Vor vielen Jahren hatte ich die afroamerikanische
Zeitschrift Essence abonniert, las alle
schwarzen Autorinnen, derer ich habhaft werden konnte und schrieb gelegentlich
auch über sie und ihre Bücher: Sonia Sanchez, Ntozake Shange, Terry McMillan,
Maya Angelou, Bebe Moore Campbell, Tina McElroy Ansa, Nikki Giovanni, Marita
Golden und viele andere. Damals kam ich zu dem Schluss, dass Toni Morrisons
Weltruf und ihr Nobelpreis etwas damit zu tun haben, dass sie eher in einer europäischen
oder weißen Tradition schreibt und deshalb ein breiteres, internationales
Publikum anspricht. Die meisten dieser Autorinnen, war mein Eindruck, standen in einer ganz anderen, vielleicht eher einer oralen Tradition. Ihre Geschichten waren
Frauengeschichten um Liebe, Familie, Selbstbehauptung, Identität, und ihr Stil oft loser,
erzählender, vielleicht weniger streng.
Mich sprach das an, auch der Womanism der schwarzen Frauen, den Alice Walker dem weißen
Feminismus gegenüber stellte. John Lennon sang 1972 ganz treffend „Woman is the
Nigger* of the World“, und man kann sich vorstellen, wo schwarze Frauen in
dieser Hierarchie stehen, die sich noch dazu seit über zwanzig Jahren im Rap beschimpfen
und objektivieren lassen müssen. Alice Walker, die in Georgia aufwuchs, ist für
The Color Purple bekannt, aber
mir gefiel auch ihr Roman Meridian,
in dem sie über eine junge Aktivistin (sich selbst?) im Universitätsmilieu
schreibt, die als Frau in der männerdominierten Bürgerrechtsbewegung aneckt und
ihren eigenen Platz finden oder sich schaffen will.
Jesmyn Ward ist eine junge Autorin aus Mississippi und damit aus dem tiefen ländlichen Süden, wo es wirklich
nur Schwarz oder Weiß gibt und die allgemeine Armut und Abgelegenheit den
Rassismus noch verschärft. In Salvage the Bones hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, das Leben der armen
ländlichen Schwarzen ihrer Heimat darzustellen. Dafür erhielt sie 2011 den National Book
Award.
Es geht um eine Fünfzehnjährige namens Esch, die nur mit
ihrem Vater, ihren Brüdern und deren Freunden aufwächst, da ihre Mutter bei der
Geburt des jüngsten Bruders Junior gestorben ist. So muss sie selbst die
traditionelle weibliche Rolle in der Familie übernehmen und ihren kleinen
Bruder mit aufziehen. Als Vorbild der Weiblichkeit hat sie nur verschwommene
Erinnerungen an ihre Mutter, den Medea-Mythos, den sie in jenem Sommer liest, und – und das ist im Buch gut nachvollziehbar – China, die Pitbull-Hündin
ihres Bruders Skeetah, die gerade Welpen geboren hat.
Die Armut der Familie ist erschütternd, ebenso wie ihre
ungeschickten, zum Scheitern förmlich verurteilten Versuche, Geld zu verdienen. Der
Alkoholikervater verliert dabei einige Finger, der Bruder Randall die Aussicht
auf ein Basketballstipendium und Skeetah eine Welpe nach der anderen und
schließlich noch seine geliebte Hündin. Esch ist schwanger, vermutlich von
Manny, der mit einer anderen Frau zusammenlebt und wohl genau der
unverbindliche, unreife Typ mit gutem Aussehen und jungenhaftem Charme ist, dem
Frauen, die es nicht besser wissen – und woher sollte Esch es wissen? –, verfallen. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das, im wahrsten Sinne des
Wortes, „in einer Welt der Männer“ aufwächst, an einem Ort, wo alle „hungern,
streiten und kämpfen“. Aber Esch schläft auch mit anderen, die sie fragen, als
wäre das eben ihre natürliche Rolle. Dann ist da einer, der
nicht fragt, und das wundert sie. Es ist Big Henry, auch ein Freund ihrer
Brüder, der zu ihr hält und auch in Zukunft für sie da sein wird.
Ein kostenloses Rezensionsexemplar bringt sozusagen die Verpflichtung mit sich, eine Rezension zu schreiben, und so muss ich das Buch auch lesen, selbst wenn ich es eigentlich zur Seite legen würde. Meistens ist das zum Glück so. Hier war es die ausweglose und elende Lebenssituation des Mädchens und ihrer Familie, die ich, da ich die Region gut kenne, bildhaft vor Augen hatte. Doch am Ende des Buches gibt es einen Hoffnungsschimmer in Form von Big Henry.
Das Buch ist meisterhaft komponiert und geschrieben und hat auch etwas Universelles, Europäisches, und nicht nur wegen Medea. Natürlich hat man
Jesmyn Ward in Interviews nach William Faulkner gefragt, denn thematisch ist es wie bei diesem: Süden, Mississippi, arme Schwarze. Doch ist ihre Perspektive eine ganz
andere, einerseits ethnisch (da sie selbst Schwarze ist und über ihre
Heimat schreibt), aber dann auch die einer jungen Frau, die über eine noch viel
jüngere Frau schreibt, die sie ja mal war. Hier definieren die Männer, was eine Frau ist.
Auch wenn Manny und Skeetah sich darüber unterhalten, ob China, die noch säugt,
überhaupt Hundekämpfe abhalten kann, dann vergleichen sie Esch und China.
Skeetah ist voller Vertrauen in die Stärke der beiden, anders als Manny, der
sich immer wieder abfällig äußert.
Der lautlose Soundtrack, das Hintergrundrauschen des Buches,
ist der sich ankündigende Hurrikan Katrina. The Pit, das Anwesen der Familie,
liegt wie Jesmyn Wards Heimatort Delisle an der Golfküste von Mississippi an
der Bucht Bay St. Louis, unweit des gleichnamigen Ortes. Hier ist Katrina
direkt aufgetroffen und an Land gegangen, anders als in New Orleans, das erst
durch brechende Dämme überflutet wurde. Hier wurden ganze Strände weggeschwemmt und
Häuser von den Fluten weggerissen und dem Erdboden gleichgemacht. Hier sind
vertraute Straßenzüge und Häuser seit dem Hurrikan gar nicht mehr vorhanden,
einfach verschwunden.
Hier also erlebt die Familie den Hurrikan, den sie wie viele
Leute, die ihr Leben lang mit Hurrikanwarnungen leben, unterschätzt hatten. Der
Vater sieht zum ersten Mal, das seine Tochter schwanger ist, und wirft sie vor
Schreck ins Wasser. Skeetah rettet sie, muss aber dafür seine Hündin China
loslassen. Am Ende sind alle in Sicherheit, außer China, auf deren Rückkehr
Skeetah und Esch ungeduldig warten.
In Interviews spricht sich Jesmyn Ward immer wieder gegen
die Behauptung aus, die Wahl von Obama habe gezeigt, dass die USA post-racial
seien, dass also die Rasse keine Rolle mehr
spiele. Sie sagt: "Als ich aufwuchs, war ich ständig mit Rassismus konfrontiert, nicht etwa mit verdecktem oder institutionellem Rassismus, sondern mit offenkundigem, Ich-nenne-dich-Nigger-Rassismus. Meine Erfahrungswelt war in keiner Hinsicht post-rassisch und ist es auch heute nicht."** Hier.
Das eine ist sicher der offene Rassismus, aber der Roman zeigt auch
deutlich die Trennung zwischen Schwarz und Weiß und die strukturelle
Ungerechtigkeit der Armut, die unter Afroamerikanern viel stärker verbreitet
ist als unter Weißen. Dabei sind die dargestellten Figuren keine harmlosen,
lieben, edlen Schwarzen, sondern schon solche, die sich prügeln, Marihuana
rauchen, klauen und eben Hundekämpfe veranstalten. Sie sind aus Fleisch
und Blut, nicht perfekt, als Vater und als Geschwister hilflos, doch voller
Liebe für einander. Ein großes Buch.
Das Original kam bei Bloomsbury heraus; im Herbst erscheint es bei Antje Kunstmann unter dem Titel Vor dem Sturm in der Übersetzung von Ulrike
Becker. Der Titel Salvage the Bones heißt wörtlich Die Knochen retten. Es gibt übrigens schon jetzt jede Menge Lesegruppen zu dem Buch und auch in meinem Exemplar sind begleitende Materialien und Fragen zur Diskussion abgedruckt. Auch als Schullektüre könnte ich es mir gut vorstellen.
* Ich persönlich bin eine Verfechterin von Political
Correctness, die leider durch alberne Übertreibungen in Verruf geraten ist. Schon
aus Höflichkeit möchte ich Menschen so bezeichnen, wie sie gern bezeichnet
werden möchten. Deshalb gehört das N-Wort nicht zu meinem Wortschatz.
** It really bothers me when people say we live in a postracial America. Growing up, I encountered racism all the time, and not covert or institutional racism, but in-your-face, I’m-gonna-call-you-a-nigger racism. There was nothing postracial about my experience, and there still isn’t.