Im deutschen Feuilleton wird John Jeremiah Sullivan als neuer amerikanischer Starautor gefeiert. Dabei ist Pulphead erst sein zweites Buch und sein erstes, Blood Horses. Notes of a Sportswriter’s Son, war zwar auch in
den USA ein Erfolg, ist aber auf Deutsch noch nicht erschienen. Sullivans Texte
entstammen Magazinen wie dem Gentlemen Quarterly, Harper’s und dem Oxford
American und sind für den Band noch einmal intensiv überarbeitet worden. Besonders in ihrem Zusammenwirken eröffnen die Essays dem deutschen Leser ein interessantes,
unbekanntes, komplexes Panorama amerikanischer Kultur.
Der Autor schreibt gewissermaßen vom Rande her, nicht von den geografischen Rändern, der
Ost- und der Westküste, die das eigentliche Zentrum der USA darstellen,
sondern vom Inland, aus der Provinz, tief aus dem Herzen Amerikas, aus dem alten Süden. Sullivan ist in dem Dreieck
von Indiana (na gut, Mittelwesten), Kentucky und Tennessee aufgewachsen, wo er
an der University of the South in Sewanee studierte. Jetzt lebt er in
Wilmington, North Carolina, und somit doch an der Küste. Wenn man von New Orleans aus guckt, ist das mit dem Süden natürlich so eine
Sache, denn zwar gehört Kentucky, woher die alteingesessene, verzweigte, tief verwurzelte Familie Sullivans seit langer Zeit stammt, historisch und politisch auch zum
Süden, aber es ist sozusagen geografisch gesehen der Norden des Südens, mit
einer Ehrwürdigkeit und Traditionalität, die in Südlouisiana immer mit
Fluidität und Hybridität, dem Kreolischen also, einhergeht.
Sullivans Texte sind eine Mischung aus Reportage, Essay und
Artikel, versetzt mit autobiografischem Erleben. Das „Ich“-Sagen trauten sich Autoren hierzulande nicht, habe ich in einer Kritik gelesen. Aber
vielmehr verarbeitet er doch das Persönliche kunstvoll und mit einem gewissen
Lehrmodus zu einer größeren Aussage (statt beispielsweise
fiktional) und das ist das Besondere, denn „Ich“ sagen auch unzählige deutsche Zeitgeist-Kolumnen. Die Themenwahl ist ungewöhnlich: Popmusik,
Naturgeschichte, Fernsehen, Literatur... und alle werden mit demselben geschliffenen Stil beschrieben, der Beitrag über
den letzten der Wailers ebenso wie der über den Naturforscher Rafinesque aus
dem 19. Jahrhundert.
Als Übersetzerin habe ich das Deutsche natürlich besonders
aufmerksam gelesen und meine seitenlangen Notizen in eine knappe
Übersetzungskritik (meine Kolumne Botschaft aus Babel) für die Ausgabe 2/2012
der Zeitschrift Bücher kondensiert, aber einiges will ich hier noch ergänzen. Sullivans
Essays basieren auf persönlichem Erleben und auf Recherche, und somit einer
sinnlichen Anschaulichkeit, die dem Übersetzer natürlich fehlt, der
üblicherweise auch nicht mit dem spezifischen Erfahrungsgemenge aus
Christlichem Rock, Botanik, Fernsehserien usw. ausgestattet ist. Deshalb waren
am Deutschen vielleicht so viele beteiligt: Übersetzt haben Thomas Pletzinger
und Kirsten Riesselmann unter teilweiser Mitarbeit von Tobias Schnettler;
lektoriert haben Heinrich Geiselberger und Karsten Kredel. Die Übersetzung ist
gut, hat tolle Lösungen gefunden (von denen ich einige in dem Bücher-Artikel nenne), und ich habe so einiges gelernt.
Und doch scheint sich die deutsche Ausgabe
eher an Leser einer bestimmten Altersgruppe zu richten, vermutlich die der Lektoren und Übersetzer selbst: Mittdreißiger, gebildet, mit den USA durchaus
vertraut. Das ist schade und im Englischen nicht so eindeutig. Gut, für den Titel Pulphead* wäre mir auch
nichts eingefallen. Doch das Deutsche klingt immer wieder flapsiger,
umgangssprachlicher, auch vulgärer als das Original, das höchstens durch die Themenwahl eine gewisse Vorauswahl trifft. Auch die Reihenfolge der Essays ist verändert worden.
Während die britische Version der amerikanischen Abfolge folgt (die mir am schlüssigsten erscheint) und am Ende
noch "Hey Mickey!" (den Disney-World-Text) als Epilog mit hineinbringt, nimmt
das Deutsche diesen in die Mitte mit hinein, bringt Axl Rose weiter vorn und
ordnet anderweitig um, auch womöglich in dem Bestreben, ein jüngeres
Publikum zu erreichen. Dabei hat gerade der Axl-Rose-Artikel mir zum Beispiel den
weiteren Einstieg in den Band schwergemacht.
Interessant ist auch die Gestaltung des Buches. Im Amerikanischen in gediegenen Tarnuniformfarben, mit vagen, lichtdurchfluteten Bäumen im Hintergrund und einem hängenden Schildchen mit einer Wolfszeichnung drauf. Die britische Aufgabe ist knallorange, mit rot-weißer, geometrischer Schrift, das Deutsche von der Form her ganz ähnlich, aber in Blau-Rot-Weiß, also poppiger.
Interessant ist auch die Gestaltung des Buches. Im Amerikanischen in gediegenen Tarnuniformfarben, mit vagen, lichtdurchfluteten Bäumen im Hintergrund und einem hängenden Schildchen mit einer Wolfszeichnung drauf. Die britische Aufgabe ist knallorange, mit rot-weißer, geometrischer Schrift, das Deutsche von der Form her ganz ähnlich, aber in Blau-Rot-Weiß, also poppiger.
Der Untertitel Dispatches (Depeschen) from the other side of America bzw. Notes from..., also von der anderen Seite Amerikas, wird im
Deutschen Vom Ende Amerikas, eine
Wertung, die erstens das Original nicht vornimmt, wie übrigens auch der
„heruntergekommene Süden“ im
Klappentext, zweitens wie der Spiegel schreibt, nach typisch „old Europe“ klingt,
drittens nach dem latenten Antiamerikanismus, der in deutschen Medien so präsent ist.
Über Rafinesque heißt es an einer Stelle, er habe sich die
leichte Ungenauigkeit seines ausländischen Tonfalls zunutze gemacht „und fand
wirkungsvolle Bilder, auf die Muttersprachler nicht gekommen wären“. Ähnlich
schafft ja auch die Übersetzung manchmal fast ungewollt schöne, literarische
Effekte. Mir hat zum Beispiel diese Passage gefallen, unter anderem wegen der
schönen Umlauthäufung im Deutschen, die auch fürs Auge ein kleines Fest ist. Es geht um
Audubon und Rafinesque:
Er führte ihn zur Schnepfenjagd
in ein kilometertiefes Schilfdickicht, wo es dunkel und stürmisch wurde, wo sie
von einem Jungbären gestreift wurden, das Schilf in der drückenden Schwüle wie
Gewehrschüsse knallte und wo „sich verwelkte, am Röhricht hängende Blatt- und
Rindenpartikel an unsere Kleidung hefteten“ (S. 395).
Aufmerksam gemacht hat man mich auf das Buch wegen des „NOLA
content“ (New Orleans, Louisiana, -Inhalt), wie es in der Adresszeile hieß. Das stimmt in dem Sinne nicht.
Natürlich taucht der Name New Orleans immer wieder auf, denn Künstler des
Südens, und Musiker erst recht, kommen um die Stadt nicht herum. Es gibt auch einen kurzen, impressionistischen Essay über die Situation kurz nach Katrina,
aber der spielt an der Golfküste in Mississippi, die den Hurrikan direkt mit
der Breitseite abbekommen hat und zum Teil einfach unauffindbar weggeschwemmt
wurde (ich jedenfalls habe einige vertraute Häuser nicht wieder finden können,
nicht einmal die Stelle, an der sie standen). Das war furchtbar und Sullivan
schreibt einfühlsam über den Überlebungswillen, den Erfindergeist und auch die
Demut der Katrinaopfer in einer Notunterkunft. (Mit diesen Worten versuche ich
hier das schöne Wort „resilience“ zu erklären, das in einem Trailer für den
lang erwarteten Film Beasts of the Southern Wild mit „Sturheit“ übersetzt wird.)
Der Essay endet mit der ausführlichen Schilderung eines Zwischenfalls auf der Rückfahrt, beim Anstehen nach Benzin, als man Sullivan beschuldigte, sich vorgedrängelt zu haben. Im Kontrast zu der Solidarität der wirklichen Opfer untereinander, die alles verloren haben, zeigt sich hier, wo die Amerikaner, die vielleicht gar nicht direkt von der Katastrophe betroffen waren, wirklich fuchtig werden: wenn das Benzin knapp ist.
Der Essay endet mit der ausführlichen Schilderung eines Zwischenfalls auf der Rückfahrt, beim Anstehen nach Benzin, als man Sullivan beschuldigte, sich vorgedrängelt zu haben. Im Kontrast zu der Solidarität der wirklichen Opfer untereinander, die alles verloren haben, zeigt sich hier, wo die Amerikaner, die vielleicht gar nicht direkt von der Katastrophe betroffen waren, wirklich fuchtig werden: wenn das Benzin knapp ist.
Kurzum: Sullivan analysiert, beschreibt, schildert schonungslos, auch mit Witz, sein Land und
dessen Realität, ohne es jedoch zu denunzieren. Und deshalb kann man dieses Buch gern
jemandem unterm Baum bescheren.
* Zur Bedeutung: „Pulpheads“ sind fanatische Anhänger von „pulp fiction“, d.h. nicht dem Quentin-Tarantino-Film der 1990er Jahre, sondern des Genres. Eigentlich bedeutet „pulp“ auch Fruchtfleisch oder eben die Pulpe, der Brei bei der Papierherstellung. Diese Art reißerischen Groschenromane wurden auf unfertigem, stark holzhaltigem Papier gedruckt, Raymond Chandlers Romane zum Beispiel. Bei „pulphead“ schwingt für mich auch eine gewisse Selbstironie mit, als ob der Konsum solcher Literatur, oder wie bei Sullivan solcher Kultur, das Gehirn ein wenig aufgeweicht hätte.
* Zur Bedeutung: „Pulpheads“ sind fanatische Anhänger von „pulp fiction“, d.h. nicht dem Quentin-Tarantino-Film der 1990er Jahre, sondern des Genres. Eigentlich bedeutet „pulp“ auch Fruchtfleisch oder eben die Pulpe, der Brei bei der Papierherstellung. Diese Art reißerischen Groschenromane wurden auf unfertigem, stark holzhaltigem Papier gedruckt, Raymond Chandlers Romane zum Beispiel. Bei „pulphead“ schwingt für mich auch eine gewisse Selbstironie mit, als ob der Konsum solcher Literatur, oder wie bei Sullivan solcher Kultur, das Gehirn ein wenig aufgeweicht hätte.
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