Es ist Sommer, Zeit zum Ausmisten. Ich habe mir eine Tüte
mit alten Briefen vorgenommen: Ach, ich sehe sie kurz durch, dachte ich mir,
schmeiße die Hälfte weg, und dann suche ich ein schönes Plätzchen dafür. Es kam
anders.
Es handelt sich vor allem um die Zeit von 1992 bis 1993, als
ich ein Jahr in Ohio war, das ich jetzt fast eine ganze sehr bewegende Woche
lang lesend wieder erlebt habe. Zunächst einmal sind da die Handschriften, die
ich nicht mehr zu lesen gewöhnt bin, die auf sorgfältig ausgewähltem und
manchmal bewusst improvisiertem Untergrund (Brief- oder Schreibpapier,
Notizzettel, verschiedene Kartenkonstellationen, Kalenderblätter usw.) ein
kleines gestaltetes Kunstwerk erschaffen. Jeder einzelne Brief! Der Umschlag
gehört natürlich dazu, und wo er fehlt, ist der Brief irgendwie nackt.
Dann die Erzählungen, meistens ausführlich mit richtigen
Spannungsbögen: Alltagseindrücke, Auswanderungspläne, Liebesgeschichten,
Liebesbeteuerungen und viele Andeutungen zur damals aufkommenden Ausländerfeindlichkeit
in D. und den beruflichen und anderen Umbrüchen und Unsicherheiten im Osten der
Republik. Auch Karten von amerikanischen Freunden mit Reise- und Lageberichten.
Vor allem aus den Briefen von Zuhause steigt viel Wärme auf, nebelt mich
ein, berührt mich, wie es enge Freundschaften und Familienbande tun. Zwischen den Zeilen lese ich, was ich damals geschrieben, gefühlt und
erlebt habe. Dass dieser persönliche kleine Roman für mich entstehen konnte, hat mit dem
Genre/Medium Brief zu tun. Aber auch damit, dass ich weg war und ein Umfeld
zurückließ, das mir solche Briefe schrieb.
Das Ritual, dieser Moment der Einkehr und des ganz bei dem
Anderen Seins, der es war, wenn man sich eine Kerze anzündete, sich hinsetzte
und ein Brief schrieb, das erlebe ich heute nicht mehr, auch wenn ich mal eine
Brief schreibe. Stattdessen ist viel Unruhe in mir, die auch diese Aufgabe
schnell hinter mich bringen möchte. Vielleicht ist uns ein solches Geschenk an Zeit, Gedanken und
Gefühl heutzutage zu groß geworden.
Quälend war es, die Briefe von meinem Damaligen zu lesen,
mit dem ich nie hätte zusammen sein sollen; was ein anderer Ehemaliger mir in seinem abgegriffenen Brief mitteilen wollte, verstand ich dieses Mal sofort. Den
einen Brief von dem Einen habe ich lange hinausgezögert. Zu Recht. Manche
Dinge bringen mich auch nach Jahrzehnten noch zum Schmelzen.
1992 war für mich das Jahr, als ich auf kastenförmigen grauen Apple-Computern
am Antioch College mit E-Mail anfing. Mit Freude. Ich liebe E-Mail. Und doch
werde ich die E-Mails von verflossenen Lieben und Freunden später nicht in
einer Tüte oder einem Karton finden und neugierig durchstöbern. Privates und
Berufliches vermischt und verwischt sich per E-Mail. Fühlen wir auch anders? Zurückdrehen kann und will ich die Zeit nicht, aber im Rückblick sehe ich, was mir heute vielleicht fehlt. Bald werde ich meiner besten (Brief-)Freundin aus jener Zeit, jetzt in Wales, einen ausführlichen, jetzt wieder ersten, Brief schreiben.
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