plötzlich in der Menge angestrahlt: ein kleines Mädchen mit einem Sandwich-Eis, das in seiner Tasche schmolz.

3. Die schönen Leute wollten nur an Orte gehen, wo andere schöne Leute waren, in Cafés und Restaurants und Bars, und sie zogen nervös an ihren Zigaretten, wenn die Anzahl hässlicher Leute, die an Tische geführt wurden, eine kritische Masse zu erreichen schien.

4. Du magst, wenn man Dir sagt, was Du tun sollst. Du magst, wenn man dich zu deiner Steckdose führt und darin zu glimmen wie ein Schlummerlicht.
Du magst, ins Bild gesetzt, unterworfen zu werden. Du magst, festgehalten und abgefüllt zu werden. Du magst, ausgehöhlt, umgehauen und durchschaut zu werden.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“
5. Während wir unsere Dollars hinblätterten, heckten wir einen grandiosen Plan für die eng verzahnte Wirtschaft aus: Lass die Franzosen sich ums Parfum kümmern, die Holländer um Tulpen, und die Italiener um Lederschuhe. Jeder wäre eine eigene Abteilung im Kaufhaus in der großen Shopping Mall der Welt.

6. Sie schrieb, Ich will durchschaut werden. Er schrieb, Aber du bist gewollt undurchsichtig.
Sie schrieb, Ich will, dass Menschen sich richtig anstrengen wollen,  durch meine (doch recht oberflächliche) Undurchdringlichkeit hindurchzuschauen. Er schrieb nichts zurück. Sie wartete, aber er schrieb nichts zurück.

7. Du magst es, von Raum zu Raum zu gehen und in Edelpelargonien zu ertrinken. Du magst, in einer Menschenmenge zu stehen und zu implodieren und zu implodieren, bis all Deine Einzigartigkeit schmilzt. Du magst es unten drunter, obenauf, im Wasser treibend. Aber es gibt Dir einen Kick, wenn du deinen Namen aus dem Mund eines Fremden hörst.

8. War es gut oder schlecht, als vom Ausländer gesagt wurde, er sei „französischer als die Franzosen“? Sie mit den großen Hüten und den bescheidenen Anfängen war „spießiger als die Spießbürger“. Und der Kosmopolit war kosmopolitischer als der Kosmos selbst.

9. Wir kauften Chinin in ChinaWir kauften Tabak in Tobago. Du kauftest Türkise in der Türkei und ich kaufte einen Perser in Persien. Ich kaufte arabische Gewürze und Du kauftest einen Araber. Aber nirgendwo gaben wir auch nur ein bisschen von uns selbst preis.

Michael Karjalainen-Dräger:  Inlay twenty-two (Elfriede Jelinek via Lenin)

1. In Köln kauften wir Kölnischwasser. In Kaschmir kauften wir Kaschmir. Dann flogen wir mit vollgestopften Koffern heim nach New York City, wo wir einen Manhattan nach dem anderen soffen bis idiotisch lang in die Nacht hinein.

2. „Ich bin ein Anarchist“, sagte der Dichter. „Du bist verdorben“, sagte seine Freundin. Eine Reihe maskierten Volks marschierte vorbei. Und dann wurden die Lichter gedimmt, und die Scheinwerfer fielen auf den einzig wahren Anarchisten im Gedränge: ein kleines Mädchen mit einem Eiscreme-Sandwich, das in ihrer Tasche schmolz.

3. Die Schönen wollten ausschließlich an Orten sein, wo andere Schöne waren, in Cafés und Restaurants und Bars; sie pafften nervös ihre Zigaretten während die Zahl der Hässlichen, die an die Tische geführt wurden, die kritische Masse zu erreichen schien.

4. Du liebst es, wenn man dir sagt, wo’s langgeht. Du liebst es, wenn man deinen Zündschlüssel dreht und dich zum Vorglühen bringt. Du liebst es, wenn man dir Anweisungen gibt, wenn du festgeschnallt wirst und kuschen musst. Du liebst es, wenn man dich klein hält und dir einschenkt. Du liebst es, wenn man dich schlaucht, wenn du sprachlos bist und wenn du durchschaut wirst.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“
 5. Während wir unser Geld beim Fenster hinaus warfen, brüteten wir  einen großartigen Plan für die überbordende Wirtschaft aus: die Franzosen sollen sich um die Parfums kümmern; die Niederländer um die Tulpen; und die Italiener um die Lederschuhe. Für jeden ein Laden an der Great Mall.

6. Sie schrieb, sie wolle durchschaut werden. Er schrieb, sie würde sich mit voller Absicht undurchschaubar geben. Sie schrieb, sie wolle, dass sich Menschen anstrengten, um ihre (wirklich total oberflächliche) Undurchschaubarkeit zu durchschauen. Er schrieb nicht zurück. Sie wartete, er aber schrieb nicht zurück.

7. Du liebst es, wenn du von Raum zu Raum gehst, dich im Duft von Dahlien ertränkst. Du liebst es, wenn du  in der Menge stehst und implodierst und implodierst bis deine ganze Individualität ausgelöscht ist. Du liebst es, wenn du unten-drunter, über-drüber, obenauf bist. Aber es erregt dich, wenn ein Unbekannter auf seinen Lippen deinen Namen trägt.

8. Ist es gut oder schlecht, wenn von Fremden gesagt wird, dass sie „französischer als die Franzosen“ wären? Sie war, mit ihren gigantischen Hüten und ihrer niedrigen Abstammung „bürgerlicher als die Bürger“. Und der Weltbürger war weltbürgerlicher als die Welt selbst.

9. Wir kauften China-Porzellan in China. Wir kauften Tangerinen in Tanger. Du kauftest Türkis in der Türkei und ich kaufte eine Afghan-Decke in Afghanistan. Ich kaufte indische Tinte in Indien, und du kauftest dort einen Indienfahrer. Aber nirgendwo gaben wir auch nur ein kleines bisschen von uns selbst preis.

Jan Imgrund:   Intarsie 22 (Elfriede Jelinek, ursprünglich Lenin)
1. In Köln kauften wir Kölnisch Wasser. In Shiraz kauften wir Shiraz. In Kaschmir kauften wir Kaschmir. Dann flogen wir mit Übergepäck heim nach New York City, und dort tranken wir einen Manhattan nach dem anderen, bis tief in die Nacht.
2. „Ich bin Anarchist“, sagte der Dichter. „Du bist verwöhnt“, sagte seine Freundin. Maskierte Menschen zogen vorbei. Dann dimmte das Licht herunter, und plötzlich richtete sich ein Scheinwerfer auf den einzigen echten Anarchisten in der Menge: es war ein kleines Mädchen, und in ihrer Tasche schmolz ein Eiskonfekt.
3. Die Beautiful People wollten nur in Locations gehen, wo andere Beautiful People waren, Cafés und Restaurants und Bars, und zogen nervös an ihren Zigaretten, wenn der Anteil Ugly People, die man zu ihren Tischen geleitete, eine kritische Masse zu erreichen schien.
4. Dir gefällt, wenn man dir sagt, was du tun sollst. Du gefällt es, wenn man dich zu deinem  Stecker führt, dass du in ihm glühen kannst wie ein Lämpchen. Dir gefällt es, betippt, angeschnallt, unterjocht zu sein. Dir gefällt es, niedergedrückt und eingeflößt zu sein. Dir gefällt es, abgeschöpft, überwältigt, durchschaut zu sein.
„Vertrauen ist gut, aber Kontrolle ist besser.“
5. Unsere Dollars rüberschiebend heckten wir einen Plan für die übergreifende Wirtschaft aus: Die Franzosen kümmern sich um Parfum, die Holländer um die Tulpen, und die Italiener um  die Lederschuhe. Jeder hätte seinen Platz in einer Abteilung im Großen Kaufhaus.
6. Sie schrieb: Ich will durchschaut werden. Er schrieb: aber du bist mit Absicht opak. Sie schrieb: ich möchte, dass die Leute durch meine (eigentlich recht oberflächliche) Undurchsichtigkeit hindurchsehen. Er schrieb nichts zurück. Sie wartete, aber er schrieb nichts zurück.
7. Dir gefällt es, Zimmer über Zimmer zu durchschreiten, in Dahlien ertrinkend. Dir gefällt es,  in einer Menschenmenge zu stehen und zu implodieren und zu implodieren, bis all deine Individualität schmilzt. Dir gefällt es, zuunterst zu sein, zuoberst, zu schwimmen. Aber du bist aufgeregt, wenn ein Fremder deinen Namen in den Mund nimmt.
8. War es gut oder schlecht wenn es hieß, der Ausländer sei „französischer als die Franzosen“? Die Dame aus bescheidenen Verhältnissen, mit den riesigen Hüten, war „bürgerlicher als die Bourgeoisie“. Und der Kosmopolit war kosmopolitischer als der gesamte Kosmos.
9. Wir kauften Hamburger in Hamburg. Wir kauften Mandarinen in der Mandschurei. Du kauftest Türkise in der Türkei, und ich kaufte einen Afghanen in Afghanistan. Ich kaufte ein Englischhorn in England, und du kauftest einen Engländerschlüssel in England. Aber wir gaben nirgends auch nur das kleinste Stück von uns preis.
Martina Tichy:  Donna Stonecipher // Inlay 22 (Elfriede Jelinek, by way of Lenin)

1. In Köln kauften wir Kölnisch Wasser. In Muskat kauften wir Muskat. In Kaschmir kauften wir Kaschmir. Mit randvollen Koffern flogen wir zurück nach New York, wo wir bis unklug spät in die Nacht Manhattan um Manhattan tranken.

2. „Ich bin ein Anarchist“, sagte der Dichter. „Du bist verhätschelt“, sagte seine Freundin. Maskierte zogen im Gänsemarsch vorbei. Dann erloschen die Lichter, und ein Spot zeigte auf die einzig wahre Anarchistin in der Menge: ein kleines Mädchen mit einem dahinschmelzenden Eiscremesandwich in der Tasche.

3. Die Schönen wollten immer nur dorthin, wo noch andere Schöne waren, in Cafés, Restaurants und Bars, und pafften nervös an ihren Zigaretten, wenn die Anzahl der Hässlichen, denen Plätze angewiesen wurden, eine kritische Masse zu erreichen schien.

4. Du lässt dir gern sagen, was du tun sollst. Du lässt dir gern deine Steckdose zuweisen und erglühst darin wie ein Nachtlicht. Du lässt dich gern einweisen, anbinden, unterbuttern. Du lässt dich gern niederhalten und abfüllen. Du lässt dich gern ausschaufeln, umkegeln, durchschauen.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“
5. Wir brachten unsere Dollars unters Volk und brüteten einen grandiosen Plan für die überlappende Wirtschaft aus: Die Franzosen kümmern sich um die Parfüms, die Holländer um die Tulpen und die Italiener um die Lederschuhe. Ein jedes hätte eine Abteilung im Kaufhaus im Großen Einkaufszentrum.

6. Sie schrieb: Ich will durchschaut werden. Er schrieb: Aber du bist doch mit Absicht undurchsichtig. Sie schrieb: Ich will, dass die Leute hart daran arbeiten wollen, meine (nun wirklich reichlich oberflächliche) Undurchsichtigkeit zu durchschauen. Er schrieb nichts zurück. Sie wartete, aber er schrieb nichts zurück.

7. Du gehst gern von Raum zu Raum und ertränkst dich in Dahlien. Du stehst gern in einer Menschenmenge und zerspringst innerlich, bis sich alles auflöst, was dich ausmacht. Du bist gern drunter, drüber, in der Schwebe. Aber du findest es aufregend, wenn ein Fremder dich beim Namen nennt.

8. War es gut oder schlecht, dass es von dem Ausländer hieß, er sei „französischer als die Franzosen“? Die mit den riesigen Hüten und der niederen Herkunft war „gutbürgerlicher als die Gutbürgerlichen.“ Und der Kosmopolit war kosmopolitischer als der Kosmos selbst.

9. Wir kauften Persianer in Persien. Wir kauften Jersey auf Jersey. Du kauftest Türkise in der Türkei, und ich kaufte Sardinen auf Sardinien. Ich kaufte Indigo in Indien, und du kauftest einen Indienfahrer in Indien. Doch nirgendwo gaben wir auch nur das kleinste bisschen von uns preis.

Jenny Merling:    Inlay 22 (Elfriede Jelinek, by way of Lenin)
1. In Köln haben wir uns Kölnisch Wasser gekauft. In Marokko Marokkoleder. In Kaschmir Kaschmirwolle. Dann sind wir mit unseren vollen Koffern zurück nach New York geflogen, haben dort einen Manhattan nach dem anderen getrunken und sind unvernünftig lange aufgeblieben.
2. „Ich bin Anarchist“, sagte der Künstler. „Du bist bloß verwöhnt“, meinte seine Freundin. Menschen mit Masken zogen in einer langen Prozession vorbei. Dann wurde es schummerig im Raum. Und plötzlich leuchtete die einzig wahre Anarchistin inmitten der Menge auf wie von einem Scheinwerfer angestrahlt: ein kleines Mädchen mit einem geschmolzenen Eis am Stiel in der Tasche.
3. Wunderschöne Menschen wollen nur in Cafés und Restaurants und Kneipen sitzen, wo auch alle anderen Menschen wunderschön sind. Fast panisch ziehen sie an ihren Zigaretten, sobald für ihren Geschmack zu viele hässliche Leute an ihnen vorbei zu ihren Tischen geführt werden.

4. Du willst, dass man dir vorschreibt, was du tun sollst. Du willst eine Steckdose zugewiesen bekommen, in die du dich einstöpseln und dann leuchten kannst wie ein Nachtlicht. Du willst wissen, was von dir erwartet wird, willst, dass man dich festschnallt, dich an der kurzen Leine hält. Du willst, dass man dich gegen deinen Willen betrunken macht. Du willst, dass man dich aushöhlt, dich durcheinander kegelt, dich durchschaut.
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.”
5. Während wir noch widerwillig für die Fehler der anderen zahlten, hatten wir bereits große Pläne, wie die Wirtschaft zu retten sei: Die Franzosen kennen sich mit Parfum aus, die Holländer haben ihre Tulpen, die Italiener ihre Designerschuhe – also bekommt jede Nation einen eigenen Laden in unserem neuen Einkaufszentrum, das so groß sein wird, dass man es vom Mond aus sehen kann.
6. Sie schrieb: Ich will, dass man mich durchschaut. Er schrieb zurück: Wieso machst du dann immer einen auf undurchschaubar? Sie schrieb: Ich will, dass sich jemand die Mühe macht, meine Undurchschaubarkeit (die ziemlich oberflächlich ist, wenn wir mal ehrlich sind) zu durchschauen. Er schrieb darauf nichts zurück. Sie wartete, aber er schrieb nichts mehr.
7. Du wanderst gern durch die Zimmer und ertrinkst dabei in Dahlien. Du stehst gern in der Menge und zerbrichst, zerbrichst in immer kleinere Teile, bis alles, was dich ausmacht, fort ist. Du gehst den Sachen gern auf den Grund, bist gern oben auf, lässt dich auch gern treiben. Und trotzdem hast du immer noch dieses Kribbeln im Bauch, wenn jemand Fremdes deinen Namen sagt.
8. War das ein Kompliment oder eher ein Vorwurf, als jemand über den Ausländer meinte, er sei „französischer als ein Franzose“? Die Dame aus einfachen Verhältnissen, die mit den großen Hüten, sei „bourgeoiser als bourgeois“? Und der Kosmopolit kosmopolitischer als der Kosmos selbst?
9. Aus China haben wir uns chinesisches Porzellan mitgebracht. Aus der Champagne Champagner. In der Türkei hast du dir türkischen Honig gekauft und ich mir in Afghanistan Schwarzen Afghanen. Aus Indien habe ich Indisch-Blau mit nach Hause gebracht, und du dir einen Ostindienfahrer. Aber im Gegenzug auch von uns selbst etwas dagelassen haben wir nirgendwo.